Politik trifft auf Wirklichkeit

Welchen Voraussetzungen müssen für unsere zukünftige Energieversorgung geschaffen werden?

Muss der kostenintensive Stromnetzausbau wie geplant vollzogen werden oder  sollte man eher verstärkt  Anreize setzen, die ein lokal orientiertes, selbstbestimmtes Energiemanagement der Haushalte und Unternehmen fördern?

Im Folgenden werden dazu die bisherigen Planungen der Politik den möglichen Entwicklungen in der Praxis stichwortartig gegenübergestellt?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung an info@klimaschutz-im-bundestag.de.

Soll es bei den folgenden Planungen der Ampelkoalition bleiben?
  • Strombedarf: Bis 2030 wird gegenüber 2023 (454 TWh) mit einem Mehrstrombedarf durch Wärmepumpen, Elektroautos und der Industrie von 50% (200-250 TWh) gerechnet. Für einen klimapositiven Effekt, muss dieser Mehrstrombedarf mindestens aus emissionsarmen besser aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden.
  • Strommarkt: Deutschlands Politik hält bisher an einer einheitlichen nationalen Strompreiszone fest.
  • Stromnetzausbau: Es soll bei den geplanten Investitionen der Übertragungsnetzbetreiber in Höhe von rund 280 Mrd. bis 2037 (ca. 21 Mrd. pro Jahr) und einem entsprechenden Ausbau der Verteilnetze mit Investitionen in ähnlicher Größenordnung bleiben.
  • Netzentgelte: Die bereits hohen Netzentgelte sollen für Unternehmen durch den Steuerhaushalt gesenkt werden.
  • Kraftwerksstrategie – Abdeckung der Residuallast: Es wird festgehalten am geplanten Bau von großen Gaskraftwerken zur Abdeckung der Residuallast durch ein Kraftwerkssicherheitsgesetz und ab 2028 einem (kombinierten?) Kapazitätsmarkt mit zusätzlichen Kosten von etwa 1 Mrd. €/a und finanziert über eine neue Umlage.
  • Erneuerbares Energiegesetz (EEG): Wie bisher erfolgt die Refinanzierung des Ausbaus der erneuerbaren Energien durch Erlöse aus dem bestehenden Grenzkostenmarkt. Niedrige Strombörsenpreise führen zur Belastung des EEG-Kontos und müssen z.B. durch Einnahmen aus der CO2-Bepreisung gegenfinanziert werden.
  • Wasserstoff: Das Wasserstoffkernnetz wird bis 2037 parallel zum Erdgasnetz mit angenommenen Kosten von 20 Mrd. € gebaut und soll vor allem in der Industrie Erdgas ersetzen.
  • Heizungssanierung: Viele auch nicht gut gedämmte Gebäude (insbesondere Ein-Dreifamilienhäuser) sollen zunehmend mit monovalent betriebenen Wärmepumpen beheizt und mit Warmwasser versorgt werden oder an die Fernwärme angeschlossen werden.
  • Förderprogramme erfolgen weiterhin überwiegend mit der Gießkanne und stehen auch Menschen zur Verfügung, die sich z.B. eine Wärmepumpe auch ohne Förderung leisten könnten.
Oder sollte die Politik auf die sich abzeichnende Praxis und Anforderungen mit entsprechenden Anpassungen reagieren?
  • Die auf Eigenstromerzeugung optimierten Anlagen (kleine Batteriespeicher, PV-Anlagen etc.) boomen. Die Leistung und Kapazität von kleinen Stromspeichern hat sich seit 2020 mehr als verzehnfacht. Und die Preise für Speicher sinken absehbar weiter.
  • Flexible Verbraucher, Erzeuger und Speicher, wie Wärmepumpen, Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Batterien, übernehmen den Ausgleich von Tagesschwankungen der Erzeugung erneuerbarer Energien.
  • Dezentrale – im Vergleich zu den heutigen Residuallastkraftwerken kleinere – Speicherkraftwerke übernehmen die lokale Residuallasterzeugung in Phasen geringer erneuerbarer Energieerzeugung über mehrere Tage (z.B. Kalte Dunkelflaute). Ihr Betrieb erfolgt mit zunehmenden Anteilen von Biogas, Biomethan, Wasserstoff (Elektrolyse) und ggf. Methanisierung über das bestehende Erdgasnetz.
  • Lokale Strompreise, z.B. heute schon orientiert am Grünstromindex, und zeitnah einzuführende lokale zeitvariable Netzentgelte können für Haushalte und Unternehmen Anreize schaffen, ein systemdienliches und wirtschaftliches Energiemanagement vor Ort zu betreiben. Damit helfen sie teuren, von der Allgemeinheit zu tragenden Stromnetz- und Kapazitätsausbau zu minimieren.
  • Die Sanierung der Gebäudehülle erfolgt vorwiegend im Rahmen üblicher Sanierungszyklen bzw. bei „Sowieso-Maßnahmen“, wie z.B. dem Streichen der Fassade oder einem undichten Dach.
  • Heizungssanierung: Schlecht gedämmte Ein bis Dreifamilienhäuser werden zügig mit Wärmepumpen-Hybridheizungen im bivalent-teilparallelen Betrieb saniert, um einerseits schnell Treibhausgasemissionen einzusparen aber auch flexibel genug zu sein, um auf lokale Strompreissignale reagieren zu können. Größere Gebäude, Gebäudenetze und Wärmenetze werden wirtschaftlich und emissionsarm über PV, KWK (zunehmend weniger und ausschließlich zur Abdeckung der Residiuallast mit grünen Gasen betrieben) und Wärmepumpen mit Energie versorgt.
  • Eine Förderung erfolgt zukünftig konsequent nach dem individuellen Bedarf (orientiert z.B. an den Persona des Sozialklimarates) und nach der real erreichten Einsparung von Treibhausgasemissionen.

Gut zu wissen…

Im Folgenden einige zusammengestellte Zahlen und Argumente zu den oben angesprochenen Themen:

Die Hinweise nehmen zu, dass die Anschlüsse von Solarstromanlagen, Wärmepumpen oder Ladestationen mancherorts auf Engpässe im Stromnetz treffen und von Verteilnetzbetreibern nur noch schleppend genehmigt werden.

Die Bundesnetzagentur hat am 28. August 2024 eine Festlegung zur Verteilung der hohen Kosten in Netzen mit geringen Verbrauchswerten, aber hoher Einspeisung von erneuerbaren Energie und Umlage der Kosten über die bisherige § 19 StromNEV-Umlage getroffen (BNA 2024). Diese Umlage erhöht sich um 0,917 Cent/kWh von 0,643 Cent/kWh (2024) auf 1,56 ct/kWh in 2025. Die Netzentgelte liegen damit 2025 im Durchschnitt je nach Netzbetreiber zwischen 8,2 und 13 Cent/kWh. Der Anteil für das Übertragungsnetz (Höchst- und Umspannungsnetz) steigt durchschnittlich 2025 auf 6,65 Cent gegenüber 6,43 Cent im Jahr 2024.

Invest Uebertragungsnetz

Bisherige Investitionen und Aufwendungen für die Stromnetzinfrastruktur der Übertragungsnetzbetreiber (in Mio. €) Quelle: BNA Monitoringbericht.

Laut Bundestags – Drucksache 20/12078 belaufen sich die geplanten Investitionen der Übertragungsnetzbetreiber nach dem Netzentwicklungsplan (NEP) 2037/2045 (2023) bis 2037 auf bis zu 284 Mrd. € (vgl. Tabelle).

Geplante Investitionen der Übertragungsnetzbetreiber bis 2037 nach dem Netzentwicklungsplan (NEP) 2037/2045 (2023)

Studien befürchten eine Verdopplung der Netzentgelte bis 2045 (Ruhr GmbH 2024). Ihre Kosten werden verallgemeinert und bislang nicht verursachergerecht umgelegt. Wenn kleine und mittlere Erzeuger und Verbraucher beispielsweise nur eine Netzebene in Anspruch nehmen, um sich den Strom zu liefern, fallen Netzentgelte für alle Netzebenen an. Großverbraucher erhalten bislang Rabatte (§ 19 Absatz 2 StromNEV) statt netz- und systemdienliche Leistungspreise, die auch die Treibhausgase in den Blick nehmen.


Sondernetzentgelte für Industriekunden

Die Beschlusskammer 4 der Bundesnetzagentur hat mit Veröffentlichung eines Eckpunktepapiers am 24.07.2024 gemäß §§ 21 Abs. 3 Satz 4 Nr. 3 lit. f), S. 5; 29 Abs. 1 EnWG ein Verfahren für eine von § 19 Abs. 2 StromNEV abweichende Festlegung zur Setzung systemdienlicher Anreize durch ein Sondernetzentgelt für Industriekunden eingeleitet. Im veröffentlichten Text heißt es wörtlich: „Die Reform der Netzentgeltrabatte für Industrie- und Gewerbekunden ist aus Sicht der Beschlusskammer unausweichlich. Aktuell gelten für diese Kundengruppen gemäß § 19 Abs. 2 der Stromnetzentgeltverordnung die sog. atypsiche Netznutzung und die Bandlastprivilegierung. Diese Regelungen entsprechen nicht mehr den Anforderungen eines Stromsystems, das von hohen Anteilen erneuerbarer Stromerzeugung geprägt ist.“ (Bundesnetzagentur 2024, zuletzt abgerufen am 30.07.2024).

Zahlreiche Szenarien gehen von einem bis 2030 stark ansteigenden Stromverbrauch in der Größenordnung von 750 TWh in Deutschland durch Zunahme durch Wärmepumpen und Stromverbrauch (Gassubstitution) in der Industrie und Zunahme der Elektromobilität aus (vgl. z.B. ISE 2024). Real beobachten wir einen abnehmenden Stromverbrauch bei Haushalten, Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und Industrie seit 2017 vgl. Abbildung).

Strombedarf

Endenergieverbrauch Strom in Deutschland nach Sektoren (AGEB-Auswertungstabellen). Aufgrund der großen Menge an dezentralen Einzelanlagen liegt keine gesetzliche Vollerfassung vor. Die eigenerzeugten und selbst verbrauchten Strommengen sind als Schätzung enthalten. Der Selbstverbrauch aus Photovoltaikanlagen wird für 2023 auf etwa 7,5 bis 8,0 TWh abgeschätzt (Mitteilung Thomas Nieder, 4.11.24).

In den ersten neun Monaten 2024 lag der Stromverbrauch nach Angaben des BDEW um 7 TWh (2,1%) höher als 2023.

Photovoltaik und Kleinspeicher: Der Zubau auf Eigenstromerzeugung optimierter Anlagen (kleine Batteriespeicher, PV-Anlagen etc.) boomt. Die Leistung und Kapazität von kleinen Stromspeichern hat sich seit 2020 mehr als verzehnfacht.

Entwicklung der Speicherleistung in Deutschland. Quelle: Battery Charts RWTH Aachen auf Grundlage Meldungen MaStR. Figgener et al., The development of battery storage systems in Germany: A market review (status 2023), 2023

In den aktuellen Statistiken zum Stromverbrauch wird der Eigenstromanteil bislang nur grob abgeschätzt. Die Zahl der Kilowattstunden, auf die Netzentgelte umgelegt werden, sinkt. Eine sich selbst verstärkende Entwicklung hat bereits eingesetzt. Speicher verkaufen sich u.a. aufgrund des Bedürfnisses, unabhängiger von hohen Strompreisen werden zu wollen.

Die Folge: Die Kosten der Stromnetzinfrastruktur werden auf immer weniger Schultern (kWh) umgelegt.

Strom aus Photovoltaik: 2025 wird in Deutschland die Marke von 4 Millionen PV-Anlagen mit einer elektrischen Spitzenleistung von mehr als 90 GWpeak erreicht. Die theoretisch mögliche Einspeiseleistung liegt damit mehr als doppelt so hoch wie die Minimallast z.B. an An Sonn- und Feiertagen in Deutschland von 30 bis 40 GW. Die Hälfte der Anlagen haben eine Leistung unter 100 KWel., die meisten davon speisen ungeregelt ein. So besteht bereits heute an sonnigen Sonn- und Feiertagen die Gefahr von Netzüberlastungen.

Der Youtuber Andreas Schmitz, bekannt als akkudoktor, zeigt in seinem Video vom 29.11.2024 anhand von der Einspeisekurve von 80 Anlagen, dass viele Heimspeicher die o.g. Problematik noch verschärfen.

Die Ampelkoalition wollte im Rahmen einer Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes gegensteuern, indem die Netzbetreiber auch Zugang zu kleineren Anlagen bekommen und diese abregeln können, die Pflicht zur Direktvermarktung auf Anlagen ab 25 Kilowatt (kW) Leistung abzusenken und dass die Betreiber in Zeiten negativer Preise keine Vergütung mehr bekommen. Ob solche Regelungen noch vor der Bundestagswahl umgesetzt werden und wann sie greifen bleibt unklar.

Großspeicher: Eine ähnliche Entwicklung wie bei den Kleinspeichern zeichnet sich derzeit auch bei den Großspeichern ab. Aktuell sind in Deutschland nur Batteriegroßspeicher mit einer Leistung von etwa 1,4 GW installiert. Bei den Übertragungsnetzbetreibern liegen inzwischen Anschlussbegehren für Batteriespeicher mit einer Leistung von insgesamt 161 Gigawatt vor (Johannsen 2024). Angetrieben werden die Nachfragen durch die täglichen Schwankungen des Strompreises. Die mittlere tägliche Standardabweichung lag 2023 bei rund 4 Cent/kWh, der maximale tägliche Spread beim Day-Ahead-Preis bei knapp 10 Cent/kWh und beim viertelstündlichen kontinuierlichen Intraday-Handel bei mehr als 20 Cent/kWh (FfE 13.3.2024).

Was sich in Deutschland abzeichnet, scheint in anderen Ländern bereits eine enorme Dynamik zu entwickeln. So hat die USA inzwischen Groß-Batteriespeicher mit einer Leistung von mehr als 22 GW am Netz. Davon wurden allein 6,7 GW in den ersten 3 Quartalen 2024 in Betrieb genommen (EIA). Weit überwiegend handelt es sich dabei um Lithium-Ionen-Batterien.

Aber auch Natrium-Ionen-Batterien sind in naher Zukunft am Markt zu erwarten, sie sind noch einmal um etwa 30% günstiger. In Guangxi, im Südwesten Chinas, wurde eine 10-MWh-Natrium-Ionen-Batteriespeicher in Betrieb genommen als erste Phase hin zu einem 100-MWh-Projekt (Zhang 2024). Die seit mehr als 10 Jahren die Politik bestimmende These, dass Netze billiger als Speicher sind, muss aus Sicht des KiB e.V. überdacht werden (These 4,5 Agora 2013).

Autobatterien: Ein bereits existierendes Potential schlummert auch noch in den bereits verkauften Autobatterien mit einer Kapazität von bis zu 100 GWh (vgl. Mobility Charts).

Laut einer Umfrage bei Netzbetreibern nutzen in der Mittelspannung 36% und im Niederspannungsnetz 23% der Unternehmen hochaufgelöste Nessdaten zur Berechnung der Auslastung ihrer Stromnetze (Envelio & energate 2024).

Von transparenten Daten oder entsprechenden Anreizen wie zeitvariablen Netzentgelten mit denen Haushalte und Unternehmen ihre Anlagen, wie Photovoltaik, Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, Wärmepumpen und Speicher netzdienlich betreiben könnten, liegen also noch große Herausforderungen.

Niedrige und negative Strompreise entstehen in einem Grenzkostenmarkt am Kurzfristmarkt Spotmarkt (day ahead, intraday), wenn die Dampfkessel fossiler Kraftwerke keine schnellen Temperaturgradienten vertragen, und daher „angeheizt“ bleiben müssen, auch wenn der Strombedarf gleichzeitig durch Erneuerbare gedeckt werden könnte. Statt Flexibilität anzuregen, führt der Grenzkostenmarkt deshalb bei hohen Anteilen an erneuerbaren Energien zu geringen und negativen Strompreisen.

Je höher die erneuerbaren Stromanteile steigen, um so weniger werden sich die Investitionskosten in einem Grenzkostenmarkt refinanzieren können. Im Gegensatz zu vielen konventionellen Kraftwerken kann man Solar- und Windkraftwerke nahezu ohne Aufwand und Kosten schadlos herunterfahren (bei PV „aus dem Arbeitspunkt regeln“, bei Wind „aus dem Wind drehen“ bzw. Blattwinkel verstellen). Daher müssen andere Wege als ein bundeseinheitlicher Grenzkostenmarkt mit negativen Strompreisen gefunden werden, um den Ausbau und die Finanzierung der Erneuerbaren langfristig abzusichern.

Der Spotmarktpreis der einheitlichen Strompreiszone setzt in vielen Fällen aus Sicht des Klimaschutzes ein falsches Signal.

Fallbeispiel 1: Wenn Betreiber von hochflexiblen KWK-Anlagen in Süddeutschland ihre Anlagen aufgrund niedriger oder gar negativer Erlöse am Spotmarkt (z.B. bei hoher Winderzeugung im Norden oder Osten Deutschlands) für den eingespeisten Strom abregeln, müssen dort stattdessen Wärme und Strom getrennt und mit höheren Emissionen erzeugt werden (z.B. Wärme über Gas- und Strom über Kohlekraftwerke).

Fallbeispiel 2: Bei niedrigen oder negativen Strombörsenpreisen können Nutzende eines dynamischen Strompreises innerhalb von Sekunden ihren Batteriespeicher auf Laden setzen. Tun das in einer Region, in der das Netz bereits ausgelastet ist, gleichzeitig Viele, dann kann es zu Netzüberlastungen und im Extremfall zu Netzausfällen kommen. Häufiger aber noch kann es dazu kommen, dass in einer Region, in der gerade weder Wind weht noch die Sonne scheint, aufgrund der Batterieladungen ein fossiles Kraftwerk hochgefahren werden muss, mit entsprechend höheren Treibhausgasemissionen. In diesem Fall wird das Netz weder entlastet noch überschüssiger erneuerbarer Strom gespeichert, um zu anderen Tageszeiten fossilen Strom zu ersetzen.

Gemäß § 41 EnWG sind Stromanbieter zur Bereitstellung dynamischer Stromtarife verpflichtet.
§ 3 Nr. 31b EnWG legt dabei eine Orientierung an Börsenpreisen (EPEX Spot) fest, die keine lokalen Preissignale unterstützen.

Fixe Strompreisbestandteile Freiburg

Der GrünstromIndex liefert über das Internet eine frei verfügbare Vorhersage (forecast) der lokalen Emissionen des stündlichen Strommixes abrufbar nach Postleitzahlen.

Auf der gleichnamigen Internetplattform findet sich der absolute Wert sowie eine dreistufige, stündlich aufgelöste, farbige Darstellung. Grau bedeutet „wenig regenerativer Strom verfügbar“ und damit die Empfehlung, Geräte mit großem Stromverbrauch nicht zu nutzen. Gelb steht für einen durchschnittlichen Anteil an regenerativ erzeugtem Strom und rät dazu, mit Strom sparsam umzugehen, und Grün zeigt an, dass ein hoher Anteil des bezogenen Stroms aus regenerativen Quellen stammt.

Stromkunden können so ihre variablen Stromverbraucher, wie Wärmepumpen, Waschmaschinen etc., möglichst emissionsarm betreiben und Erzeugungsanlagen (BHKW) netzdienlich aktivieren (vgl. z.B. https://gruenstromindex.de/waermepumpe.html).

Energieversorger können den Grünstromindex als Basis für eigene zeitvariable dynamische Stromtarife nutzen, die den Anteil des erneuerbar erzeugten Strombezuges in der Region des jeweiligen Kunden anzeigen. Der Index kann mit einer Fair Use Policy postleitzahlenscharf per API abgerufen werden.

Die über eine API-Schnittstelle für Forschungszwecke verfügbaren Daten (https://corrently.io/books/grunstromindex) schaffen so Transparenz und eine Grundlage für dezentral organisierte Flexibilität (Ausgleich von erneuerbarer Erzeugung und Verbrauch) und Anreize zur Verbrauchssteuerung, Lastverschiebung, Suffizienz etc.

Entwickelt wurde der GrünstromIndex von dem Unternehmen STROMDAO, das über „Corrently“ selbst einen entsprechenden Tarif als Energieversorger anbietet und stetig weiterentwickelt.

Der Index verarbeitet über Algorithmen folgende Daten:

  • Daten zur aktuellen und erwarteten Stromerzeugung von Übertragungsnetzbetreibern, Energieerzeugern und Aggregatoren.
  • Wetterinformationen von meteorologischen Diensten und Wettervorhersagemodellen, wie Windgeschwindigkeit, Sonneneinstrahlung und Niederschlagsmenge, werden verwendet, um die erwartete Leistung der erneuerbaren Energiequellen vorherzusagen.
  • Historische Stromerzeugungs- und Verbrauchsdaten, um Muster und Trends via Machine Learning mit Hilfe eines Graphenmodells zu analysieren.
  • Weitere Betriebsdaten von Kraftwerken, wie z.B. geplante Wartungsarbeiten, geplante Einspeisungen erneuerbarer Energien, zur Verbesserung der Vorhersagegenauigkeit.

Aufgabe eines Strommarkts der Zukunft muss es sein, die Informationsverarbeitung privater Plattformen wie dem Grünstromindex auf eine rechtliche Grundlage zu stellen, die stetig für eine wissenschaftlich abgesicherte Datenbasis sorgt. Lokale Informationen und Preissignale sollten so weiterentwickelt werden, dass auch z.B. Kombinationen vor Ort aus Solarstromanlagen, KWK-Anlagen, Wärmepumpen und Speichern treibhausgasarm und netz- und systemdienlich betrieben werden und die Kosten für die Netzinfrastruktur bezahlbar bleibt.

Bereits heute ist es auch für viele Mietende technisch möglich, ihre Energieversorgung teilweise selbst in die Hand zu nehmen. Mit der gesetzlichen Privilegierung der Steckersolargeräte kann Mietenden z.B. ein Balkonkraftwerk in der Regel nicht mehr verwehrt werden.

Kleinspeicher sind technisch inzwischen nicht nur in der Lage, den eigenen Solarstrom zwischenzuspeichern und damit den Eigenstromanteil zu erhöhen, sondern auch dann Strom aus dem Netz zu beziehen, wenn er gerade günstig ist (dynamische Strompreise müssen ab dem 1.1.2025 angeboten werden).

Sterckersolar

Die Frage, wieviel Haushalte und Unternehmen zukünftig ihre Energieversorgung mit Photovoltaik, Batteriespeicher, Wärmepumpe zumindest teilweise selbst in die Hand nehmen, wird darüber entscheiden, wieviel Stromnetzausbau notwendig ist und wie teuer die Energiewende für alle wird. Im Internet wird dafür inzwischen mit Slogans wie „Balkonkraftwerk-Speicher zum Black Friday: 50-Prozent-Aktion bringt ihn in jeden Haushalt“ geworben.

Wenn sich der sich abzeichnende Trend fortsetzt, wird der Gesetzgeber mit lokalen Preissignalen reagieren, um die vielen Speicher auch netz- und systemdienlichen einzusetzen. Dann werden aber auch Netzausbau und Kraftwerksstrategie überdacht werden müssen.

Damit die Energiepreise oder notwendige Sanierungen für viele Menschen nicht zur unzumutbaren finanziellen Belastung werden, sind bedarfsorientierte Maßnahmen dringend notwendig, um Armut zu reduzieren und einkommensschwachen Haushalten eine Teilhabe an der Transformation zu ermöglichen. Wie sich aus den statistisch ermittelten Persona des Sozialklimarates ergibt, ist der Förderbedarf je nach Person sehr unterschiedlich. So bräuchte Magda Meyer (die hier für etwa 15% der Bevölkerung steht und im Eigentum lebt) z.B. entweder ein Angebot für eine bezahlbare Wohnung in der Nachbarschaft und ggf. Umzugshilfe oder ein z.B. bis zum Lebensende tilgungsfreies zinsgünstiges Darlehen und entsprechende Unterstützung bei der Auswahl und der Betreuung der Handwerker in der Sanierungsphase.

Personamagdameyer

https://www.sozial-klimarat.de/post/auf-dem-weg-zu-einem-klimapolitischen-lagebild, abgerufen 14.11.2024

Im Fall der mietenden Alia Yücel mit geringem Einkommen (die für 14% der Bevölkerung steht) sind dagegen eher Anreize gefragt, die den Wohnungseigentümer zu einer bezahlbaren Sanierung motivieren. Dazu gehört auch ein gesetzlicher Rahmen, der verhindert, dass hohe Fernwärmepreise allein auf die Mietenden abgewälzt werden können.

Personaaliayuecel

https://www.sozial-klimarat.de/post/auf-dem-weg-zu-einem-klimapolitischen-lagebild, abgerufen 14.11.2024

Viele Fernwärmepreise liegen inzwischen deutlich über den Energiekosten für eine Hybridlösung (z.B. Wärmepumpe + Gaskessel) (vgl. https://waermepreise.info/preisuebersicht/)

Bislang war beim Heizungstausch der Austausch eines alten Heizkessels durch einen neuen der Regelfall. Mit dem Gebäudeenergiegesetz will die Politik einen Paradigmenwechsel einläuten und mit dem Einsatz der Wärmepumpe und dem Einsatz von „grünem Strom“ statt fossiler Brennstoffe schnell Treibhausgasemissionen einsparen.

Mit der Wärmepumpe stellen sich deutlich mehr Fragen als beim Heizkessel.

Wp Strom Im Blick

In der Auslegung und dem Betrieb einer Wärmepumpe liegen aber auch eine Menge Chancen, bei beschränkten Ressourcen (Arbeitskraft und Budget) Treibhausgase und Geld gleichermaßen einzusparen, sofern sie Flexibilität durch Kombination mit anderen Wärmeerzeugern erlaubt.

In der Kombination mit einem Gaskessel beispielsweise kann auch in kleineren Gebäuden die Heizungsregelung auf Strompreissignale regarieren und immer dann die Wärme erzeugen und ggf. in einem Pufferspeicher zwischenspeichern, wenn der Strom entweder von der Solarstromanlage vom eigenen Dach oder gerade günstig und treibhausgasarm aus dem Netz bezogen werden kann.

Daraus ergibt sich z.B. bei beschränktem Budget eine flexiblere Sanierungsstrategie gegenüber der bisher von vielen favorisierten Lösung, zunächst zu dämmen und erst dann die Heizung zu tauschen.

Sanierungsstrategie

Die Bundesregierung hat das Ziel bis zum Jahr 2030 etwa 80% des Bruttostromverbrauchs im Jahresdurchschnitt durch Erneuerbare Energien zu decken. Bei der Bilanzierung bleibt unberücksichtigt, dass auf Grund der Schwankungen (der sog. Volatilität) von Wind- und Sonnenstrom ein großer Teil des Stroms keine Verwendung findet, weil er zu falschen Zeiten produziert wird. Da im Stromnetz zu jedem Zeitpunkt ein Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch herrschen muss, wird dieser Strom heute noch weitgehend abgeregelt. Über Abregelungen informiert die Netzampel. Man bezeichnet dies auch als negative Residuallast.

Die positive Residuallast (Strom) ist definiert als die verbleibende Stromlast nach Abzug der aktuellen Leistung der nicht regelbaren erneuerbaren Energien (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse) von der aktuellen Gesamtlast (Stromverbrauch).

Erneuerbare Strommengen, die abgeregelt werden müssen, obwohl sie zwar an anderen Orten fossile Erzeugung ersetzen könnten, aber nicht über das Stromnetz zum Ort des Verbrauchs transportiert werden können bezeichnet man als Redispatch (vgl. netztransparenz.de)

Zu anderen Zeiten reicht das Angebot an Erneuerbarer Energie nicht zur Deckung des Strombedarfs aus und entsprechend muss das Defizit z.B. durch konventionelle Kraftwerke gedeckt werden.

Die Residualleistung ist über das Jahr sehr unterschiedlich verteilt, abhängig vom Dargebot von den Erneuerbaren, vor allem Sonne und Windstrom.

Eine vorliegende statistisch mathematische Analyse der Residuallast hat untersucht, wieviel Erneuerbaren Strom und welche Speichererfordernisse erforderlich sind, um die Residuallast zu decken (Seelmann-Eggebert 2024). Sie unterteilt die Residuallast dazu in zwei Anteile:

  • den „Interdies“-Anteil, der die Bilanz aus Tagesertrag und Tagesverbrauch widerspiegelt und die saisonale Abhängigkeit einschließt, sowie
  • den „Intradiem“-Anteil, der alle Tageszeiten mit Unterdeckung aufsummiert.

Unter der Vereinfachung, dass übers Jahr genauso viel Strom aus Erneuerbaren erzeugt wie verbraucht wird und sich die Tagesverbräuche relativ gleichmäßig über das Jahr verteilen, ergibt sich folgendes Bild:

  • Wann immer der Tagesertrag einer Solaranlage den Tagesverbrauch übersteigt, kann der Intradiem-Anteil der Residuallast z.B. vollständig durch Batteriespeicher ausgeglichen werden. Pro kWp installierte Leistung Solar ist dabei eine Kurzzeitspeicherkapazität von etwa 1,5 kWh notwendig.
  • Werden bei einer reinen Versorgung mit Solarstrom keinerlei Speicher oder Maßnahmen zur Lastverschiebung eingesetzt, so beträgt die Residual­last wegen dem großen Intradiem-Anteil bei bilanziell ausgeglichener Jahres­versorgung mehr als 60%. Kurzzeitspeicher sind in der Lage unter anderem die Nachtlücke auszugleichen und damit den nutzbaren Solarstrom zu verdoppeln!
  • Da der Wind auch nachts weht, zeigt Windstrom im Gegensatz zum Solarstrom durchschnittlich keine Korrelation mit der Tages­zeit und lediglich schwache saisonale Tendenzen. Grundsätzlich entstehen Unterdeckungssituationen Intradiem in deutlich geringerem Umfang. Bei einer reinen Windkraftversorgung, bei der in der Jahresbilanz genauso viel Windstrom erzeugt, wie durch Lasten verbraucht wird, beträgt die Intradiem-Residuallast durchschnittlich etwa 7% und kann schon durch Batterien mit 10% bis 20% Kapazität einer durchschnittlichen Tageslast durchweg überbrückt werden. Über­raschender­weise ist die Interdies-Residuallast von Windkraft ähnlich hoch wie bei der Photo­voltaik. Auch hier können mehr als 30% des Stroms nicht direkt genutzt werden. 

Ein selbstversorgendes System muss hinreichend Überschuss für die Produktion von synthetischem Brennstoff für Residuallastkraftwerke produzieren. Abhängig vom Wirkungsgrad für Rückverstromung gibt es einen Minimalwert für den notwendige Überschuss, um über einen Langzeitspeicher (wie z.B. eine Wasserstofferzeugung mit Rückverstromung) die Interdies-Residuallast zu decken. Dieser Minimalwert beträgt ein Vielfaches der Interdies-Residuallast.

Rechenbeispiel: Wieviel Erneuerbaren Strom braucht es, um die Residuallast vollständig über Kurz- und Langzeitspeicher zu decken? 

Unter der vereinfachten Annahme, dass sich die Tagesverbräuche relativ gleichmäßig über das Jahr verteilen, braucht es zur Abdeckung eines Strombedarf von z.B. 750 TWh (100%) eine Ertragsmenge von 1014 TWh (135%) aus Windkraft und Sonnenstrom. Dabei können statistisch etwa 662 TWh des Stroms direkt oder über einen Kurzzeitspeicher (Batterie etc.) genutzt werden, der die Tagesschwankungen ausgleicht. Etwa 351 TWh (47%) des Stroms fallen statistisch zu Zeiten an, in denen er nicht genutzt werden kann (Seelmann-Eggebert 2024). Dieser Strom kann aber z.B. über Wasserstoff oder Biomethanerzeugung und Rückverstromung um die Interdies-Residuallast dezentral zu erzeugen.

Seit dem 1. Januar 2024 dürfen Netzbetreiber den Strombezug der steuerbaren Verbrauchseinrichtung, wie nicht private Ladepunkte für Elektro-Autos (Wallboxen), Wärmepumpen, Kälte-/Klimaanlagen und Stromspeicher mit Anschluss am Niederspannungsnetz temporär auf bis zu 4,2 kW (Mindestleistung) reduzieren. Damit soll eine Überlastung des lokalen Stromnetzes abgewendet werden. Der Haushaltsstrom ist davon nicht betroffen. Dazu müssen zukünftig alle regelbaren Verbrauchseinrichtungen mit einem intelligenten Zähler incl. Smart Meter Gateway ausgerüstet sein. Als „Gegenleistung“ erhalten die Betreibenden eine Netzentgeltreduzierung für den Strombezug dieser variablen Verbrauchsanlagen (vgl. Bundesnetzagentur). Bei der Netzentgeltreduzierung kann der Betreibende aus 3 Optionen (Modulen) eine auswählen. Option bietet eine jährliche pauschale Reduzierung (etwa zwischen 110-190 €), Option 2 gewährt ein prozentuale Reduzierung der Netzentgelte (auf 40% des Netzentgelt Arbeitspreises) und Option schließlich ein zeitvariables Entgelt, das seitens des Netzbetreibers auch gekoppelt mit Option 1 angeboten werden kann. Das Beispiel von zwei Netzbetreibern zeigt wie unterschiedlich Option 3 ausgestaltet werden kann. Der Netzbetreiber bnnetze macht den Strom in der Nacht z.B. für Wärmepumpen extrem günstig und Netze BW um die Mittagszeit.

Variable Netzentgelte des Verteilnetzbetreiber Netze BW

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Variable Netzentgelte des Verteilnetzbetreiber bnnetze

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Hey BIP, stell dich da drüben zu den anderen hin! 

Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist das Maß für die gesamte wirtschaftliche Produktion eines Landes und der Indikator, der seit Jahrzehnten unser Bild von Wohlstand und Fortschritt prägt. Doch ist dieser Maßstab, der ursprünglich zur Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes entwickelt wurde, tatsächlich geeignet, um den Zustand und die Qualität unserer Gesellschaft zu messen? Die Fixierung auf das BIP als Hauptindikator für Wohlstand und Erfolg ist aus vielerlei Gründen problematisch – und es wird Zeit, dies kritisch zu hinterfragen. 

Beginnen wir mit einem simplen, aber aufschlussreichen Beispiel: Zwei Öltanker, einer erreicht sein Ziel ohne Zwischenfälle, der andere hat einen Unfall, erleidet ein Leck und verliert daraufhin einen Teil seiner Ladung auf offener See. Die Ökosysteme leiden, die Crew ist traumatisiert – und das BIP „profitiert“ dennoch von der Katastrophe. Kosten für Reinigung, Bergung und die Förderung von Ersatzöl werden in die Wirtschaftsleistung einberechnet und lassen das BIP wachsen, obwohl gesellschaftlich kein Mehrwert entsteht.  Im Gegenteil: Die Folgen sind langfristig schädlich für Umwelt und Menschen, doch in der Logik des BIPs tragen sie positiv zur „Leistung“ des Landes bei. 

Gleichzeitig gibt es zentrale Tätigkeiten, die im BIP nicht abgebildet werden, obwohl sie essenziell für unser Wohlbefinden sind. Dazu zählen vor allem unbezahlte Care-Arbeiten wie Kinderbetreuung, Haushaltsführung oder das Unterstützen von Angehörigen. Diese Leistungen bleiben in unserer Wirtschaftsstatistik unsichtbar, obwohl sie einen enormen gesellschaftlichen Wert haben. Die Folgen sind weitreichend, denn das, was nicht gemessen wird, findet in der politischen Entscheidungsfindung oft wenig Beachtung. 

Dass das BIP nur einen Teil des gesellschaftlichen Wohlstands erfasst, war übrigens schon dem „Vater“ des BIPs, Simon Kuznets, bewusst. Bereits in den 1930er Jahren warnte er davor, das BIP als Maßstab für das Wohlbefinden einer Gesellschaft zu verwenden (Felix Dorn, 2022). Doch seine Warnungen wurden ignoriert – und so wurde das BIP zum Inbegriff des Fortschritts, obwohl es viele wesentliche Aspekte des Lebens außer Acht lässt. Die Kritik am BIP ist also keineswegs neu: Bereits 1974 zeigte der Ökonom Richard Easterlin, dass ein höheres BIP ab einer bestimmten Schwelle nicht automatisch zu einem höheren Lebensglück führt – eine Erkenntnis, die als „Easterlin-Paradox“ bekannt wurde (Easterlin, 1974). 

Die Faktoren, die das Leben tatsächlich lebenswert machen – soziale Bindungen, eine stabile Gesundheit, eine erfüllende Arbeit – stehen oft in keinem direkten Zusammenhang mit einem höheren BIP (Van Soest et al., 2009). Studien zeigen, dass das Einkommen das Lebensglück nur bis zu einem gewissen Niveau steigert. Ist diese Schwelle erreicht, machen zusätzliche Einkommenszuwächse kaum noch einen Unterschied in der Lebenszufriedenheit. Einkommen ist also besonders dort entscheidend, wo es knapp ist und existenzielle Unsicherheit ausgleicht – nicht jedoch als ultimatives Maß für ein erfülltes Leben. 

Die politische Praxis sieht allerdings anders aus: BIP-Wachstum gilt nach wie vor als zentrale Messlatte für den Erfolg einer Regierung. Ein stagnierendes oder rückläufiges BIP wird oft als Alarmzeichen interpretiert, als drohende Krise. Wenn Judith Rakers bei der Tagesschau mit ihrem ernstesten Gesichtsausdruck vor die Kamera tritt, weiß man sofort, dass entweder ein Krieg ausgebrochen oder die Wirtschaft geschrumpft ist. 

Die Fixierung auf dieses eine Maß verengt jedoch den Blick: Wir werden immer besser darin, mehr Güter und Dienstleistungen zu produzieren, unabhängig davon, ob wir diese wirklich brauchen oder ob sie unsere Lebensqualität steigern. Doch was bringt uns materieller Reichtum, wenn er auf Kosten unserer Umwelt und unseres sozialen Zusammenhalts geht? 

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz gehört zu den lautesten Kritiker*innen dieser Fokussierung auf das BIP. Unter seiner Leitung analysierte die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission die Defizite des BIPs und legte Alternativen vor, die besser geeignet sind, um gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt zu messen. Sie schlugen vor, auch „weiche“ Faktoren wie Lebenszufriedenheit, soziale Beziehungen und Umweltqualität in die Messungen einzubeziehen. So könnten Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit, zur persönlichen Sicherheit und zur intakten Umwelt einbezogen werden, um ein realistischeres Bild vom Zustand einer Gesellschaft zu erhalten (Stiglitz et al., 2009). 

Die Verteidiger*innen des BIP argumentieren, dass sich Wirtschaftswachstum und CO₂-Ausstoß entkoppeln ließen, und somit die Wachstumsmaxime weiterverfolgt werden könne. Doch dies übersieht wesentliche Aspekte. Erstens: Das BIP bleibt ein Indikator, der stark an den Energieverbrauch gekoppelt ist. Ein steigendes BIP bedeutet oft auch mehr CO₂-Ausstoß, besonders in Ländern, die stark auf fossile Brennstoffe angewiesen sind. Zweitens: Selbst ein „grünes“ Wachstum erfordert Ressourcen – sei es für den Bau von Windkraftanlagen, den Abbau seltener Erden oder die Versiegelung von Flächen. Auch erneuerbare Energien haben ökologische Kosten, deshalb ist der bewusste Umgang mit jeder Kilowattstunde Strom sehr wichtig, egal ob erneuerbar oder fossil. 

Ein Ansatz ist die Weiterentwicklung des BIPs, sodass unerwünschte Ausgaben in Schäden negativ in die Bilanz eingehen und “Blind Spots” wie z.B. unbezahlte Care-Arbeit positiv einfließen. Mit genau dieser Zielsetzung ging 1989 der “Index of Sustainable Economic Welfare” (ISEW) an den Start. Ausgaben durch negative Ereignisse wie z.B. Unfälle, Kriminalität, Naturkatastrophen werden abgezogen. Ebenso wird die jährliche Umweltzerstörung ermittelt und negativ bilanziert. Die unbezahlte Leistung im Care-Bereich wird geschätzt und positiv berücksichtigt. Insgesamt setzt sich der Indikator aus 20 Komponenten zusammen, die einzeln aufgeschlüsselt werden, was für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit ein großer Pluspunkt ist (Imzuwi, n.d.). Der “Genuine Progress Indicator” (GPI) wurde auf Grundlage des ISEW entwickelt und punktuell für einige Staaten in den USA (Vermont, Maryland, Colorado, Ohio, Utah) berechnet. Hawaii ist der einzige Staat, der die Berechnung des GPI zu seiner jährlichen Routine gemacht hat (Hawaii, n.d.). 

Noch vielversprechender ist der Ansatz, für jedes Policy-Feld verschiedene Indikatoren-Sets (Dashboards) zu entwickeln, wobei das BIP nur als ein Indikator von vielen gesehen wird. Außerdem sind die Berücksichtigung von subjektiven Faktoren und des Umweltverbrauchs wesentlich, um von der Messung der reinen “ökonomischen Wohlfahrt” zur Messung des Wohlergehens zu kommen. Der von einem britischen Think-Tank entwickelte „Happy Planet Index“ macht es vor: Er setzt Lebenszufriedenheit ins Verhältnis zum ökologischen Fußabdruck eines Landes und fordert ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen (Lexikon der Nachhaltigkeit, n.d.). Auch eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu weniger Ressourcenverbrauch und mehr Lebensqualität ist denkbar. Die Frage sollte nicht lauten „Wie können wir immer mehr produzieren?“, sondern „Was brauchen wir für ein gutes Leben – und wie lässt sich dies nachhaltig erreichen?“. Einen Lösungsbaustein auf diesem Weg bietet die Arbeit von Veléz-Henao und Pauliuk. Sie haben untersucht, welche Materialflüsse wir wirklich benötigen, um ein gutes Leben zu führen (Veléz-Henao/Pauliuk, 2023). Die Fokussierung auf Realgrößen statt Finanzkennzahlen kann dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. 

Eine solche Perspektive würde unsere Wirtschaftspolitik auf lange Sicht radikal verändern. Statt jeden Produktivitätsfortschritt in mehr Produktion umzumünzen, könnten wir höhere Produktivität für mehr Freizeit und Lebensqualität nutzen. Eine interessante Arbeit auf diesem Gebiet kommt von Wissenschaftlern von dem IAB. Sie haben berechnet, dass unsere Produktivität im Vergleich zur neolithischen Revolution (die Sesshaftwerdung der Menschen) um den Faktor 90 zugenommen hat. Sprich heute können wir in einer Stunde 90 mal mehr herstellen, als zu der Zeit, in der wir alles per Hand hergestellt haben (Amlinger et al., 2023). Wir würden gut daran tun, diese erhöhte Produktivität in mehr Freizeit zu stecken, denn mehr Freizeit bedeutet weniger Stress, mehr Raum für zwischenmenschliche Beziehungen, Kreativität und persönliche Entwicklung – Aspekte, die unser Lebensglück nachhaltig steigern.  

Dass wir das BIP von heute auf morgen in den Ruhestand schicken, wird allerdings nicht gelingen. Es ist in viele politische Kennzahlen eingebunden und muss nach und nach abgelöst werden. Und für manche Zwecke wird es nach wie vor seine Aufgabe erfüllen. Vor allem die Globalisierung macht eine einseitige Aufgabe des Indikators schwierig. Wünschenswert wäre ein international abgestimmtes Vorgehen, um das BIP auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen. Auch haben starke Schwankungen des BIPs durchaus einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit – in der kurzen Frist, nicht in der langen (Easterlin, 2010). 

Die Herausforderung bleibt, die Dringlichkeit für eine Abkehr vom BIP als Hauptindikator zu vermitteln. Die Bundesregierung hat bereits die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beauftragt, alternative Messgrößen zu erarbeiten. Die Enquete-Kommission hat 2013 auf 844 Seiten ganz ähnliche Erkenntnisse wie die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission vorgelegt (Deutscher Bundestag, 2013). Doch die Umsetzung dieser Erkenntnisse steht noch aus. Was also tun? Ein gesellschaftlicher Diskurs ist notwendig, der die Frage ins Zentrum stellt, was ein gutes Leben ausmacht und wie eine nachhaltige Wirtschaft dies unterstützen kann. Die Einführung neuer Wohlstandsindikatoren erfordert politische Entschlossenheit und eine breite gesellschaftliche Unterstützung. 

Eine vielversprechende Möglichkeit, diesen Wandel zu fördern, ist die Einbeziehung von Bürger*innen: Ein Bürgerrat könnte eine Plattform bieten, um über alternative Wohlstandsindikatoren und ein neues Verständnis von Fortschritt zu diskutieren. Derzeit wird an einem solchen Rat gearbeitet, der pünktlich zur nächsten Regierungsbildung seine Ergebnisse vorlegen soll (New Wohlstand, n.d.). 

Wer sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen möchte, ist herzlich zu unserer nächsten Online-Veranstaltung am 19. November eingeladen. Dort diskutieren wir mit dem Filmemacher Martin Oetting, der in seinem Film „Purpose“ Fragen zur Lebenszufriedenheit aufwirft, und dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hermann Ott, der 2013 an der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beteiligt war. Wir freuen uns auf einen spannenden Austausch und Ihre Fragen! 

Gesucht: Sinnstiftender Klimaschutz

Die AfD hat bei Landtagswahlen in drei östlichen Bundesländern zugelegt. Seitdem überlegt sich die Klimablase, wie man die Klimakommunikation verbessern kann. Die Frage kann man besser formulieren. Von Craig Morris

Beginnen wir mit einer kurzen Frage: Wer hat Folgendes geschrieben, und vor allem wann? (Antwort steht am Ende des Textes – googeln ist mogeln!)

„Soweit unerwünschte Tatsachenwahrheiten in freien Ländern toleriert werden,
werden sie häufig, bewusst oder unbewusst, in Meinungen umgewandelt.“

Und jetzt zur Aktualität: Nach dem Erfolg der AfD in drei Landtagswahlen suchen Klimaschützer das richtige Framing für die Klimakommunikation. Framing ist nicht unwichtig, aber wenn das die Hauptlösung wäre, hätte man in den 80ern mit „die Schöpfung bewahren“ sehr viele Konservative überzeugt.

Oft heißt es, wir brauchen positive, optimistische Botschaften – wohl ein Grund, warum das Limit von 1,5°C nicht bereits für überschritten erklärt worden ist. Führende Klima-Expert*innen betonen, dass sie optimistisch seien (Claudia Kemfert vom DIW) und warnen davor, zu viel Pessimismus zu verbreiten (Hannah Ritchie von Our World in Data).

Aber der größte Durchbruch in den letzten Jahren kam wohl von Fridays for Future, und ihre Botschaft war wenig optimistisch: „Ihr wollt von uns jungen Menschen Hoffnung – How dare you!“ Die Menschen sind unterschiedlich: Manche mögen Schokolade, manche Vanille.

Vor allem basieren die Meinungen der Wissenschaftlerinnen Kemfert und Ritchie zur Klimakommunikation nicht auf der Wissenschaft, sondern das ist eher ihr Bauchgefühl. Was sagt die Sozialforschung zur Klimakommunikation?

Listen to the science

2017 fasste der US-Journalist David Roberts die peer-reviewed Forschungsergebnisse zusammen: „there’s unlikely to be any all-purpose emotional recipe that will satisfy all customers“. Zu Deutsch: Es gibt keine eierlegende Wollmilchsau bei der Klimakommunikation. 2018 betonte er (wie viele andere), dass die Menschen vor allem „fellowship“ wollen: Wir können Krisen meistern, wenn wir das Gefühl haben, dass alle an einem Strang ziehen. Nur dumm, dass die Gesellschaft immer gespaltener ist und wir uns immer einsamer fühlen.

Der konservative US-Podcaster und Gründer von Strong Towns, Chuck Marohn, setzt sich für 15-Minuten-Städte ein. Er sucht dabei nicht nach einem Framing. Wenn er in eine Gemeinde eingeladen wird, setzt er sich hin und hört zu. Wo drückt der Schuh in der Gemeinde? Erst wenn alle sich gehört und ernst genommen fühlen, redet er davon, wie man die Gemeinde stark machen kann.

Aktuelles deutsches Beispiel: Nam Duy Nguyen hat soeben in Sachsen für die Linke ein Direktmandat geholt – eines von nur zwei. Seine Taktik: Er hat an knapp 50.000 Türen geklopft und zugehört. Er fand heraus, dass vor allem drei Themen die Menschen dort beschäftigen: Mietpreise, ÖPNV (Preise und Anbindung), und Inflation. Nun könnte ein Klimaschützer leicht von Lösungen reden, die diese Probleme angehen – und nebenbei das Klima schützen.

Klimaschützer treten eher anders auf: Die Fakten sind auf unserer Seite, wir haben einfach recht – basta! Das kann unsympathisch rüberkommen. Man versteht die Reaktion „Meine Gefühle interessieren sich nicht für deine Fakten“ besser mit einem Spruch aus den USA: „they don’t care to know until they know you care.” Erst wenn die Menschen wissen, dass du sie ernst nimmst, sind sie offen für dein Wissen.

Dann stellt man fest, dass die Menschen beim Klimaschutz gar nicht so gespalten sind; Mehrheiten sind dafür, aber viele denken, die anderen wollen nicht (Umfrage von More in Common). Die Sozialwissenschaften sprechen von „pluralistischer Ignoranz“: Man fühlt sich alleine, auch wenn die eigene Meinung weit verbreitet ist. Man weiß es nur nicht, weil wir uns immer weniger treffen. Außerdem argumentiert More in Common, man müsse sich besser um das „unsichtbare Drittel“ kümmern: Menschen, die eben nicht in prekären Verhältnissen leben, sondern sich einsam fühlen und nicht wissen, wie sie sich wirksam einbringen können (Die andere deutsche Teilung).

Die Frage lautet also nicht (nur): Welches Framing für die Klimakommunikation? Sondern: Wie können wir uns wieder treffen und reden? Wie Rainald Manthe, Vorstand von Stiftung Bildung, sagt: „Gesellschaft braucht Orte, an denen sie einander begegnet.“ Begegnungsorte sind „dritte Orte“ neben Zuhause und Arbeit: Kirchen, Kneipen, Kinos, Parks, Buchhandlungen, Sportvereine usw. Diese Orte besuchen wir immer weniger; wir sitzen auf der Couch mit Netflix, das Essen wird geliefert. Dann treffen wir uns in unserer Blase, um darüber zu reden, wie man mit Anderen reden sollte, wenn man sie träfe – anstatt sie zu treffen.

Demokratie weiterentwickeln

Die Politik sollte die Richtung angeben, aber die Ampelkoalition zeigt bereits, dass das Parteiensystem an seine Grenzen kommt. Jetzt wird es noch schwieriger: Die CDU muss sich mit Sahra Wagenknecht arrangieren. Man befürchtet, dass uns die Demokratie abhandenkommt. So schrieb Jonas Schaible im Spiegel: „Die Zeit des demokratischen Siechtums ist die Zeit, in der wir leben.“

Das deutsche politische System war 1949 die beste verfügbare Technik – ein Bollwerk gegen den Faschismus. Kommt es in die Jahre? Wenn ja, wie könnte man es weiterentwickeln?

Expertise gibt es vor allem in den Ministerien. Es gibt Vorschläge, wie man dieses Wissen aus den verkrusteten preußischen Strukturen der Ministerien befreien könnte – die Welt lässt sich immer weniger in Einzelthemen einsortieren, die Namen der Ministerien werden immer länger –, aber generell wird nicht beklagt, dass Wissen fehlt. Wir streiten uns eher über die Ausgestaltung z.B. des Klimaschutzes: Wohin geht die Reise?

Das soll die Politik sagen. Auch wenn es nicht schadet, wenn Politiker*innen Expertise besitzen: Die Politik vertritt eher unsere Werte. Sind wir z.B. der Meinung, es sollte eine Maut auf der Autobahn geben, dann sagt das Verkehrsministerium mit seiner Expertise, wie das konform mit EU-Recht ginge – so jedenfalls sollte unser politisches System funktionieren. Aber mit den immer weiter gespreizten Koalitionen weiß die Politik nicht mal mehr, was sie will.

Einen Ausweg bieten Bürgerräte. Hier kommt eine Gruppe von zufällig ausgewählten Menschen zusammen, um miteinander und Expert*innen vertieft über ein gesetztes Thema zu sprechen und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Dank dieser Expertise sind das keine Stammtischgespräche, und die Bürgerräte entkräften den Vorwurf, dass „die da oben“ entscheiden.

Hier treffen sich die Menschen außerhalb ihrer Blase, und die Gespräche sind konstruktiv. Es zeigt sich international, dass diese Vorschläge ehrgeiziger sind, als sich die Politik erlaubt. Noch nimmt die Politik solche Vorschläge zur Kenntnis, setzt sie aber nicht konsequent um. Man sollte Bürgerräte häufiger, vielleicht laufend als Dritte Orte, abhalten, und die Empfehlungen sollten als Auftrag an die Ministerien gehen, die dann untersuchen, wie man sie umsetzen kann.

Und nun des Rätsels Lösung

Obiges Zitat:

„Soweit unerwünschte Tatsachenwahrheiten in freien Ländern toleriert werden,
werden sie häufig, bewusst oder unbewusst, in Meinungen umgewandelt.“*

stammt von Hannah Arendt (Original auf Englisch) aus dem Jahr 1967 Wir denken, dass wir seit Kurzem im Zeitalter des Postfaktischem leben, aber Arendt hat das alles vor mehr als einem halben Jahrhundert analysiert. Sie ist nicht unumstritten. Dennoch: Was würde sie heute wohl sagen? Ich denke, zwei Sachen.

Erstens: Wahrheiten** wirken in der Politik tyrannisch; die Politik lebt von der Vielfalt der Meinungen. Dass bedeutet nicht, dass Fakten nicht mehr gelten, sondern dass man mit Meinungen anfängt. (Beispiel: Katja Diehls „willst Du oder musst Du Auto fahren“ kommt eher empathisch als belehrend rüber.)

Zweitens: „Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn“ (Vom Leben des Geistes, posthum 1977). Arendt hat die Zeit vom Nazi-Regime bis in die 1970er Jahre hinein analysiert. Hitler gab vielen Menschen einen Sinn im Leben. Die AfD liefert auch eine Definition für dieses Deutschland – eine, die mir nicht gefällt. Unsere freiheitliche Wirtschaft liefert leider keine. Um Jacques Delors zu zitieren: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“. Weltweit gehen Geburtenraten zurück, selbst wenn der Staat Familien mit Kindern besser finanziell unterstützt. Immer mehr junge Menschen fragten sich offenbar: Wozu Kinder kriegen in dieser sinnlosen Welt?

Wofür steht dieses Deutschland? Wie kann Klimaschutz zur Sinnstiftung beitragen?

Wenn es stimmt, dass uns der Sinn des Lebens zunehmend abhandenkommt, dann sind wir endlich im eisernen Käfig des Soziologen Max Webers angekommen: Wir interagieren miteinander nach den rationalen Regeln des Kapitalismus, aber ohne dass diese Begegnungen Sinn stiften. Oder wie der Anthropologe David Graeber gesagt hätte: Wir wollen eigentlich, dass der Bäcker sagt: Guten Morgen, heute wieder zwei Brötchen und ein Croissant? Der Markt hat uns früher zusammengebracht und zur Bildung einer Gemeinschaft beigetragen; er soll nicht nur effizient, sondern sinnstiftend sein. Stattdessen sitzt der Bäckermeister heute fernab in einer Halle, und an der Theke steht eine wechselnde Bedienung, die nur 4,97 Euro von uns will. Sobald wir bezahlt haben, sind wir quitt: Wir schulden einander nichts und müssen uns nicht wiedersehen. Eine Welt voller finaler Transaktionen ohne gesellschaftlichen Kitt – wie kommen wir da raus?

Beginnen wir die Sinnsuche wie Chuck Marone, indem wir uns treffen und aussprechen, z.B. an Dritten Orten und in Bürgerräten – wo drückt der Schuh? So bauen wir Vertrauen und Sympathie füreinander auf – Roberts „fellowship“. Dann suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Diese sind wissenschaftsbasiert; die Fakten kommen erst hier rein. Oder wie jemand mal auf einer Veranstaltung gesagt hat: Die AfD erzählt faktische Lügen, aber emotionale Wahrheiten; wir erzählen faktische Wahrheiten, nehmen aber Sorgen und Emotionen zu wenig ernst.

Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Transformation des Klimaschutzes wohl der größte Umbau seit Gründung der Bundesrepublik sein wird. Bei Veränderungen gibt es Gewinner und Verlierer. Man muss den Leuten die Existenzangst nehmen. Wir müssen uns gegenseitig klarmachen, dass wir füreinander da sein werden. Ob die Transformation eine Chance oder eine Bedrohung ist, ist ein Gefühl – kein Fakt.

Lesen Sie zum selben Thema „ZuverZicht: It’s a Kulturkampf, stupid!“ vom Mai 2024.

Wer sich mehr mit wissenschaftsbasierter Klimakommunikation beschäftigen mag, findet bei Klimafakten viele wertvolle Ressourcen.

* Es gibt ein (weniger elegantes) Zitat auf Deutsch dazu von Arendt aus dem Jahr 1963: „Wo immer andererseits in der freien Welt unliebsame Tatsachen diskutiert werden, kann man häufig beobachten, daß man ihre bloße Feststellung nur darum toleriert, weil dies von dem Recht zur freien Meinungsäußerung gefordert werde….“

** Arendt unterscheidet (nach Leibniz) zwischen Vernunftwahrheiten (Logik) und Tatsachenwahrheiten (Empirie). Die Klimaforschung fällt unter Tatsachenwahrheiten.

Braucht es lokale Strompreise und wenn ja welche?

Diskussionsbeitrag von Dr. Jörg Lange und Craig Morris

Im Juli entbrannte ein Streit in der FAZ. Los ging es mit einem Aufruf von 12 Ökonomen nach lokalen Strompreisen. An der schlichten Tatsache, dass der deutsche Spotmarkt in Leipzig die Physik in den Netzen nicht abbilden kann, komme man nicht vorbei.

Eine Woche danach sprachen sich allerdings 15 Verbände für die Beibehaltung der landesweiten Einheitspreiszone aus (wie z.B. in Frankreich oder Spanien). Auch der Bundesverband Erneuerbare Energien ist dafür. Die Verbände befürchten eine Abwanderung der Industrie aus hohen in niedrigere lokale Preiszonen. Beim BEE geht es um die Planbarkeit von neuen Wind- und Solarprojekten. Dennoch zeigten sich die Verbände offen für (nicht weiter definierte) lokale Preissignale unterhalb des bundesweiten Spotmarkt-Preises.

BMWK favorisiert Kapazitätsmarkt

Dann kam im August ein konkreter Vorstoß aus dem Wirtschafts- und Klimaministerium mit einem Optionenpapier zum „Strommarkt der Zukunft“ und einem „Überblick zur Ausgestaltung eines kombinierten Kapazitätsmarktes“.

Die Idee des bereits über viele Jahre diskutierten Kapazitätsmarktes nun neu in der Kombination mit einer dezentralen Komponente ist nicht unkompliziert: Zunächst würde es in der zentralen Komponente Ausschreibungen für neue Erzeugungsanlagen (wie Gaskraftwerke) geben. Die bezuschlagten Angebote bekämen Zahlungen für die Bereitstellung von Kapazität unabhängig von der erzeugten Strommenge. Später käme die zweite Komponente hinzu: Zertifikate aus der zentralen Komponente für (dezentrale) Bilanzkreisverantwortliche (also Stromhändler und -lieferanten).

Der „kombinierte Kapazitätsmarkt“ kompensiert (so die Ansicht des BMWK) schwindendes Vertrauen in den „Energy-Only Markt“ und die CO2-Bepreisung.

Die dezentrale Komponente des kombinierten Kapazitätsmarktes delegiert die Verantwortung für die Erschließung von Flexibilitätsoption auf der Ebene der Endkunden und des Verteilnetzes auf die etwa 900 Bilanzkreisverantwortlichen. Auf den ersten Blick scheint das plausibel, weil sie über Lastgänge größerer Endkunden verfügen und bereits heute einige Akteure auf deren Lastverhalten im Sinne eines effizienter zu führenden Bilanzkreises versuchen einzuwirken.

Aber verfügen sie auch über das Wissen, wie in den Unternehmen und vor allem in Gebäuden Flexibilitätsoptionen umgesetzt werden können? Wurden die Bilanzkreisverantwortlichen gefragt, ob sie die Verantwortung und Aufgabe übernehmen wollen und können?

Zu den vielen gesetzlichen Regelungen, die heute schon nicht konsequent am Klimaschutz und einer Versorgung mit fluktuierenden Erneuerbaren ausgerichtet sind, käme ein weiteres bürokratisch aufwändiges Zertifikatesystem hinzu, dessen Folgen kaum abschätzbar sind.

Nach Ansicht von Kritikern würde ein Kapazitätsmarkt zu höheren volkswirtschaftlichen Gesamtkosten führen. Eine effizientere Alternative wird in einer „Absicherungspflicht“ (Option 1, Kap. 3.2 im Optionspapier) gesehen, wie sie in der europäischen Strommarktrichtlinie vorgegeben ist, und die dem „Strommarkt-Plus“ der Plattform klimaneutrales Stromsystem (PKNS) entspricht (connect 2024). Vereinfacht bedeutet eine Absicherungspflicht, dass Stromversorger ihre Lieferverpflichtungen zum Beispiel am Terminmarkt absichern müssen und damit eine Nachfrage von emissionsarmen Ausgleichskapazitäten auslösen, wenn gleichzeitig der CO2-Preis entsprechend hoch ist. Derzeit müssen sich Unternehmen nicht absichern und gehen bei starken Preisschwankungen am Spotmarkt große Risiken ein, die zum Konkurs führen können.

Refinanzierung der Investitionskosten von Wind- und Solarkraftwerken

Neben dem Aspekt der Versorgungssicherheit und hierzu ggf. fehlender flexibler Kapazität stellt das Optionenpapier auch vier Vorschläge bezüglich der Refinanzierung der Investitionskosten von Wind- und Solarkraftwerken zur Debatte. Alle vier vorgeschlagenen Optionen basieren, wie bisher auch auf dem gleichen Grundprinzip: der Refinanzierung von Investitionen in Solar und Windstromanlagen über den Spotmarkt und Ausgleich der Differenz zu den Kosten über den Steuerhaushalt. Aufgrund europäischer Vorgaben wird in allen Optionen ein „Rückzahlungsinstrument“ eingeführt, so dass bei hohen Erlösen am Spotmarkt ein Teil des Steuerausgleichs wieder zurückfließt.

Solarstromkraftwerke und Windkraftwerke reagieren auf das Wetter und nicht auf Preise. Sie haben so gut wie keine Grenzkosten. Ihre Refinanzierung am Grenzkostenmarkt führt bei hoher erneuerbarer Stromerzeugung zu niedrigen oder negativen Strompreisen. Mit Strom aus Solar und Windkraftwerken wird am Spotmarkt immer dann wenig Geld erlöst, wenn sie gerade viel produzieren. Alternative Vorschläge zur Refinanzierung von volatilem Sonnen- oder Windstrom werden im Strommarkt der Zukunft nicht erwähnt – es wird auch nicht begründet, warum sie verworfen wurden.

Neuhoff et al. 2024 schlagen z.B. einen Erneuerbaren Energien Pool vor, der langfristige Absicherungsverträge (PPAs) zusammenfasst, die einerseits das Investitionsrisiko von Windkraft- und Solarprojekten reduzieren und andererseits über Verträge mit Endverbrauchern diese ebenfalls gegen Preisrisiken absichern. Damit würde am Ende der erneuerbar erzeugte Strom mittel- bis langfristig ganz aus dem bisherigen Grenzkostenmarkt herausgenommen und nur noch die Residuallastkapazitäten sich an den Grenzkosten orientieren.

Es fehlt an Flexibilität

Die vor mehr als 10 Jahren geäußerten These, der Netzausbau und Residuallasterzeugung über Gasturbinen wären gegenüber einem lokalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch die weitaus kostengünstigste Lösung, stößt an seine Grenzen (These 4, 5 Agora 2013). Kosten für den Stromnetzausbau oder das Netzengpassmanagement (smard.de) und damit die Netzentgelte steigen mit noch unklarem Ausgang. Studien befürchten eine Verdopplung der Netzentgelte bis 2045 (Ruhr GmbH 2024). Die Hinweise nehmen außerdem zu, dass in einigen Fällen zusätzliche Wärmepumpen, Lade­sta­tionen und Solarstromanlagen wegen fehlender Netzkapazität nicht angeschlossen werden können. Bei bestehenden Solar- und Wind-Anlagen nehmen die Eingriffe der Netzbetreiber zu. Beispiele wie der Fall einer Metzgerei bei Freising in Bayern bleiben hoffentlich die Ausnahme. Hier wurde nicht nur die Überschusseinspeisung, sondern die gesamte Leistung der eigenen Solarstromanlage auf dem Dach der Metzgerei an vielen Stunden im Jahr auf Null heruntergefahren wird (Fernsehsendung quer vom 4.7.2024).

Der vielfach zitierte Grundsatz „So dezentral wie möglich, so zentral wie nötig“ würde hier helfen.

Lokale Signale statt immer mehr Eingriffe

Stromkunden sollten zukünftig neben der Eigenstromoptimierung auch die Netzdienlichkeit berücksichtigen können. Zu jeder Zeit sollte eine möglichst treibhausgasarme und kostengünstige Energieversorgung möglich sein. Dazu sind zwei lokale dynamische Preissignale notwendig, die Angebot von erneuerbaren Energien (EE), Residuallast (Stromlast abzüglich der Erzeugung aus Erneuerbaren) und Netzauslastung umfassen.

Das erste Signal muss die Information über Engpässe im Stromnetz enthalten. Vergleichsweise einfache mögliche Ansätze liegen vor (Zapf 2024).

Das zweite Signal muss die aktuell regional benötigte fossile Residuallast anzeigen, um danach Erzeugungsanlagen vor Ort treibhausgasarm betreiben zu können. Ein Signal dieser Art ist der bereits verfügbare regionale Grünstromindex.

Beide Signale lassen sich zu einem Signal, idealerweise zu einem Preissignal, miteinander verrechnen. Solange nur Wenige auf ein solches Signal reagieren, reichen Signale wie der Grünstromindex, die sich stündlich ändern. Am Ende der Entwicklung muss das Signal im Bereich von Sekunden zur Verfügung stehen, um überschießende Reaktionen vieler Akteure zu vermeiden. Wie eine Umsetzung in sekündlicher Auflösung erfolgen kann, zeigt das Projekt InterConnect (Walter et al. 2024).

Letztlich müssen die Regeln des Strommarktes der Zukunft abgestimmt werden auf den Instrumentenmix aus CO2-Bepreisung, Förderung von Transformation und ordnungsrechtlichen Vorgaben. Planbare hohe CO2-Preise sind notwendig, um dauerhafte Investitionen in z.B. H2-Elektrolyse und Speicherkraftwerke zu refinanzieren. Die Förderung unterstützt ihre Marktintegration, und das Ordnungsrecht gibt unflexiblen nicht regenerativen Technologien Auslaufpfade vor.

Eine effiziente Elektrifizierung kann nur gelingen, wenn die Politik mit einer modernen, grundlegenden Reform des Strommarktes (inkl. Netzentgeltreform) die geeigneten Anreize setzt, die sowohl auf der Angebots- wie auch der Nachfrageseite Flexibilitäten erzeugen, die Erzeugungskapazitäten und Netzausbau einsparen helfen.

Energiekunden sollten zukünftig ertüchtigt werden, ihr eigenes Energiemanagement leisten zu können. Neben den Kosten der Energieerzeugung sollte das Ziel auch die Minimierung der realen Kosten für Transport, Netzstabilisierung und Emissionen (Vollkosten) zur Versorgung des jeweiligen Verbrauchsorts sein.

Statt einem kombinierten Kapazitätsmarkt braucht es einfache, transparent nachvollziehbare und planbare Anreize für einen Flexibilitätsmarkt vor Ort, der auch den Aufwand für den Transport von Energie verursachergerecht refinanziert – und zwar abgestimmt auf planbare CO2-Preise.

Lokale Strompreise sind dafür ein sehr geeignetes Instrument. Sie unterstützen Planer und Projektentwickler dabei Flexibilitätsmaßnahmen auf der Erzeuger- und der Verbraucherseite auch betriebswirtschaftlich gegenüber den Investoren begründen zu können.

Vorstudie bestätigt Forschungsbedarf für flexible Arbeitszeitmodelle im Klimahandwerk

In dem Projekt “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchten wir untersuchen, inwiefern flexible Arbeitszeitmodelle und Mischarbeit die Attraktivität des Klimahandwerks steigern und damit neue Zielgruppen gewonnen werden können. In dem vorliegenden Text werden vor allem die Zwischenbefunde der Vorstudie thematisiert, die zur Absicherung der Forschungsfragen durchgeführt wurde.

Das wichtigste in Kürze

  • Flexible Arbeitszeitmodelle könnten die Arbeitskräftebasis im Klimahandwerk durch verschiedene Effekte stärken:
    • Ältere Beschäftigte bleiben länger im Betrieb
    • Die Abwanderung in andere Bereiche wird vermindert
    • Neue Zielgruppen werden erschlossen
    • Die langfristige Gesundheit der Beschäftigten verbessert sich
    • Der Frauenanteil steigt
    • Der Umstieg aus dem Büro auf die Baustelle wird erleichtert
    • Studierende finden einen Nebenjob
  • Durch Pionierbetriebe, die schon heute flexible Arbeitszeitmodelle praktizieren, könnte in den spezifischen Gewerken ein Rechtsanspruch auf Teilzeit entstehen (der zumutbar ist)
  • Durch die rasanten Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz steigen die Substituierbarkeitspotenziale der kaufmännischen Berufe stark an. Die Dringlichkeit, eine Strategie “Raus aus dem Büro – Rauf auf die Baustelle” zu entwickeln, wächst. 
  • Die Umschulungspraxis der Agenturen für Arbeit ist zu sehr auf die aktuelle Situation und zu wenig auf die künftigen Bedarfe ausgerichtet
  • Die Teilzeitausbildung ist im Handwerk bislang ein theoretisches Konstrukt, könnte bei richtiger Umsetzung aber neue Personengruppen erschließen

Zu wenige Arbeitskräfte im Klimahandwerk sind eine ernsthafte Bedrohung für unsere (zu niedrigen) Klimaziele. Eine Studie im Auftrag des BMWK hat gezeigt, dass der Gebäudesektor deutlich zu viel CO2 emittieren wird, falls das Arbeitsangebot nicht massiv ausgeweitet wird (vgl. BMWK, 2022, S. 69). Aktuell deuten aber alle Trendindikatoren in die falsche Richtung. Das sollte bei den Entscheider*innen die Alarmglocken läuten lassen.

Die Zahl der Schulabgänger*innen ist begrenzt, und diese sind hart umkämpft. Nicht nur die akademische Laufbahn, sondern auch andere Ausbildungsberufe außerhalb des Handwerks, z.B. im kaufmännischen Bereich, steigen in der Gunst der Absolvent*innen. Und selbst die jungen Menschen, die für eine Ausbildung im Klimahandwerk gewonnen werden können, sind kein Garant für eine solide Beschäftigungsbasis. Direkt nach der Ausbildung, aber auch später während des Berufslebens kehren viele Beschäftigte dem Handwerk den Rücken. Nur ein Drittel bleibt dem Handwerk das ganze Berufsleben treu (Haverkamp, 2016, S. 11). Die Altersstruktur in vielen Gewerken des Klimahandwerks ist, vorsichtig ausgedrückt, suboptimal. Im SHK-Bereich etwa ist mehr als jeder Fünfte älter als 55 Jahre (TAG, 2022).

Das heißt, allein das aktuelle Fachkräfteniveau zu halten, ist eine immense Herausforderung. Dabei muss insgeheim der Anspruch aber lauten, die Leistungsfähigkeit des Klimahandwerks nicht nur zu erhalten, sondern zu steigern; was in logischer Konsequenz auch bedeutet, die Beschäftigungsbasis deutlich auszubauen. Aktuell befinden wir uns bei der energetischen Sanierungsrate auf einem historischen Tiefstand: 0,7% (BuVEG, 2024). Laut Studien müsste die Sanierungsrate aber mindestens auf 2% oder mehr gesteigert werden, um die selbst gesteckten Ziele der Bundesregierung zu erreichen (Ariadne, 2021).

Mit dem Forschungsvorhaben “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchte Klimaschutz im Bundestag e.V. untersuchen, mit welchen Instrumenten das Klimahandwerk an Attraktivität gewinnen und somit die Beschäftigungsbasis ausbauen und diversifizieren kann. Dabei sollen verschiedene Forschungsmethoden zum Einsatz kommen, um ein umfassendes Problemverständnis zu generieren. Auf dieser Basis können der Politik dann wissenschaftlich basierte Empfehlungen gemacht werden, um die Herausforderungen im Klimahandwerk künftig besser zu meistern. Der modulare Aufbau der Hauptstudie gliedert sich wie folgt:

  • Modul 1 (Qualitative Phase): 15 Interviews mit Expert*innen aus dem Klimahandwerksökosystem 
  • Modul 2 (Quantitative Phase): Online-Befragung spezifischer Zielgruppen mit einer großen Stichprobe 
  • Modul 3 (Reallabor): Testen von flexiblen Arbeitszeitmodellen im betrieblichen Umfeld im Klimahandwerk

Um die zugrundeliegenden Annahmen und Forschungsfragen von ENPIK zu verifizieren, haben wir im April und Mai dieses Jahres eine Vorstudie durchgeführt. In sieben halbstrukturierten Interviews haben wir Einschätzungen erhoben, um die Relevanz der Forschungsfragen zu überprüfen. Dabei haben wir uns bei den Befragten für einen Mix aus direkt Betroffenen und externen Expert*innen entschieden: 

  • Potenzieller Quereinsteiger (kaufmännischer Beruf)
  • SHK-Auszubildende 
  • Geschäftsführer in einem PV-Installationsbetrieb
  • Soziologiestudentin (mit Nebenjob im PV-Handwerk) 
  • Arbeitsschutzexperte 
  • Abteilungsleiterin in einer regionalen Energieagentur 
  • Montageleiter in einem PV-Installationsbetrieb

Folgende Erkenntnisse konnten wir im Zuge dieser Interviews gewinnen:

Flexible Arbeitszeitmodelle / Teilzeit

Der Arbeitsschutzexperte erachtet flexible Arbeitsmodelle als wichtig, um Menschen für das Klimahandwerk zu aktivieren, die aus gesundheitlichen oder privaten Gründen keine klassische 40-Stunden-Woche arbeiten können. Er sieht in dieser Hinsicht noch ungehobene Potenziale im Handwerk. Ebenso sind Teilzeitmodelle ein wichtiger Baustein, um ältere Beschäftigte länger im Betrieb zu halten. Gleichzeitig betont er, dass die Möglichkeit, in Teilzeit zu wechseln, früh in der Erwerbsbiographie angeboten werden sollte, weil sie auch dazu beiträgt, übermäßigen körperlichen Verschleiß zu vermeiden und so die langfristige Gesundheit der Beschäftigten unterstützt. 

Liste Der Gefaehrlichsten Berufe

Auf der Grafik ist die Rate der Erwerbsminderungsrente nach Beruf abgebildet (Statista, 2011). Diese Zahl gibt an, wie viel Prozent der Beschäftigten vor Erreichen des regulären Renteneintrittsalters ihren Beruf nicht mehr ausführen können und ist damit ein guter Indikator für körperlichen Verschleiß. Es ist erschreckend zu sehen, dass es im Gerüstbau eher die Regel als die Ausnahme ist, dass Beschäftigte von der Erwerbsminderungsrente Gebrauch machen müssen. Auf dem Diagramm ist ebenfalls zu erkennen, dass von den 10 Berufen mit dem höchsten körperlichen Verschleiß 7 zum Klimahandwerk gehören.

Der befragte Geschäftsführer und der Montageleiter arbeiten in demselben PV-Installationsbetrieb. In diesem wurde der Umgang mit flexiblen Arbeitsmodellen bereits normalisiert. Sie berichten, dass 80% – 90% der Monteur*innen in Teilzeit arbeiten. Zwei Tage die Woche hält der Geschäftsführer für organisatorisch schwer handelbar (wird aber von zwei Monteur*innen praktiziert), drei Tage die Woche sind akzeptiert und vier Tage die Woche der Standard. Arbeitswillige Monteur*innen können auch eine klassische Fünf-Tage-Woche arbeiten. Der Betrieb zeigt nahezu mustergültig, dass eine X-Tage-Woche auch im handwerklichen Bereich, genauer gesagt im PV-Installationshandwerk, möglich ist. Solche Betriebe können eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie die gesamte Branche in Zukunft mit flexiblen Arbeitsmodellen umgeht. Und das nicht nur auf einer kommunikativen, sondern auch auf einer juristischen Ebene. Nach § 8 TzBfG haben schon heute alle Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitenden das Recht, in Teilzeit zu wechseln, falls keine wichtigen Gründe dagegen sprechen. Handwerksbetriebe könnten in der Vergangenheit argumentiert haben, dass eine X-Tage-Woche nicht in die betrieblichen Abläufe passt oder zu erhöhten Kosten führt. Wenn aber mehr Betriebe zeigen, dass eine Einsatzplanung auch mit einer Drei- bzw. Vier-Tage-Woche möglich ist, könnte das Gerichte in Zukunft dazu bewegen, zumindest im PV-Installationshandwerk davon auszugehen, dass diese Arbeitsmodelle zumutbar sind und damit ein Rechtsanspruch seitens der Beschäftigten besteht. Die Angst vor flexiblen Arbeitsmodellen ist aber unbegründet: Der Geschäftsführer berichtet, dass sehr viele Menschen bei ihm arbeiten möchten und sein Betrieb deswegen Wartelisten führt. Außerdem seien auch alle Stellen der Elektriker*innen besetzt, was keine Selbstverständlichkeit ist und er neben den flexiblen Arbeitszeiten auf das gute Betriebsklima zurückführt.

Mischarbeit

Unisono gab es eine breite Zustimmung zur Mischarbeit, die wir als Kombination einer Büro- und einer handwerklichen Tätigkeit definieren. Der potenzielle Quereinsteiger gibt an, dass er sich vorstellen kann, 10-20 Stunden pro Woche im Klimahandwerk neben einer Bürotätigkeit zu arbeiten. Die Abteilungsleiterin (Energieagentur) weist darauf hin, dass dieses Modell sehr vielen Menschen entgegenkommen würde und dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, z.B. bei der digitalen Einsatzplanung oder bei der kontaktlosen Baustellenübergabe. Auch der PV-Geschäftsführer ist von der Idee überzeugt und sieht darin auch einen Beitrag im Kampf gegen Zivilisationskrankheiten, die in vielen Fällen durch Bewegungsmangel begünstigt werden. Für die SHK-Auszubildende wäre das Modell auch sehr attraktiv, weil es eine größere inhaltliche Abwechslung verspricht.

Substituierbarkeitspotenziale

In der Vorstudie wurde auch abgefragt, welche Bedeutung Generative Künstliche Intelligenz (wie z.B. ChatGPT) für den Arbeitsmarkt hat. Der potenzielle Quereinsteiger, der zurzeit als Projektassistent, also in einer kaufmännischen Rolle, tätig ist, hat angegeben, dass 10-15 % seiner Arbeit durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt werden könnten. Nach Beschreibung seiner Tätigkeit und Abgleich mit den Substituierbarkeitspotenzialen, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnet hat, scheint das deutlich zu niedrig. Das IAB geht im Bereich der kaufmännischen Berufe inzwischen von einem Substituierbarkeitspotenzial von 69 % aus (IAB, 2024). Bis auf den Experten für Arbeitsschutz wurde das Disruptionspotenzial durch KI für den Arbeitsmarkt von den Befragten unterschätzt. In den aktuellen Entwicklungen liegt aber ein großes Potenzial: Während in absehbarer Zeit mehr und mehr Geschäftsprozesse und Bürotätigkeiten automatisiert werden können, werden im Klimahandwerk händeringend Arbeitskräfte gesucht. Der Weg „raus aus dem Büro – rauf auf die Baustelle“ ist heutzutage noch nicht exploriert, könnte aber große gesellschaftliche Probleme angehen. Falls im kaufmännischen Bereich viele Menschen durch Produktivitätsfortschritte nicht mehr gebraucht werden, scheint es keine sinnvolle Option, diese Menschen in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden. Vielmehr muss es Aufgabe der Politik und Verwaltung sein, diese Menschen zu einem neuen Tätigkeitsfeld zu lotsen.

Umschulungen

In den Interviews haben die Abteilungsleiterin (Energieagentur) und der Arbeitsschutzexperte unterstrichen, dass die Bedeutung von Umschulungen stark zunehmen wird. Diese Einschätzung deckt sich mit einer Arbeit aus den USA: Ellingrud et al. haben für den US-Arbeitsmarkt errechnet, dass es bis 2030 12 Millionen Umschulungen bräuchte, um den veränderten Erfordernissen durch u.a. Digitalisierung gerecht zu werden (Ellingrud et al., 2023). Heruntergerechnet auf die deutschen Verhältnisse würde das 435.000 Umschulungen pro Jahr entsprechen. Das wäre eine Steigerung um den Faktor 9 gegenüber dem heutigen Niveau von 50.000 Umschulungen pro Jahr (Arbeitsmarkt News, 2019). In diesem Kontext sollte ebenfalls die Förderpraxis der Agenturen für Arbeit auf den Prüfstand. Falls sich heute ein Beschäftigter mit kaufmännischer Ausbildung mit der Umschulungsabsicht in einen handwerklichen Beruf an eine Agentur für Arbeit wendet, wird dieses Gesuch in aller Regel mit der Begründung abgelehnt, dass in dem erlernten Beruf heute immer noch eine Stelle gefunden werden kann. Dies lässt aber die Entwicklungen durch Fortschritte in der künstlichen Intelligenz (vgl. Substituierbarkeitspotenziale) und die akute Arbeitsmarktsituation für die Klimahandwerksberufe außer Acht und kann damit zumindest als kurzsichtig beurteilt werden. Der gesetzliche Rahmen ließe auch schon heute die Förderung derartiger Umschulungen zu (vgl. § 81 SGB III). Hier ist also vor allem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefragt, die Förderpraxis seiner Behörden gemäß den aktuellen und künftigen Herausforderungen anzupassen. 

Auch sollten neue Umschulungsinstrumente in den Blick genommen werden. Sogenannte Teilqualifizierungen (TQ) erlauben es den Arbeitnehmer*innen, in kurzer Zeit in eine neue Berufssparte einzusteigen. Dabei wird das Ausbildungsprogramm in 5-7 Module unterteilt (Bundesagentur für Arbeit, n.d.). Schon nach der ersten TQ kann der Start in ein neues Berufsleben gelingen. Über die Zeit können die restlichen TQs durchgeführt und nach Absolvierung der „externen Prüfung“ ein vollwertiger Berufsabschluss erworben werden. Daneben gibt es Kurzschulungen, die in kurzer Zeit für spezifische Aufgaben qualifizieren. Ein Bildungsanbieter aus Plochingen bietet z.B. einen zweiwöchigen Kurs an, der für die PV-Dachmontage (DC-Seite) qualifiziert (Energieheldem Academy, n.d.). In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls untersucht werden, wie eine Berufsausbildung, Teilqualifizierung oder Kurzschulung in Teilzeit bzw. halbtags gelingen kann. Obwohl es dafür einen gesetzlichen Rahmen gibt, kommen diese Modelle in der Praxis im Klimahandwerk so gut wie nicht vor (§27 b Handwerksordnung). Inwiefern dies im Rahmen des ENPIK-Projekts beleuchtet werden kann, ist zurzeit noch unklar.

Andere Attraktionsfaktoren

Wie oben gezeigt, spielen flexible Arbeitszeitmodelle eine zentrale Rolle; sie alleine werden das Klimahandwerk aber nicht retten. In den Interviews haben sich weitere Attraktionsfaktoren herauskristallisiert, die für die (potenziellen) Beschäftigten einen hohen Stellenwert haben:

  • Fairer Lohn
  • Guter Umgangston
  • Vertrauen der Vorgesetzten
  • Arbeitsschutz
  • Selbstbestimmtes Arbeitstempo
  • Gutes Werkzeug / gute Ausstattung

Daher ist uns die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen sehr wichtig, die in einem dieser Punkte bereits Erfahrung gesammelt und Expertise aufgebaut haben. Nach wie vor ist der Lohn ein ganz wesentlicher Faktor bei der Berufswahl. Hier kann die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften sehr sinnvoll sein. In der Vergangenheit hatten die Arbeitnehmer*innen im Klimahandwerk (mit Ausnahme der Elektriker*innen) große Schwierigkeiten, gute Löhne durchzusetzen. Im Schnitt verdient man mit der gleichen Qualifikation im Handwerk 1000 Euro weniger als in der Industrie (Frankfurter Rundschau, 2019). Trotz der sehr harten Arbeit und dem großen Lohnabstand mahnen Arbeitgeber*innen aber zu Lohndisziplin, weil aktuell die Baukosten explodieren. Dies hat aber multiple Gründe (Inflation, hohe Zinsen, hohe Preise für Baustoffe). Nun zu versuchen, die Baukosten ausgerechnet durch Lohnverzicht bei den Beschäftigten zu begrenzen, ist der falsche Ansatz. Gute und flächendeckende Tarifverträge hingegen können dazu führen, dass sich das Lohnniveau eines Gewerks verbessert, Lohndumping vermieden und dadurch mehr Arbeitskräfte angelockt werden können. Auch der Arbeitsschutzexperte betont, dass Tarifverträge in puncto Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz Vorteile für die Beschäftigten bieten. Um im Bausektor Kosten zu sparen, sollte vielmehr auf Umbau/Sanierung statt auf Neubau gesetzt werden (vgl. unsere Veranstaltung zu Wohnraumsuffizienz). 

Bei dem vorliegenden Projekt soll nicht der Eindruck entstehen, dass Arbeitszeiten der alleinig entscheidende Faktor bei der Berufswahl ist. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel von einer ganzen Reihe von Faktoren. Im Zuge des ENPIK-Projekts werden wir durch Abfrage bei den Zielgruppen eine sogenannte Präferenzordnung erstellen, die darlegt, welchen Stellenwert “flexible Arbeitszeit” im Vergleich zu anderen Arbeitsbedingungen einnimmt.

Ausblick

Wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, können alle betroffenen Gruppen und die gesamte Gesellschaft von den Umbrüchen profitieren. Dafür braucht es aber gesicherte Erkenntnisse über die Arbeitszeitpräferenzen der Menschen, die heute noch nicht im Klimahandwerk arbeiten, in Zukunft aber einsteigen könnten. Des Weiteren braucht es Erkenntnisse darüber, ob und wie diese Arbeitszeitpräferenzen in die betrieblichen Abläufe integriert werden könnten. Das vorliegende Projekt kann in diesen Fragestellungen wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse generieren und diese der Öffentlichkeit, aber auch insbesondere den Entscheider*innen im Klimahandwerk und der Politik zur Verfügung stellen. Dies ermöglicht früh und evidenzbasiert Entscheidungen zu treffen, die für mehr gesellschaftliche Resilienz sorgen. Dass die Forschungshypothesen eine Relevanz besitzen, wurde durch die Vorstudie bestätigt. Deshalb bemühen wir uns weiter um Fördermittel und rechnen mit einem Projektstart Anfang 2025.

Warum ein CO2-Preis immer durch Ordnungs- und Förderrecht flankiert werden muss

Bis heute hätte die Bundesregierung die Emissionshandelsrichtlinie in nationales Recht umsetzen. Was jetzt geschehen muss, beschreiben Dr. Jörg Lange und Craig Morris.

Seit 2021 belegt das Bundesemissionshandelsgesetz (BEHG) die Inverkehrbringer von fossilen Energien in den Sektoren Wärme und Verkehr mit einem CO2-Preis. Mit dem ETS II wird ähnlich dem BEHG nun ab 2027 Wärme und Verkehr ein zweiter Emissionshandel parallel zum Emissionshandelssystem (ETS I) der EU entstehen, das seit 2005 Emissionszertifikate in den Sektoren Strom und Industrie ausgibt.

Bisher sind viele davon ausgegangen, dass das deutsche BEHG vom ETS II abgelöst wird. Doch es kommt darauf an, wie die nationale Umsetzung des ETS II in Deutschland aussieht. Ein Unterschied zwischen dem BEHG und dem ETS II ist die anfängliche Festsetzung des Preises für CO2. Beim BEHG wird der Preis für einen Zeitraum festgelegt (derzeit 45 Euro pro Tonne CO2) und steigt jährlich an. Beim ETS und ETS II wird der Preis von den Marktteilnehmern laufend ausgehandelt. Durch Hedging können sich jedoch Marktteilnehmer gegen zu hohe Preise absichern. Maßnahmen wie die Marktstabilitätsreserve schaffen auch eine Art Preiskorridor, indem die Anzahl der handelbaren Zertifikate nachjustiert wird. Flankierende nationale Klimaschutzmaßnahmen, wie z.B. das EEG, die ihrerseits den Ausbau der Erneuerbaren stärken, senken den Preis ohnehin.

Bislang gehen Abschätzungen zur Entwicklung des CO2-Preises im Gebäudebereich noch weit auseinander (vgl. Tabelle unten von FÖS). Die Spanne bis 2030 reicht von 48 bis 350 Euro pro Tonne CO2, ein Unterschied von rund 600%. Hier wird vor allem aus der Spalte „Ansatz“ klar, dass die EU-Kommission davon ausgeht, dass niedrigere CO2-Preise vor allem durch effiziente flankierende Klimaschutzmaßnahmen zustandekommen.

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Es wird auch daneben Förderungen geben, z.B. für Wärmepumpen und Dämmung. Wenn man nicht weiß, wie hoch der CO2-Preis sein wird, läuft man die Gefahr einer Unter- oder Überförderung bei solchen Maßnahmen. Befürchtet wird auch, dass es 2027 zu einem gewaltigen Preissprung beim Wechsel vom BEHG auf ETS II kommt (Agora Energiewende 2023).

Nationale CO2-Preise wie im BEHG dürfen explizit neben dem ETS II weiter bestehen (Stiftung Umweltenergierecht 2023). Diese Flexibilität eröffnet eine Chance. Es gibt aus der Wissenschaft zahlreiche Vorschläge, wie man den Emissionshandel z.B. durch Preisstabilitätsmechanismen in Richtung eines verlässlicheren CO2-Steuerkorridors gestalten könnte (vgl. z.B. Perino et al. 2021). Ein Preiskorridor entwickelt den Emissionshandel hin zu einer planbaren CO2-Steuer.

Der Vorteil ist dann, dass man auch andere effiziente Klimaschutzmaßnahmen, vor allem Förderinstrumente, nach dem CO2-Preis ausrichten oder an ihm orientieren kann. Aus Sicht des KiB e.V. kommt es ohnehin darauf an, Ordnungs-, Förder- und Bepreisungspolitik für Gebäude besser aufeinander abzustimmen:

  • Ökonomische Anreize (Bepreisung): Der Ausstoß an CO2 bzw. Treibhausgasemissionen ist bislang nicht das maßgebliche Bewertungskriterium im GEG (das Ziel ist 65% erneuerbare Wärme), sollte es aber werden.
  • Standards durch Ordnungsrecht setzen: Bei Neubauvorhaben, bei der Instandsetzung von Heizungsanlagen oder der Sanierung von Bestandsgebäuden sollten ordnungspolitische Vorgaben die CO2-Bepreisung unterstützen: z.B. Energiestandards, Auslaufpfade für fossile Anteile, Ausbaupfade für den Anteil an Erneuerbarer Wärme, oder noch besser Reduktionspfade für den Ausstoß von Treibhausgasen. Im GEG sind derzeit nur ein Betriebsverbot von Heizkesseln mit fossilen Brennstoffen ab 2045 und ein Pauschalwert von 65% erneuerbar Wärme vorgesehen.
  • Anreize durch gezielte Förderung und/oder Entlastungen gegenläufig zum Anstiegspfad des CO2-Preises setzen, wie z.B. über die BEG.

Eine politische Verständigung darüber wird allerdings nicht einfach. So würde SPD-Klimapolitiker Matthias Miersch vermutlich einen Instrumentenmix zwischen Förderung, Bepreisung und Ordnungsrecht begrüßen (FES 2020). Andere Parteien wie die FDP setzen ganz auf „harte“ Emissionsobergrenzen via Emissionshandel. Ob sie am Ende die hohen CO2-Preise eines harten Cap auch politisch durchhalten würden, kann jedoch bezweifelt werden.

Am Ende sollte also der Emissionshandel eher wie eine Steuer wirken, wenn es um die Planbarkeit geht. Auch wenn der ETS in der Politikblase sehr beliebt ist, ist der europäische Emissionshandel in seiner heutigen Form komplex und wenig transparent. Die kostenfreie Zuteilung, die Marktstabilitätsreserve, der Grenzsteuerausgleich, Strompreiskompensation, überschüssige Zertifikate u.v.m. macht den ETS zu einem für die allermeisten nicht verständlichen Instrument. Wer überschüssige Verschmutzungsrechte (Zertifikate) besitzt und aus welchem Grund auch immer verkauft (z.B. Spekulation), ist nicht öffentlich zugänglich. Und auch die genaue Ausgestaltung des Grenzausgleichs ist noch nicht abgeschlossen, wie z.B. die Frage, wie mit der Anerkennung von CO2-Preisen in Drittstaaten und deren Anrechnung auf die CBAM-Verpflichtungen umgegangen werden kann (vgl. UBA 2024).

Eine Umsteuerung vom Emissionshandel z.B. auf eine sehr viel einfachere fossile Kohlenstoffsteuer (nova institut 2021) im Rahmen des politischen Instrumentenmix zwischen Förder-, Bepreisungsmechanismen und ordnungspolitischen Vorgaben scheint jedenfalls politisch auf europäischer oder bundespolitischer Ebene längst nicht mehr durchsetzbar. Bis der EU-ETS II für die Bereiche Verkehr und Gebäude greift, sollte das Brennstoffemissionshandelsgesetz, ähnlich zu den Vorschlägen zu einer Preisstabilitätsreserve, so ausgestaltet werden, dass in Ergänzung zum EU-ETS II die CO2-Preise in einem kontinuierlich steigenden Korridor bleiben und somit planbar und verlässlich für Investitionsentscheidungen werden und nicht so stark schwanken wie beim EU-ETS I.

Letztlich bleibt die Feststellung, dass der Emissionshandel – trotz seiner Beliebtheit bei vielen Politikern und Wissenschaftlern in Europa – immer weniger das alles dominierende Instrument im Klimaschutz sein kann. Ökonomen bevorzugen solche „cap and trade“ Instrumente, weil sie in der Theorie CO2-Minderungsoptionen in der Reihenfolge ihrer Bezahlbarkeit – also effizient – abarbeiten. Die Theorie des ETS geht also davon aus, dass wir begrenzt Geld, aber genug Zeit und Ressourcen haben und das cap nur knapp genug gesetzt sein muss. Das mag Anfang der 1990er Jahre der Fall gewesen sein, doch die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2045 den Ausstoß von Treibhausgasemissionen auf Null gesenkt zu haben. Bis dahin sind es nur noch 21 Jahre. Immer mehr Autos, Fenster, Heizungen, Industrieanlagen u.v.m., die wir heute neu anschaffen, sind aber vermutlich 2045 noch im Gebrauch. Zunehmend müssen also alle Neuanschaffungen klimaneutral-ready sein. Da erscheint das Ordnungsrecht ein die CO2-Bepreisung notwendig ergänzendes Mittel – z.B. als Grenzwerte und Verbote für den Einsatz von Kühlmitteln mit hohem Treibhausgaspotential oder das Verbot im Gebäudeenergiegesetz, dass ab 2045 kein Kessel mehr mit fossilen Brennstoffen betrieben werden darf.

Weitere wertvolle Infos zum Emissionshandel finden sich in den Präsentationen der Vortragsreihe „Green Deal erklärt“ der Stiftung Umweltenergierecht unter https://stiftung-umweltenergierecht.de/vortraege-green-deal-erklaert/.

ZuverZicht: It’s a Kulturkampf, stupid!

In Berlin wird gerade viel über einen Zusammenhang zwischen Klimaschutz und dem aktuellen Rechtsruck der Wähler*innen geredet. Als Lösung wird eine sozial gerechtere Klimapolitik empfohlen. Das würde helfen, geht aber nicht weit genug. Wir müssen den Kulturkampf, der schon lange geführt wird, aufnehmen.

Ich bin 1968 in New Orleans auf die Welt gekommen. Der größte Fehler, den meine Generation gemacht hat, war der Glaube, dass Wirtschaftswachstum die Gesellschaft einen wird. Der Slogan von Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton 1992 lautete: „It‘s the economy, stupid.“

Zwölf Jahre später stellte ein Professor diese Idee in seinem Buch „What‘s the Matter with Kansas?“ (Was ist mit Kansas los?) in Frage. Warum wählten so viele Menschen aus Kansas gegen ihre eigenen (wirtschaftlichen) Interessen. Die Antwort: Sie stimmten für ihre kulturellen Interessen. Der Kulturkampf ist mittlerweile in Deutschland angekommen. Das DIW sprach 2023 in einer Studie vom „AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen.“

Dabei stimmen diese Menschen für ihre kulturellen Werte. Immer mehr Bürger suchen nach Gruppenzugehörigkeit. Die neue europäische Partei für Parteien rechts der Konservativen heißt nicht umsonst Identität und Demokratie Partei. Den Adligen hinter den Reichsbürgern fehlt es vermutlich weniger an Geld; sie wollen eine andere Kultur.

Wir leben immer isolierter. Wenn ein Pilotprojekt wie 2019 in Pforzheim Nachbarn zu Gesprächen einlädt, wird von der „Wiederentdeckung der Nachbarschaft“ gesprochen. Um die Menschen aus ihrer jeweiligen Blase zu locken, hat Zeit Online 2017 Menschen aus unterschiedlichen Lagern in der Reihe „Deutschland spricht“ zusammengebracht. Damit Wähler*innen mehr über Gruppenzugehörigkeiten hinweg miteinander reden, werden immer mehr Bürgerräte organisiert; sie bringen repräsentative Bürgergruppen zusammen, um abgestimmte Empfehlungen für die Politik zu formulieren.

Die gute Nachricht: Auch links der Rechtsradikalen stellen viele Menschen ihre kulturellen Werte über das eigene Portemonnaie. Laut einer Studie der Uni Flensburg fordern Bürgerversammlungen europaweit mehr Suffizienz von der Politik: d.h., soziale Innovationen und Verhaltensänderungen statt nur technologischer Lösungen. Wir könnten das Potenzial heben, doch Klimaschützer*innen wollen ihre Vorschläge nicht als Kulturkampf verstanden wissen. Das Klimaschutz-Lager sagt, um Greta Thunberg zu zitieren: listen to the science.

Die Rufe aus der Klimablase nach Verhaltensänderungen werden daher eher wissenschaftlich als moralisch/kulturell begründet. Außerhalb der Klimablase werden diese Rufe trotzdem teils als Angriff auf die eigene Identität wahrgenommen. Schlägt man vor, wir könnten weniger Fleisch essen, teilt sich das Publikum in zwei feindliche Lager auf. So ergeht es aktuell den Autor*innen Hedwig Richter und Bernd Ulrich mit ihrem neuen Buch „Demokratie und Revolution: Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“. Auf Amazon hat das Buch 3 Sterne von 5; drei Viertel der Bewertungen sind 5 Sterne oder 1 Stern.

Bloß den Vorwurf des Verzichts nicht erregen: Ganze Studien werden unter der Annahme verfasst, dass sich unser Verhalten nicht ändern muss. Aktuelles Beispiel: Die neue Studie zu den Kosten der Verkehrswende von Agora Verkehrswende (hierbei wärmstens empfohlen) betrachtet Szenarien mit unveränderten Mobilitäts-Kilometern. Das ist eine wertvolle Untersuchung. Sollte aber nicht immer ein Szenario dabei sein, das untersucht, wie viel Verhaltensänderungen bringen würden?

Es fehlt natürlich nicht an Studien zu Suffizienz (wir empfehlen zum Einstieg die von Negawatt). In seiner letzten Stellungnahme zum Thema Suffizienz spricht der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) von einer „Strategie des Genug“ (Suffizienz bedeutet „genug“). Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass viele Bürger*innen nicht genug haben. Sie würden also mehr Wohlstand bekommen – mehr bezahlbaren Wohnraum, mehr Freizeit, mehr Mobilität, usw. Dafür müssten vor allem die Reichen und Superreichen auf manchen Luxus verzichten (auch wenn der SRU das eher implizit als explizit sagt).

Wie diese Idee ankommt, kann man in der Sendung von Markus Lanz vom 22.5. sehen. Das Video ist hier auf Reddit zu sehen, und ab 29:18 geht es darum, aus Milliardären Millionäre zu machen. Lanz will davon nichts wissen, und fragt: Darf man dann noch Porsche fahren? Impliziert wird: Lieber Zuschauer, die Gängelung fängt oben an, kommt aber irgendwann zu euch. Unter dem Video im Subreddit „Finanzen“ (wo sich Menschen über Geld austauschen, also eher keine grüne Ecke) sind die Kommentare aber lesenswert ausgewogen.

Es gibt vielleicht mehr Unterstützung für die Idee, als man vermuten würde. Deutschland setzt sich zusammen mit Brasilien, Frankreich, Spanien und Südafrika in der G20 für eine 2%-Steuer auf das Vermögen von Superreichen ein. Die Weltbank unterstützt die Idee. Präsident Biden plante eine „Milliardärsteuer“, traf aber bald auf Widerstand.

Wir sprechen also gerne von der Energiearmut, aber weniger davon, dass manche Menschen zu viel angehäuft haben, und unsere Staatskassen leer sind: z.B. für Kitaplätze, die seit 2012 eine kommunale Pflicht sind. Und auch für den Klimaschutz. Dieses Jahr ist eine neue Denkfabrik mit dem Namen Zukunft KlimaSozial gegründet worden. Die wird gute Arbeit leisten, vor allem beim versprochenen, aber nicht gelieferten Klimageld. Greenpeace beginnt gerade eine Kampagne fürs Klimageld. Sie können hier mitmachen. Neben sollten wir aber auch die gute Arbeit von Gruppen wie Netzwerk Steuergerechtigkeit stärken. Und gibt es überhaupt Orgs, die sich vorrangig mit Verhaltensänderungen befassen?

In den nächsten Monaten wollen wir bei KiB dem Thema Suffizienz mehr nachgehen. Am 6.6. geht es los: Mein Kollege Philipp George lädt zu einem Webinar zum Thema Wohnraumsuffizienz ein. Es gibt seit Jahrzehnten immer mehr Wohnraum pro Nase, und trotzdem ist es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Wie konnte das passieren, und wie kommen da raus? Infos zur kostenlosen Veranstaltung finden sie weiter unten und hier.

So viel vorab: Wir haben selten so viel Resonanz wie bei Philipps Webinar gehabt. Seit die Einladungen verschickt wurden, haben uns Stadträte und sogar das Büro unseres Wirtschaftsministers angerufen. Alle wollen wissen, was Kommunen machen können, um mehr bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen. Vorwiegend auf Neubau zu setzen, hat das Problem nicht gelöst, sondern uns in diese Situation gebracht. Philipp hat ein paar Expert*innen gefunden, die Lösungsansätze vorstellen, um den bestehenden Wohnraum besser zu verteilen.

Welche Suffizienz-Themen sind aus Ihrer Sicht wichtig? Schreiben Sie uns doch Ihre Idee an info@klimaschutz-im-bundestag.de. Wir schauen, welche wir in den nächsten Monaten behandeln können. Und: Wie finden Sie das Wortspiel „ZuverZicht“ als Oberbegriff?

Dieser Text ist bereits lang. Später haben wir Zeit für die Frage: Was meint ihr überhaupt mit „Kulturkampf aufnehmen“?

1 Jahr Atomausstieg – Ein Blick auf den Stand der Energiewende

Der deutsche Atomausstieg hat sich letzten Monat gejährt – ein guter Anlass, auf den aktuellen Stand der Energiewende zu gucken.

Dass der Atomausstieg eine gute Entscheidung war und bleibt, liegt auf der Hand: Strom aus Atomkraft ist teuer, keineswegs klimaneutral, unflexibel, krisenanfällig, umweltschädlich und schafft neue Abhängigkeiten. Der Ausstieg spart uns eine Menge Subventionen (die französischen Atomunternehmen hatten 70 Milliarden Euro an Schulden, die durch den Staat aufgefangen werden mussteni) und hat laut Bundesnetzagentur die Strompreise nicht beeinflusstii. Weder ein Weiterbetrieb noch ein Neubau von Atomkraftwerken ist wirtschaftlich oder ökologisch sinnvoll – selbst die Betreiber haben daran kein Interesseiii. Auch EU-weit wäre ein mittelfristiger Atomausstieg sinnvoll. Der NGO-Zusammenschluss „European Environmental Bureau“ (EEB) beschreibt die Situation so: „Die bestehende Nuklearflotte kann zusammen mit den fossilen Brennstoffen aus dem Betrieb genommen werden, wobei die EU-Länder den Übergang zu einem drastisch effizienteren Energiesystem vollziehen“iv. Dieses „drastisch effizientere Energiesystem“ beruht natürlich auf erneuerbaren Energien (EE), Speichern und Flexibilisierung.

Wo stehen wir in der Energiewende?

Fragt man die Bundesregierung, läuft alles super: Letztes Jahr machten Erneuerbare das erste Mal über die Hälfte des deutschen Strommixes aus, und die Zielwerte der jährlichen gesamten Emissionsminderungen wurden übererfülltv.

Das alles stimmt zwar, beweist aber noch nicht, dass wir inzwischen ausreichenden Klimaschutz betreiben. Die relativ hohen CO2-Einsparungen wurden nicht vorwiegend durch eine gute Klimaschutzpolitik erreicht: Nur rund 15% der Emissionsminderungen sind langfristig gesichertvi. Der Rest ist auf andere Faktoren zurückzuführen. V.a. in der Industrievii, aber auch in anderen Bereichen gab es konjunkturbedingt eine geringere Energienachfrageviii. Damit sank der deutsche Strombedarf deutlich und erreichte den tiefsten Punkt seit 30 Jahrenix. Diese geringe Stromnachfrage ermöglichte auch erst den hohen Anteil der EE am Strommix. Das heißt auch, dass mit einer wirtschaftlichen Erholung der CO2-Ausstoß erstmal wieder steigen wird.

Die Prognosen, die einer Übererfüllung der Kilmaziele für 2030 vorhersagen, lesen sich laut Spiegel eher wie ein best-case-Szenariox, in dem alle (auch bisher nicht erprobte) Instrumente wirken wie geplant, in dem Förderungen einkalkuliert sind, die eigentlich schon ausgelaufen sindx, etc. Dazu kommen noch die jetzt abgeschafften Sektorziele des Klimaschutzgesetzes, die es den Problemkind-Sektoren Verkehr und Gebäude ermöglichen, Maßnahmen weiter aufzuschieben, die später unwahrscheinlicher greifen werden.

Alles in allem ist das mit dem Klimaschutz also durchmischt. Wie sieht es denn mit den einzelnen Maßnahmen im Energiesektor aus?

Ausbau der erneuerbaren Energien (EE)

Die Bundesregierung sagt selbst, dass sich die Ausbaugeschwindigkeit der EE verdreifachen muss, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollenxi. Entsprechend hat der Photovoltaik-Ausbau (14,4 GW in 2023) den bisherigen Rekord aus 2012 deutlich geknacktviii. Das kam teils durch gesetzliche Vereinfachungenxii – darunter welche zu Balkonsolarkraftwerken, wofür wir uns gemeinsam mit anderen erfolgreich stark gemacht haben (siehe https://klimaschutz-im-bundestag.de/balkonsolar/).

Anders sieht es aus bei der Windkraft: hier bleibt der Ausbau (2,9 GW Windkraft an Land in 2023) deutlich hinter dem benötigten Ausbau zurückviii. Immerhin: die Menge der Genehmigungen stieg um 75% gegenüber dem Vorjahr (jedoch nur 9% davon im Süden, wo sie dringend benötigt würdenxii). Im Bereich der Biomasse fehlt noch immer die klare Strategie, die eigentlich schon letzten Sommer hätte fertig sein sollen. Bisher wurde aber nur ein Entwurf aus dem Herbst geleaktxiii und seitdem gab es keine Neuigkeiten mehr dazu (unsere Position dazu finden Sie hier). Dafür wurde im Dezember eine Stromspeicher-Strategie des BMWK vorgelegt, die den Bau von (Groß-)Stromspeichern erleichtern sollxiv. Einige Großspeicherprojekte laufen langsam an, aber auch hier bleibt noch viel zu tun: Laut dem Fraunhofer ISE muss die Batteriespeicherkapazität bis 2030 fast ver-200-facht werdenxv. Auch das Stromnetz muss für ein erneuerbares und effektives Stromsystem dringend ausgebaut und weiterentwickelt werden.

Für all das fallen natürlich Kosten an. Vertreter der IHK beschwerte sich im März über die hohen Strom- und Gaspreise in Deutschland, für die Unternehmen verstärkt durch den Wegfall des geplanten Stromnetzentgeltzuschusses und die Abschaffung des Spitzenausgleichs bei Gaslieferungen. Die resultierende Forderung: eine schnelle Ausweitung des Stromangebots und eine Beteiligung des Bunds an den Kosten für den Stromnetzausbauxvi. Tatsächlich zahlen Verbraucher*innen in Deutschland den höchsten Strompreis in Europa, was größtenteils durch Netzentgelte und Abgaben bedingt istxvii. Atomkraft könnte hier aufgrund der hohen Kosten sowie der Verstopfung der Netze für Erneuerbare aufgrund von Inflexibilität übrigens auch nicht weiterhelfen.

Umgestaltung des Stromsystems

Abgesehen von einem konsequenten Ausbau von EE, Stromnetz und Speichern müssen wir auch über eine Anpassung des Strommarkts reden. Aktuell bezahlen Endverbraucher*innen immer gleich viel für den Strom, unabhängig davon, wann und wo sie ihn verbrauchen. Das suggeriert, dass die Verfügbarkeit konstant ist (früher war sie das vielleicht) und dass es beim „Transport“ von Strom keine Verluste und Netzengpässe gibt („Kupferplatte Deutschland“). Bei jeder anderen Ressource würde das als marktwirtschaftlicher Unsinn abgetan – wer nah an eine Ressource verbraucht, bezahlt weniger und wer dann kauft, wenn es weniger Nachfrage gibt, bezahlt auch weniger. Das lässt sich auch im Strommarkt umsetzen mit örtlich und zeitlich flexiblen Strompreisen und Netzentgeltexviii. Laut Agora Energiewende lassen sich so bis 2035 jährlich 100 TWh flexibilisieren und 4,8 Milliarden Euro einsparenviii. Erste Schritte sind hier schon getan: Mit dem Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende vom Mai 2023 sind alle Stromlieferanten ab 2025 dazu verpflichtet, auch Tarife anzubieten, die sich an den kurzfristigen Großhandelspreisen orientieren; außerdem hat der Smart-Meter-Rollout in Deutschland endlich angefangenviii. Trotzdem hinken wir im internationalen Vergleich stark hinterher: „Während etwa die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten bereits die 80 Prozent-Schwelle der Verfügbarkeit von Smart Metern bei Endkonsumenten erreicht hat, liegt die Verbreitung in Deutschland bei lediglich einem Prozent“viii.

Ausblick

Insgesamt gehen wir bei der Energiewende also schon in die richtige Richtung – nur eben deutlich zu langsam. Dass es schneller geht, wird nicht von allein kommen – es braucht weiterhin eine aktive Zivligesellschaft aus NGOs, Institutionen, sozialen Bewegungen und Einzelpersonen, die sich dafür einsetzen. Die Gegner*innen der Energiewende versuchen oft, die wahrgenommene Akzeptanz für entsprechende Maßnahmen kleinzuhalten. Daher müssen wir immer wieder die bestehende breite gesellschaftliche Unterstützung für mehr Klimaschutz sichtbar machen. Die zentrale Frage in der Energiewende ist für die allermeisten nämlich nicht das ”ob” sondern das ”wie”xix. More in Common hat dazu im Februar viele Menschen vor allem im Osten gefragt und entsprechende Empfehlungen für eine verbindende Energiewende entwickelt – Erstens muss das Vertrauen gestärkt werden, indem der Staat solide Rahmenbedingungen schafft, indem diversere Perspektiven in die Debatte eingebracht werden und indem (lokale) Vertrauensleute wie z.B. Klempner eingebunden und überzeugt werden (für die kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung haben wir genau dazu ein Projekt: https://klimaschutz-im-bundestag.de/ksse/). Zweitens braucht es die Möglichkeit für regionales Ownership – z.B. durch Optionen wie Balkonkraftwerke, Bürger*innengenossenschaften oder einfach gute und aufsuchende Beteiligungsprozesse. Gleichzeitig wünschen sich die Menschen klare Regeln – nur eben begleitet durch ermöglichende und unterstützende Maßnahmen. Drittens braucht es mehr Attraktivität der Maßnahmen durch ein sehr klares, positives Zukunftsbild, Bezahlbarkeit sowie eine Anerkennung von Problemen statt eines Schönredens.  

Zum Abschluss ein Zitat und Apell aus dem entsprechenden Impulspapier von more in commonxix:
“Allen demokratischen Akteuren sei gesagt, dass sie angesichts dieses Gestaltungs-Imperativs langfristig die Menschen nur dann überzeugen können, wenn sie allesamt starke programmatische Entwürfe entwickeln und die Klima- bzw. Energiepolitik nicht als isolierten „Zankapfel“, sondern als Querschnittsthema verstehen, das in einer größeren Erfolgs- und Zukunftsgeschichte für unser Land Platz finden muss. Schließlich ist das Thema perfekt anschlussfähig an Fragen der Daseinsvorsorge und Infrastruktur, der wirtschaftlichen Entwicklung, der sozialen Gerechtigkeit, der öffentlichen Gesundheit und vieler anderer Aspekte. Die Menschen wollen gute Vorschläge und gute Lösungen. Sie sind in ihrer Mehrzahl keine Gegnerinnen, sondern Bündnispartner (in spe) eines ganzheitlich durchdachten Klimaschutzes. Wer sie überzeugen kann, stärkt den Zusammenhalt. Und damit überdies auch noch die Demokratie im Ganzen” (Seite 14).


Quellen

[i] https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-03/atomkraft-frankreich-energieversorgung-strompreise-subventionen
[ii] https://www.zeit.de/2023/47/atomenergie-strommarkt-strompreise-import-energiewende
[iii] https://www.ardaudiothek.de/episode/hintergrund-deutschlandfunk/atomkraft-in-deutschland-eine-rueckkehr-scheint-kaum-denkbar/deutschlandfunk/13268989/
[iv] https://www.cleanenergywire.org/factsheets/qa-germanys-nuclear-exit-one-year-after
[v] https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/faq-energiewende-2067498
[vi] https://www.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2023/2023-35_DE_JAW23/A-EW_317_JAW23_WEB.pdf
[vii] https://www.spiegel.de/wissenschaft/umweltbundesamt-klimaplan-2023-ueberfuellt-schwache-konjunktur-als-grund-fuer-erfolg-a-16194290-60e2-4c55-93d4-73f31ba59599
[viii] https://www.agora-energiewende.de/publikationen/die-energiewende-in-deutschland-stand-der-dinge-2023#c709
[ix] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/164149/umfrage/netto-stromverbrauch-in-deutschland-seit-1999/
[x] https://www.spiegel.de/wissenschaft/umweltbundesamt-klimaplan-2023-ueberfuellt-schwache-konjunktur-als-grund-fuer-erfolg-a-16194290-60e2-4c55-93d4-73f31ba59599
[xi] https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/faq-energiewende-2067498
[xii] https://www.fachagentur-windenergie.de/veroeffentlichungen/ausbauentwicklung/genehmigungen/
[xiii] https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/entwurf-der-biomassestrategie-birgt-grosses-konfliktpotenzial
[xiv] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/S-T/stromspeicherstrategie-231208.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[xv] https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/energie/rekordverdaechtig-deutschland-plant-riesige-batteriegrossspeicher/
[xvi] https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/mit-dem-ende-der-ermaessigten-mehrwertsteuer-wird-gas-teurer
[xvii] https://www.rnd.de/politik/strompreise-sind-in-deutschland-im-europa-vergleich-am-hoechsten-GNCWJG7HVVHKHKPU5N6DINDY5E.html
[xviii] https://klimaschutz-im-bundestag.de/massnahmen-pakete/verursachergerechte-lokale-strompreise/
[xix] https://www.moreincommon.de/energiewende/