Am 9. September 2024 ging es um die Rechtsbereinigung. Kommunen, Unternehmen, Verbände — alle beschweren sich über die wachsende Komplexität in der Gesetzgebung. Wir gingen der Frage nach, woran das liegt, und suchen mit unseren Podiumsteilnehmern nach Lösungen:
Thomas Heilmann, Bundestagsabgeordneter für die CDU und Vorsitzender der Klimaunion. Er hat erfolgreich gegen die voreilige Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzes und erfolglos gegen die schnelle Verabschiedung des Klimaschutzgesetzes geklagt. Herr Heilmann sagte, er würde sich an den Juristenverband der CDU wenden und im bevorstehenden Hauptsacheverfahren vor dem Verfassungsgericht Vorgaben für die Politik durchzusetzen.
Andreas Grosse, Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei der Kanzlei Becker, Büttner, Held: er hat die Situation aus der Sicht eines Juristen beleuchtet und Vorschläge für eine Verbesserung gemacht.
Dabei muss zwischen Bürokratieabbau und Rechtsbereinigung unterschieden werden. Ziel ist es nicht, den Staat zu schwächen und dem Markt alles zu überlassen, sondern die Gesetze auf ein sinnvolles und handhabbares Maß zu reduzieren. Wir konzentrierten uns dabei und konkrete Beispiele aus der Energiewende und dem Klimaschutz.
Diskussionsbeitrag von Dr. Jörg Lange und Craig Morris
Im Juli entbrannte ein Streit in der FAZ. Los ging es mit einem Aufruf von 12 Ökonomen nach lokalen Strompreisen. An der schlichten Tatsache, dass der deutsche Spotmarkt in Leipzig die Physik in den Netzen nicht abbilden kann, komme man nicht vorbei.
Eine Woche danach sprachen sich allerdings 15 Verbände für die Beibehaltung der landesweiten Einheitspreiszone aus (wie z.B. in Frankreich oder Spanien). Auch der Bundesverband Erneuerbare Energien ist dafür. Die Verbände befürchten eine Abwanderung der Industrie aus hohen in niedrigere lokale Preiszonen. Beim BEE geht es um die Planbarkeit von neuen Wind- und Solarprojekten. Dennoch zeigten sich die Verbände offen für (nicht weiter definierte) lokale Preissignale unterhalb des bundesweiten Spotmarkt-Preises.
Die Idee des bereits über viele Jahre diskutierten Kapazitätsmarktes nun neu in der Kombination mit einer dezentralen Komponente ist nicht unkompliziert: Zunächst würde es in der zentralen Komponente Ausschreibungen für neue Erzeugungsanlagen (wie Gaskraftwerke) geben. Die bezuschlagten Angebote bekämen Zahlungen für die Bereitstellung von Kapazität unabhängig von der erzeugten Strommenge. Später käme die zweite Komponente hinzu: Zertifikate aus der zentralen Komponente für (dezentrale) Bilanzkreisverantwortliche (also Stromhändler und -lieferanten).
Der „kombinierte Kapazitätsmarkt“ kompensiert (so die Ansicht des BMWK) schwindendes Vertrauen in den „Energy-Only Markt“ und die CO2-Bepreisung.
Die dezentrale Komponente des kombinierten Kapazitätsmarktes delegiert die Verantwortung für die Erschließung von Flexibilitätsoption auf der Ebene der Endkunden und des Verteilnetzes auf die etwa 900 Bilanzkreisverantwortlichen. Auf den ersten Blick scheint das plausibel, weil sie über Lastgänge größerer Endkunden verfügen und bereits heute einige Akteure auf deren Lastverhalten im Sinne eines effizienter zu führenden Bilanzkreises versuchen einzuwirken.
Aber verfügen sie auch über das Wissen, wie in den Unternehmen und vor allem in Gebäuden Flexibilitätsoptionen umgesetzt werden können? Wurden die Bilanzkreisverantwortlichen gefragt, ob sie die Verantwortung und Aufgabe übernehmen wollen und können?
Zu den vielen gesetzlichen Regelungen, die heute schon nicht konsequent am Klimaschutz und einer Versorgung mit fluktuierenden Erneuerbaren ausgerichtet sind, käme ein weiteres bürokratisch aufwändiges Zertifikatesystem hinzu, dessen Folgen kaum abschätzbar sind.
Nach Ansicht von Kritikern würde ein Kapazitätsmarkt zu höheren volkswirtschaftlichen Gesamtkosten führen. Eine effizientere Alternative wird in einer „Absicherungspflicht“ (Option 1, Kap. 3.2 im Optionspapier) gesehen, wie sie in der europäischen Strommarktrichtlinie vorgegeben ist, und die dem „Strommarkt-Plus“ der Plattform klimaneutrales Stromsystem (PKNS) entspricht (connect 2024). Vereinfacht bedeutet eine Absicherungspflicht, dass Stromversorger ihre Lieferverpflichtungen zum Beispiel am Terminmarkt absichern müssen und damit eine Nachfrage von emissionsarmen Ausgleichskapazitäten auslösen, wenn gleichzeitig der CO2-Preis entsprechend hoch ist. Derzeit müssen sich Unternehmen nicht absichern und gehen bei starken Preisschwankungen am Spotmarkt große Risiken ein, die zum Konkurs führen können.
Refinanzierung der Investitionskosten von Wind- und Solarkraftwerken
Neben dem Aspekt der Versorgungssicherheit und hierzu ggf. fehlender flexibler Kapazität stellt das Optionenpapier auch vier Vorschläge bezüglich der Refinanzierung der Investitionskosten von Wind- und Solarkraftwerken zur Debatte. Alle vier vorgeschlagenen Optionen basieren, wie bisher auch auf dem gleichen Grundprinzip: der Refinanzierung von Investitionen in Solar und Windstromanlagen über den Spotmarkt und Ausgleich der Differenz zu den Kosten über den Steuerhaushalt. Aufgrund europäischer Vorgaben wird in allen Optionen ein „Rückzahlungsinstrument“ eingeführt, so dass bei hohen Erlösen am Spotmarkt ein Teil des Steuerausgleichs wieder zurückfließt.
Solarstromkraftwerke und Windkraftwerke reagieren auf das Wetter und nicht auf Preise. Sie haben so gut wie keine Grenzkosten. Ihre Refinanzierung am Grenzkostenmarkt führt bei hoher erneuerbarer Stromerzeugung zu niedrigen oder negativen Strompreisen. Mit Strom aus Solar und Windkraftwerken wird am Spotmarkt immer dann wenig Geld erlöst, wenn sie gerade viel produzieren. Alternative Vorschläge zur Refinanzierung von volatilem Sonnen- oder Windstrom werden im Strommarkt der Zukunft nicht erwähnt – es wird auch nicht begründet, warum sie verworfen wurden.
Neuhoff et al. 2024 schlagen z.B. einen Erneuerbaren Energien Pool vor, der langfristige Absicherungsverträge (PPAs) zusammenfasst, die einerseits das Investitionsrisiko von Windkraft- und Solarprojekten reduzieren und andererseits über Verträge mit Endverbrauchern diese ebenfalls gegen Preisrisiken absichern. Damit würde am Ende der erneuerbar erzeugte Strom mittel- bis langfristig ganz aus dem bisherigen Grenzkostenmarkt herausgenommen und nur noch die Residuallastkapazitäten sich an den Grenzkosten orientieren.
Es fehlt an Flexibilität
Die vor mehr als 10 Jahren geäußerten These, der Netzausbau und Residuallasterzeugung über Gasturbinen wären gegenüber einem lokalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch die weitaus kostengünstigste Lösung, stößt an seine Grenzen (These 4, 5 Agora 2013). Kosten für den Stromnetzausbau oder das Netzengpassmanagement (smard.de) und damit die Netzentgelte steigen mit noch unklarem Ausgang. Studien befürchten eine Verdopplung der Netzentgelte bis 2045 (Ruhr GmbH 2024). Die Hinweise nehmen außerdem zu, dass in einigen Fällen zusätzliche Wärmepumpen, Ladestationen und Solarstromanlagen wegen fehlender Netzkapazität nicht angeschlossen werden können. Bei bestehenden Solar- und Wind-Anlagen nehmen die Eingriffe der Netzbetreiber zu. Beispiele wie der Fall einer Metzgerei bei Freising in Bayern bleiben hoffentlich die Ausnahme. Hier wurde nicht nur die Überschusseinspeisung, sondern die gesamte Leistung der eigenen Solarstromanlage auf dem Dach der Metzgerei an vielen Stunden im Jahr auf Null heruntergefahren wird (Fernsehsendung quer vom 4.7.2024).
Der vielfach zitierte Grundsatz „So dezentral wie möglich, so zentral wie nötig“ würde hier helfen.
Lokale Signale statt immer mehr Eingriffe
Stromkunden sollten zukünftig neben der Eigenstromoptimierung auch die Netzdienlichkeit berücksichtigen können. Zu jeder Zeit sollte eine möglichst treibhausgasarme und kostengünstige Energieversorgung möglich sein. Dazu sind zwei lokale dynamische Preissignale notwendig, die Angebot von erneuerbaren Energien (EE), Residuallast (Stromlast abzüglich der Erzeugung aus Erneuerbaren) und Netzauslastung umfassen.
Das erste Signal muss die Information über Engpässe im Stromnetz enthalten. Vergleichsweise einfache mögliche Ansätze liegen vor (Zapf 2024).
Das zweite Signal muss die aktuell regional benötigte fossile Residuallast anzeigen, um danach Erzeugungsanlagen vor Ort treibhausgasarm betreiben zu können. Ein Signal dieser Art ist der bereits verfügbare regionale Grünstromindex.
Beide Signale lassen sich zu einem Signal, idealerweise zu einem Preissignal, miteinander verrechnen. Solange nur Wenige auf ein solches Signal reagieren, reichen Signale wie der Grünstromindex, die sich stündlich ändern. Am Ende der Entwicklung muss das Signal im Bereich von Sekunden zur Verfügung stehen, um überschießende Reaktionen vieler Akteure zu vermeiden. Wie eine Umsetzung in sekündlicher Auflösung erfolgen kann, zeigt das Projekt InterConnect (Walter et al. 2024).
Letztlich müssen die Regeln des Strommarktes der Zukunft abgestimmt werden auf den Instrumentenmix aus CO2-Bepreisung, Förderung von Transformation und ordnungsrechtlichen Vorgaben. Planbare hohe CO2-Preise sind notwendig, um dauerhafte Investitionen in z.B. H2-Elektrolyse und Speicherkraftwerke zu refinanzieren. Die Förderung unterstützt ihre Marktintegration, und das Ordnungsrecht gibt unflexiblen nicht regenerativen Technologien Auslaufpfade vor.
Eine effiziente Elektrifizierung kann nur gelingen, wenn die Politik mit einer modernen, grundlegenden Reform des Strommarktes (inkl. Netzentgeltreform) die geeigneten Anreize setzt, die sowohl auf der Angebots- wie auch der Nachfrageseite Flexibilitäten erzeugen, die Erzeugungskapazitäten und Netzausbau einsparen helfen.
Energiekunden sollten zukünftig ertüchtigt werden, ihr eigenes Energiemanagement leisten zu können. Neben den Kosten der Energieerzeugung sollte das Ziel auch die Minimierung der realen Kosten für Transport, Netzstabilisierung und Emissionen (Vollkosten) zur Versorgung des jeweiligen Verbrauchsorts sein.
Statt einem kombinierten Kapazitätsmarkt braucht es einfache, transparent nachvollziehbare und planbare Anreize für einen Flexibilitätsmarkt vor Ort, der auch den Aufwand für den Transport von Energie verursachergerecht refinanziert – und zwar abgestimmt auf planbare CO2-Preise.
Lokale Strompreise sind dafür ein sehr geeignetes Instrument. Sie unterstützen Planer und Projektentwickler dabei Flexibilitätsmaßnahmen auf der Erzeuger- und der Verbraucherseite auch betriebswirtschaftlich gegenüber den Investoren begründen zu können.
In dem Projekt “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchten wir untersuchen, inwiefern flexible Arbeitszeitmodelle und Mischarbeit die Attraktivität des Klimahandwerks steigern und damit neue Zielgruppen gewonnen werden können. In dem vorliegenden Text werden vor allem die Zwischenbefunde der Vorstudie thematisiert, die zur Absicherung der Forschungsfragen durchgeführt wurde.
Das wichtigste in Kürze
Flexible Arbeitszeitmodelle könnten die Arbeitskräftebasis im Klimahandwerk durch verschiedene Effekte stärken:
Ältere Beschäftigte bleiben länger im Betrieb
Die Abwanderung in andere Bereiche wird vermindert
Neue Zielgruppen werden erschlossen
Die langfristige Gesundheit der Beschäftigten verbessert sich
Der Frauenanteil steigt
Der Umstieg aus dem Büro auf die Baustelle wird erleichtert
Studierende finden einen Nebenjob
Durch Pionierbetriebe, die schon heute flexible Arbeitszeitmodelle praktizieren, könnte in den spezifischen Gewerken ein Rechtsanspruch auf Teilzeit entstehen (der zumutbar ist)
Durch die rasanten Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz steigen die Substituierbarkeitspotenziale der kaufmännischen Berufe stark an. Die Dringlichkeit, eine Strategie “Raus aus dem Büro – Rauf auf die Baustelle” zu entwickeln, wächst.
Die Umschulungspraxis der Agenturen für Arbeit ist zu sehr auf die aktuelle Situation und zu wenig auf die künftigen Bedarfe ausgerichtet
Die Teilzeitausbildung ist im Handwerk bislang ein theoretisches Konstrukt, könnte bei richtiger Umsetzung aber neue Personengruppen erschließen
Zu wenige Arbeitskräfte im Klimahandwerk sind eine ernsthafte Bedrohung für unsere (zu niedrigen) Klimaziele. Eine Studie im Auftrag des BMWK hat gezeigt, dass der Gebäudesektor deutlich zu viel CO2 emittieren wird, falls das Arbeitsangebot nicht massiv ausgeweitet wird (vgl. BMWK, 2022, S. 69). Aktuell deuten aber alle Trendindikatoren in die falsche Richtung. Das sollte bei den Entscheider*innen die Alarmglocken läuten lassen.
Die Zahl der Schulabgänger*innen ist begrenzt, und diese sind hart umkämpft. Nicht nur die akademische Laufbahn, sondern auch andere Ausbildungsberufe außerhalb des Handwerks, z.B. im kaufmännischen Bereich, steigen in der Gunst der Absolvent*innen. Und selbst die jungen Menschen, die für eine Ausbildung im Klimahandwerk gewonnen werden können, sind kein Garant für eine solide Beschäftigungsbasis. Direkt nach der Ausbildung, aber auch später während des Berufslebens kehren viele Beschäftigte dem Handwerk den Rücken. Nur ein Drittel bleibt dem Handwerk das ganze Berufsleben treu (Haverkamp, 2016, S. 11). Die Altersstruktur in vielen Gewerken des Klimahandwerks ist, vorsichtig ausgedrückt, suboptimal. Im SHK-Bereich etwa ist mehr als jeder Fünfte älter als 55 Jahre (TAG, 2022).
Das heißt, allein das aktuelle Fachkräfteniveau zu halten, ist eine immense Herausforderung. Dabei muss insgeheim der Anspruch aber lauten, die Leistungsfähigkeit des Klimahandwerks nicht nur zu erhalten, sondern zu steigern; was in logischer Konsequenz auch bedeutet, die Beschäftigungsbasis deutlich auszubauen. Aktuell befinden wir uns bei der energetischen Sanierungsrate auf einem historischen Tiefstand: 0,7% (BuVEG, 2024). Laut Studien müsste die Sanierungsrate aber mindestens auf 2% oder mehr gesteigert werden, um die selbst gesteckten Ziele der Bundesregierung zu erreichen (Ariadne, 2021).
Mit dem Forschungsvorhaben “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchte Klimaschutz im Bundestag e.V. untersuchen, mit welchen Instrumenten das Klimahandwerk an Attraktivität gewinnen und somit die Beschäftigungsbasis ausbauen und diversifizieren kann. Dabei sollen verschiedene Forschungsmethoden zum Einsatz kommen, um ein umfassendes Problemverständnis zu generieren. Auf dieser Basis können der Politik dann wissenschaftlich basierte Empfehlungen gemacht werden, um die Herausforderungen im Klimahandwerk künftig besser zu meistern. Der modulare Aufbau der Hauptstudie gliedert sich wie folgt:
Modul 1 (Qualitative Phase): 15 Interviews mit Expert*innen aus dem Klimahandwerksökosystem
Modul 2 (Quantitative Phase): Online-Befragung spezifischer Zielgruppen mit einer großen Stichprobe
Modul 3 (Reallabor): Testen von flexiblen Arbeitszeitmodellen im betrieblichen Umfeld im Klimahandwerk
Um die zugrundeliegenden Annahmen und Forschungsfragen von ENPIK zu verifizieren, haben wir im April und Mai dieses Jahres eine Vorstudie durchgeführt. In sieben halbstrukturierten Interviews haben wir Einschätzungen erhoben, um die Relevanz der Forschungsfragen zu überprüfen. Dabei haben wir uns bei den Befragten für einen Mix aus direkt Betroffenen und externen Expert*innen entschieden:
Abteilungsleiterin in einer regionalen Energieagentur
Montageleiter in einem PV-Installationsbetrieb
Folgende Erkenntnisse konnten wir im Zuge dieser Interviews gewinnen:
Flexible Arbeitszeitmodelle / Teilzeit
Der Arbeitsschutzexperte erachtet flexible Arbeitsmodelle als wichtig, um Menschen für das Klimahandwerk zu aktivieren, die aus gesundheitlichen oder privaten Gründen keine klassische 40-Stunden-Woche arbeiten können. Er sieht in dieser Hinsicht noch ungehobene Potenziale im Handwerk. Ebenso sind Teilzeitmodelle ein wichtiger Baustein, um ältere Beschäftigte länger im Betrieb zu halten. Gleichzeitig betont er, dass die Möglichkeit, in Teilzeit zu wechseln, früh in der Erwerbsbiographie angeboten werden sollte, weil sie auch dazu beiträgt, übermäßigen körperlichen Verschleiß zu vermeiden und so die langfristige Gesundheit der Beschäftigten unterstützt.
Auf der Grafik ist die Rate der Erwerbsminderungsrente nach Beruf abgebildet (Statista, 2011). Diese Zahl gibt an, wie viel Prozent der Beschäftigten vor Erreichen des regulären Renteneintrittsalters ihren Beruf nicht mehr ausführen können und ist damit ein guter Indikator für körperlichen Verschleiß. Es ist erschreckend zu sehen, dass es im Gerüstbau eher die Regel als die Ausnahme ist, dass Beschäftigte von der Erwerbsminderungsrente Gebrauch machen müssen. Auf dem Diagramm ist ebenfalls zu erkennen, dass von den 10 Berufen mit dem höchsten körperlichen Verschleiß 7 zum Klimahandwerk gehören.
Der befragte Geschäftsführer und der Montageleiter arbeiten in demselben PV-Installationsbetrieb. In diesem wurde der Umgang mit flexiblen Arbeitsmodellen bereits normalisiert. Sie berichten, dass 80% – 90% der Monteur*innen in Teilzeit arbeiten. Zwei Tage die Woche hält der Geschäftsführer für organisatorisch schwer handelbar (wird aber von zwei Monteur*innen praktiziert), drei Tage die Woche sind akzeptiert und vier Tage die Woche der Standard. Arbeitswillige Monteur*innen können auch eine klassische Fünf-Tage-Woche arbeiten. Der Betrieb zeigt nahezu mustergültig, dass eine X-Tage-Woche auch im handwerklichen Bereich, genauer gesagt im PV-Installationshandwerk, möglich ist. Solche Betriebe können eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie die gesamte Branche in Zukunft mit flexiblen Arbeitsmodellen umgeht. Und das nicht nur auf einer kommunikativen, sondern auch auf einer juristischen Ebene. Nach § 8 TzBfG haben schon heute alle Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitenden das Recht, in Teilzeit zu wechseln, falls keine wichtigen Gründe dagegen sprechen. Handwerksbetriebe könnten in der Vergangenheit argumentiert haben, dass eine X-Tage-Woche nicht in die betrieblichen Abläufe passt oder zu erhöhten Kosten führt. Wenn aber mehr Betriebe zeigen, dass eine Einsatzplanung auch mit einer Drei- bzw. Vier-Tage-Woche möglich ist, könnte das Gerichte in Zukunft dazu bewegen, zumindest im PV-Installationshandwerk davon auszugehen, dass diese Arbeitsmodelle zumutbar sind und damit ein Rechtsanspruch seitens der Beschäftigten besteht. Die Angst vor flexiblen Arbeitsmodellen ist aber unbegründet: Der Geschäftsführer berichtet, dass sehr viele Menschen bei ihm arbeiten möchten und sein Betrieb deswegen Wartelisten führt. Außerdem seien auch alle Stellen der Elektriker*innen besetzt, was keine Selbstverständlichkeit ist und er neben den flexiblen Arbeitszeiten auf das gute Betriebsklima zurückführt.
Mischarbeit
Unisono gab es eine breite Zustimmung zur Mischarbeit, die wir als Kombination einer Büro- und einer handwerklichen Tätigkeit definieren. Der potenzielle Quereinsteiger gibt an, dass er sich vorstellen kann, 10-20 Stunden pro Woche im Klimahandwerk neben einer Bürotätigkeit zu arbeiten. Die Abteilungsleiterin (Energieagentur) weist darauf hin, dass dieses Modell sehr vielen Menschen entgegenkommen würde und dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, z.B. bei der digitalen Einsatzplanung oder bei der kontaktlosen Baustellenübergabe. Auch der PV-Geschäftsführer ist von der Idee überzeugt und sieht darin auch einen Beitrag im Kampf gegen Zivilisationskrankheiten, die in vielen Fällen durch Bewegungsmangel begünstigt werden. Für die SHK-Auszubildende wäre das Modell auch sehr attraktiv, weil es eine größere inhaltliche Abwechslung verspricht.
Substituierbarkeitspotenziale
In der Vorstudie wurde auch abgefragt, welche Bedeutung Generative Künstliche Intelligenz (wie z.B. ChatGPT) für den Arbeitsmarkt hat. Der potenzielle Quereinsteiger, der zurzeit als Projektassistent, also in einer kaufmännischen Rolle, tätig ist, hat angegeben, dass 10-15 % seiner Arbeit durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt werden könnten. Nach Beschreibung seiner Tätigkeit und Abgleich mit den Substituierbarkeitspotenzialen, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnet hat, scheint das deutlich zu niedrig. Das IAB geht im Bereich der kaufmännischen Berufe inzwischen von einem Substituierbarkeitspotenzial von 69 % aus (IAB, 2024). Bis auf den Experten für Arbeitsschutz wurde das Disruptionspotenzial durch KI für den Arbeitsmarkt von den Befragten unterschätzt. In den aktuellen Entwicklungen liegt aber ein großes Potenzial: Während in absehbarer Zeit mehr und mehr Geschäftsprozesse und Bürotätigkeiten automatisiert werden können, werden im Klimahandwerk händeringend Arbeitskräfte gesucht. Der Weg „raus aus dem Büro – rauf auf die Baustelle“ ist heutzutage noch nicht exploriert, könnte aber große gesellschaftliche Probleme angehen. Falls im kaufmännischen Bereich viele Menschen durch Produktivitätsfortschritte nicht mehr gebraucht werden, scheint es keine sinnvolle Option, diese Menschen in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden. Vielmehr muss es Aufgabe der Politik und Verwaltung sein, diese Menschen zu einem neuen Tätigkeitsfeld zu lotsen.
Umschulungen
In den Interviews haben die Abteilungsleiterin (Energieagentur) und der Arbeitsschutzexperte unterstrichen, dass die Bedeutung von Umschulungen stark zunehmen wird. Diese Einschätzung deckt sich mit einer Arbeit aus den USA: Ellingrud et al. haben für den US-Arbeitsmarkt errechnet, dass es bis 2030 12 Millionen Umschulungen bräuchte, um den veränderten Erfordernissen durch u.a. Digitalisierung gerecht zu werden (Ellingrud et al., 2023). Heruntergerechnet auf die deutschen Verhältnisse würde das 435.000 Umschulungen pro Jahr entsprechen. Das wäre eine Steigerung um den Faktor 9 gegenüber dem heutigen Niveau von 50.000 Umschulungen pro Jahr (Arbeitsmarkt News, 2019). In diesem Kontext sollte ebenfalls die Förderpraxis der Agenturen für Arbeit auf den Prüfstand. Falls sich heute ein Beschäftigter mit kaufmännischer Ausbildung mit der Umschulungsabsicht in einen handwerklichen Beruf an eine Agentur für Arbeit wendet, wird dieses Gesuch in aller Regel mit der Begründung abgelehnt, dass in dem erlernten Beruf heute immer noch eine Stelle gefunden werden kann. Dies lässt aber die Entwicklungen durch Fortschritte in der künstlichen Intelligenz (vgl. Substituierbarkeitspotenziale) und die akute Arbeitsmarktsituation für die Klimahandwerksberufe außer Acht und kann damit zumindest als kurzsichtig beurteilt werden. Der gesetzliche Rahmen ließe auch schon heute die Förderung derartiger Umschulungen zu (vgl. § 81 SGB III). Hier ist also vor allem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefragt, die Förderpraxis seiner Behörden gemäß den aktuellen und künftigen Herausforderungen anzupassen.
Auch sollten neue Umschulungsinstrumente in den Blick genommen werden. Sogenannte Teilqualifizierungen (TQ) erlauben es den Arbeitnehmer*innen, in kurzer Zeit in eine neue Berufssparte einzusteigen. Dabei wird das Ausbildungsprogramm in 5-7 Module unterteilt (Bundesagentur für Arbeit, n.d.). Schon nach der ersten TQ kann der Start in ein neues Berufsleben gelingen. Über die Zeit können die restlichen TQs durchgeführt und nach Absolvierung der „externen Prüfung“ ein vollwertiger Berufsabschluss erworben werden. Daneben gibt es Kurzschulungen, die in kurzer Zeit für spezifische Aufgaben qualifizieren. Ein Bildungsanbieter aus Plochingen bietet z.B. einen zweiwöchigen Kurs an, der für die PV-Dachmontage (DC-Seite) qualifiziert (Energieheldem Academy, n.d.). In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls untersucht werden, wie eine Berufsausbildung, Teilqualifizierung oder Kurzschulung in Teilzeit bzw. halbtags gelingen kann. Obwohl es dafür einen gesetzlichen Rahmen gibt, kommen diese Modelle in der Praxis im Klimahandwerk so gut wie nicht vor (§27 b Handwerksordnung). Inwiefern dies im Rahmen des ENPIK-Projekts beleuchtet werden kann, ist zurzeit noch unklar.
Andere Attraktionsfaktoren
Wie oben gezeigt, spielen flexible Arbeitszeitmodelle eine zentrale Rolle; sie alleine werden das Klimahandwerk aber nicht retten. In den Interviews haben sich weitere Attraktionsfaktoren herauskristallisiert, die für die (potenziellen) Beschäftigten einen hohen Stellenwert haben:
Fairer Lohn
Guter Umgangston
Vertrauen der Vorgesetzten
Arbeitsschutz
Selbstbestimmtes Arbeitstempo
Gutes Werkzeug / gute Ausstattung
Daher ist uns die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen sehr wichtig, die in einem dieser Punkte bereits Erfahrung gesammelt und Expertise aufgebaut haben. Nach wie vor ist der Lohn ein ganz wesentlicher Faktor bei der Berufswahl. Hier kann die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften sehr sinnvoll sein. In der Vergangenheit hatten die Arbeitnehmer*innen im Klimahandwerk (mit Ausnahme der Elektriker*innen) große Schwierigkeiten, gute Löhne durchzusetzen. Im Schnitt verdient man mit der gleichen Qualifikation im Handwerk 1000 Euro weniger als in der Industrie (Frankfurter Rundschau, 2019). Trotz der sehr harten Arbeit und dem großen Lohnabstand mahnen Arbeitgeber*innen aber zu Lohndisziplin, weil aktuell die Baukosten explodieren. Dies hat aber multiple Gründe (Inflation, hohe Zinsen, hohe Preise für Baustoffe). Nun zu versuchen, die Baukosten ausgerechnet durch Lohnverzicht bei den Beschäftigten zu begrenzen, ist der falsche Ansatz. Gute und flächendeckende Tarifverträge hingegen können dazu führen, dass sich das Lohnniveau eines Gewerks verbessert, Lohndumping vermieden und dadurch mehr Arbeitskräfte angelockt werden können. Auch der Arbeitsschutzexperte betont, dass Tarifverträge in puncto Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz Vorteile für die Beschäftigten bieten. Um im Bausektor Kosten zu sparen, sollte vielmehr auf Umbau/Sanierung statt auf Neubau gesetzt werden (vgl. unsere Veranstaltung zu Wohnraumsuffizienz).
Bei dem vorliegenden Projekt soll nicht der Eindruck entstehen, dass Arbeitszeiten der alleinig entscheidende Faktor bei der Berufswahl ist. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel von einer ganzen Reihe von Faktoren. Im Zuge des ENPIK-Projekts werden wir durch Abfrage bei den Zielgruppen eine sogenannte Präferenzordnung erstellen, die darlegt, welchen Stellenwert “flexible Arbeitszeit” im Vergleich zu anderen Arbeitsbedingungen einnimmt.
Ausblick
Wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, können alle betroffenen Gruppen und die gesamte Gesellschaft von den Umbrüchen profitieren. Dafür braucht es aber gesicherte Erkenntnisse über die Arbeitszeitpräferenzen der Menschen, die heute noch nicht im Klimahandwerk arbeiten, in Zukunft aber einsteigen könnten. Des Weiteren braucht es Erkenntnisse darüber, ob und wie diese Arbeitszeitpräferenzen in die betrieblichen Abläufe integriert werden könnten. Das vorliegende Projekt kann in diesen Fragestellungen wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse generieren und diese der Öffentlichkeit, aber auch insbesondere den Entscheider*innen im Klimahandwerk und der Politik zur Verfügung stellen. Dies ermöglicht früh und evidenzbasiert Entscheidungen zu treffen, die für mehr gesellschaftliche Resilienz sorgen. Dass die Forschungshypothesen eine Relevanz besitzen, wurde durch die Vorstudie bestätigt. Deshalb bemühen wir uns weiter um Fördermittel und rechnen mit einem Projektstart Anfang 2025.
Kurzdarstellung der Analyse von unserem Beirat Dr. M. Seelmann-Eggebert.
Die Residuallast (Strom) ist definiert als die verbleibende Stromlast nach Abzug der aktuellen Leistung der nicht regelbaren erneuerbaren Energien (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse) von der aktuellen Gesamtlast (Stromverbrauch).
Die Bundesregierung hat das Ziel bis zum Jahr 2030 etwa 80% des Bruttostromverbrauchs im Jahresdurchschnitt durch Erneuerbare Energien zu decken. Bei der Bilanzierung bleibt unberücksichtigt, dass auf Grund der Schwankungen (der sog. Volatilität) von Wind- und Sonnenstrom ein großer Teil des Stroms keine Verwendung findet, weil er zu falschen Zeiten produziert wird. Da im Stromnetz zu jedem Zeitpunkt ein Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch herrschen muss, wird dieser Strom heute noch weitgehend abgeregelt. Man bezeichnet dies auch als negative Residuallast.
Zu anderen Zeiten reicht das Angebot an Erneuerbarer Energie nicht zur Deckung des Strombedarfs aus und entsprechend muss das Defizit z.B. durch konventionelle Kraftwerke gedeckt werden, die sog. Positive Residuallast.
Die Residualleistung ist über das Jahr sehr unterschiedlich verteilt, abhängig vom Dargebot von den Erneuerbaren, vor allem Sonne und Windstrom. Die vorliegende statistisch mathematische Analyse der Residuallast von Seelmann-Eggebert (2024) untersucht, wieviel Erneuerbaren Strom und welche Speichererfordernisse erforderlich sind, um die Residuallast zu decken. Sie unterteilt die Residuallast dazu in zwei Anteile:
den „Interdies“-Anteil, der die Bilanz aus Tagesertrag und Tagesverbrauch widerspiegelt und die saisonale Abhängigkeit einschließt, sowie
den „Intradiem“-Anteil, der alle Tageszeiten mit Unterdeckung aufsummiert.
Unter der Vereinfachung, dass übers Jahr genauso viel Strom aus Erneuerbaren erzeugt wie verbraucht wird und sich die Tagesverbräuche relativ gleichmäßig über das Jahr verteilen, ergibt sich folgendes Bild.
Wann immer der Tagesertrag einer Solaranlage den Tagesverbrauch übersteigt, kann der Intradiem-Anteil der Residuallast z.B. vollständig durch Batteriespeicher ausgeglichen werden. Pro kWp installierte Leistung Solar ist dabei eine Kurzzeitspeicherkapazität von etwa 1,5 kWh notwendig.
Werden bei einer reinen Versorgung mit Solarstrom keinerlei Speicher oder Maßnahmen zur Lastverschiebung eingesetzt, so beträgt die Residuallast wegen dem großen Intradiem-Anteil bei bilanziell ausgeglichener Jahresversorgung mehr als 60%. Kurzzeitspeicher sind in der Lage unter anderem die Nachtlücke auszugleichen und damit den nutzbaren Solarstrom zu verdoppeln!
Da der Wind auch nachts weht, zeigt Windstrom im Gegensatz zum Solarstrom durchschnittlich keine Korrelation mit der Tageszeit und lediglich schwache saisonale Tendenzen. Grundsätzlich entstehen Unterdeckungssituationen Intradiem in deutlich geringerem Umfang. Bei einer reinen Windkraftversorgung, bei der in der Jahresbilanz genauso viel Windstrom erzeugt wie durch Lasten verbraucht wird, beträgt die Intradiem-Residuallast durchschnittlich etwa 7% und kann schon durch Batterien mit 10% bis 20% Kapazität einer durchschnittlichen Tageslast durchweg überbrückt werden. Überraschenderweise ist die Interdies-Residuallast von Windkraft ähnlich hoch wie bei der Photovoltaik. Auch hier können mehr als 30% des Stroms nicht direkt genutzt werden.
Ein selbstversorgendes System muss hinreichend Überschuss für die Produktion von synthetischem Brennstoff für Residuallastkraftwerke produzieren. Abhängig vom Wirkungsgrad für Rückverstromung gibt es einen Minimalwert für den notwendige Überschuss, um über einen Langzeitspeicher (wie z.B. eine Wasserstofferzeugung mit Rückverstromung) die Interdies-Residuallast zu decken. Dieser Minimalwert beträgt ein Vielfaches der Interdies-Residuallast.
Rechenbeispiel: Wieviel Erneuerbaren Strom braucht es, um die Residuallast vollständig über Kurz- und Langzeitspeicher zu decken?
Unter der vereinfachten Annahme, dass sich die Tagesverbräuche relativ gleichmäßig über das Jahr verteilen, braucht es zur Abdeckung eines Strombedarf von z.B. 750 TWh (100%) eine Ertragsmenge von 1014 TWh (135%) aus Windkraft und Sonnenstrom. Dabei können statistisch etwa 662 TWh des Stroms direkt oder über einen Kurzzeitspeicher (Batterie etc.) genutzt werden, der die Tagesschwankungen ausgleicht. Etwa 351 TWh (47%) des Stroms fallen statistisch zu Zeiten an, in denen er nicht genutzt werden kann
Die gesamte Analyse von unserem Beirat Diplom-Physiker Dr. M. Seelmann-Eggebert findet sich hier.
Beitrag zur Eignung der Energieträger Wasserstoff, Methan, Methanol und Ammoniak als saisonale chemische Energiespeicher von unserem Beirat M. Seelmann-Eggebert
Ein grundsätzliches Problem bei der Nutzung von Wasserstoff und daraus abgeleiteter sekundärer Energieträger zur Rückverstromung, liegt darin, dass zur elektrolytischen Herstellung als Energie der Brennwert aufgebracht werden muss, während in konventionellen Kraftwerken lediglich der Heizwert genutzt werden kann. Hierdurch reduziert sich in Kraftwerken, deren Wirkungsgrade üblicherweise in Bezug auf den Heizwert angegeben werden, die nutzbare Energie auf 85%. Brennstoffzellen basieren hingegen auf einer wässrigen Lösung, so dass dieses Problem für sie bei der Rückverstromung nicht existiert. Bei Blockheizkraftwerken lässt sich die Kondensationswärme zumindest thermisch nutzen.
Die untersuchten sekundären Energieträger werden alle in Formierungsreaktionen hergestellt, die exotherm verlaufen. Diese Energie steht für die eigentliche Verbrennungsreaktion nicht mehr zur Verfügung. Der damit verbundene (weitere) Energieverlust fällt für Methanol mit 12% am geringsten und für Methan mit 17% am höchsten aus (siehe Tabelle). Dieser Verlust besteht bei direkter Verwendung von Wasserstoff als Brennstoff nicht.
Wasserstoff, Methan und Ammoniak sind Gase, welche in Gasnetzen transportiert werden können. Für Methan kann das bestehende Erdgasnetz direkt weiterverwendet werden. Für Wasserstoff sind zur Vermeidung von Leckage umfängliche Nachbesserungen oder Neuverlegungen vorzunehmen.
Nutzbarkeit bezogen auf
Heizwert
Brennwert
Wasserstoff H2
100%
85%
Methan (CH4)
83%
70%
Methanol (CH3OH)
88%
75%
Ammoniak (NH3)
87%
74%
Tabelle zu Heiz- und Brennwerten verschiedener Energieträger bezogen auf Wasserstoff. Zur elektrolytischen Herstellung muss der Brennwert von 7,09 kWh pro Normkubikmeter eingesetzt werden. Als Energieinhalt von Wasserstoff wird der Heizwert angegeben.
Für einen Transport auf Schiffen ist eine hohe Dichte des Energieträgers erforderlich. Gasförmige Substanzen sind daher unter sehr hohem Druck zu verdichten oder durch Abkühlen zu verflüssigen. Der Kühlaufwand ist dabei für Wasserstoff mit Abstand am höchsten. Der Transport von Methan als LNG ist bereits großtechnisch üblich, aber ebenfalls aufwendig. Ammoniak wird hingegen schon bei relativ hohen Temperaturen flüssig und ist in dieser Form gut zu transportieren. Methanol ist indessen schon bei Zimmertemperatur flüssig, so dass mit diesem Stoff ein Raumproblem weder für den Transport noch für die Speicherung besteht.
Für die Speicherung von Erdgas existieren in Deutschland große Kavernenspeicher, die unverändert für Methan genutzt werden können. Für Methan ergibt sich eine nominelle Speicherkapazität von 246 TWh, die in einer treibhausgasneutralen Wirtschaft als saisonaler Speicher ausreichen dürfte. Theoretisch könnten die Kavernenspeicher auch für Wasserstoff genutzt werden, ein Praxistest steht aber noch aus. Wegen der geringen Energiedichte würde der vorhandene Speicher mit Wasserstoff aber nur für 74 TWh ausreichen. Diese Kapazität ist für einen saisonalen Speicher sehr wahrscheinlich zu gering. Dasselbe gilt für Ammoniak, das nur eine unwesentlich höhere Energiedichte als Wasserstoff hat.
Eine Energiewirtschaft, die auf Wasserstoff oder Ammoniak basiert, ist treibhausgasneutral, da bei der Verbrennung lediglich Wasser produziert wird. Bei der Verwendung von Methan, Methanol oder andere synthetische kohlenstoffbasierte Energieträger wie Kerosin muss sichergestellt sein, dass das zur Synthese verwendete Kohlendioxid aus einem zyklischen Kreislauf stammt. Dies kann entweder durch aufwendige Rückgewinnung von CO2 aus der Atmosphäre oder den Ozeanen oder durch eine dem Verbrennungsprozess direkt nachgelagerte Abscheidung erreicht werden.
Bis zur Wiederverwendung muss das abgeschiedene CO2 allerdings vor Ort gelagert und/oder zu einer Lagerstätte transportiert werden. Eine treibhausgasneutrale Energiewirtschaft muss zu diesem Zweck für diesen Hilfsstoff zur Herstellung des sekundären Energieträgers eine zusätzliche umfängliche Infrastruktur schaffen. Hier ist grüner Ammoniak im Vorteil, denn Ammoniak bedient sich des Hilfsstoffs Stickstoff, der über die Atmosphäre direkt und jederzeit zur Verfügung steht.
Mit der Anwendung der Elektrolyse steht reiner Sauerstoff im großen Maßstab zur Verfügung. Dies ermöglicht den wirtschaftlichen Betrieb von Kraftwerken mit dem Oxyfuel Prinzip und damit die Abscheidung von Kohlendioxid.
Elektrolyse, Formierungsanlage und Kraftwerk sollten künftig als Gesamtheit und in Verbindung mit Speichermöglichkeiten für die verwendeten chemischen Stoffe konzipiert werden. Dies hat den Vorteil, dass Wasserstoff und Sauerstoff direkt vor Ort weiterverarbeitet werden können. Da beim Betrieb jeder dieser Anlagen große Mengen an Abwärme anfallen, sollten sie an den Einspeisepunkten von Wärmenetzen platziert werden. Zusammenfassend sprechen viele Argumente für die Verwendung von Methan oder Methanol als Energieträger an Stelle von Wasserstoff. Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, umfassende Investitionen für eine CO2-Infrastruktur zu tätigen. Netzausbau und Speicheraufbau sind hingegen auch beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in ähnlichem, wenn nicht höherem Umfang erforderlich.
Bis heute hätte die Bundesregierung die Emissionshandelsrichtlinie in nationales Recht umsetzen. Was jetzt geschehen muss, beschreiben Dr. Jörg Lange und Craig Morris.
Seit 2021 belegt das Bundesemissionshandelsgesetz (BEHG) die Inverkehrbringer von fossilen Energien in den Sektoren Wärme und Verkehr mit einem CO2-Preis. Mit dem ETS II wird ähnlich dem BEHG nun ab 2027 Wärme und Verkehr ein zweiter Emissionshandel parallel zum Emissionshandelssystem (ETS I) der EU entstehen, das seit 2005 Emissionszertifikate in den Sektoren Strom und Industrie ausgibt.
Bisher sind viele davon ausgegangen, dass das deutsche BEHG vom ETS II abgelöst wird. Doch es kommt darauf an, wie die nationale Umsetzung des ETS II in Deutschland aussieht. Ein Unterschied zwischen dem BEHG und dem ETS II ist die anfängliche Festsetzung des Preises für CO2. Beim BEHG wird der Preis für einen Zeitraum festgelegt (derzeit 45 Euro pro Tonne CO2) und steigt jährlich an. Beim ETS und ETS II wird der Preis von den Marktteilnehmern laufend ausgehandelt. Durch Hedging können sich jedoch Marktteilnehmer gegen zu hohe Preise absichern. Maßnahmen wie die Marktstabilitätsreserve schaffen auch eine Art Preiskorridor, indem die Anzahl der handelbaren Zertifikate nachjustiert wird. Flankierende nationale Klimaschutzmaßnahmen, wie z.B. das EEG, die ihrerseits den Ausbau der Erneuerbaren stärken, senken den Preis ohnehin.
Bislang gehen Abschätzungen zur Entwicklung des CO2-Preises im Gebäudebereich noch weit auseinander (vgl. Tabelle unten von FÖS). Die Spanne bis 2030 reicht von 48 bis 350 Euro pro Tonne CO2, ein Unterschied von rund 600%. Hier wird vor allem aus der Spalte „Ansatz“ klar, dass die EU-Kommission davon ausgeht, dass niedrigere CO2-Preise vor allem durch effiziente flankierende Klimaschutzmaßnahmen zustandekommen.
Es wird auch daneben Förderungen geben, z.B. für Wärmepumpen und Dämmung. Wenn man nicht weiß, wie hoch der CO2-Preis sein wird, läuft man die Gefahr einer Unter- oder Überförderung bei solchen Maßnahmen. Befürchtet wird auch, dass es 2027 zu einem gewaltigen Preissprung beim Wechsel vom BEHG auf ETS II kommt (Agora Energiewende 2023).
Nationale CO2-Preise wie im BEHG dürfen explizit neben dem ETS II weiter bestehen (Stiftung Umweltenergierecht 2023). Diese Flexibilität eröffnet eine Chance. Es gibt aus der Wissenschaft zahlreiche Vorschläge, wie man den Emissionshandel z.B. durch Preisstabilitätsmechanismen in Richtung eines verlässlicheren CO2-Steuerkorridors gestalten könnte (vgl. z.B. Perino et al. 2021). Ein Preiskorridor entwickelt den Emissionshandel hin zu einer planbaren CO2-Steuer.
Der Vorteil ist dann, dass man auch andere effiziente Klimaschutzmaßnahmen, vor allem Förderinstrumente, nach dem CO2-Preis ausrichten oder an ihm orientieren kann. Aus Sicht des KiB e.V. kommt es ohnehin darauf an, Ordnungs-, Förder- und Bepreisungspolitik für Gebäude besser aufeinander abzustimmen:
Ökonomische Anreize (Bepreisung): Der Ausstoß an CO2 bzw. Treibhausgasemissionen ist bislang nicht das maßgebliche Bewertungskriterium im GEG (das Ziel ist 65% erneuerbare Wärme), sollte es aber werden.
Standards durch Ordnungsrecht setzen: Bei Neubauvorhaben, bei der Instandsetzung von Heizungsanlagen oder der Sanierung von Bestandsgebäuden sollten ordnungspolitische Vorgaben die CO2-Bepreisung unterstützen: z.B. Energiestandards, Auslaufpfade für fossile Anteile, Ausbaupfade für den Anteil an Erneuerbarer Wärme, oder noch besser Reduktionspfade für den Ausstoß von Treibhausgasen. Im GEG sind derzeit nur ein Betriebsverbot von Heizkesseln mit fossilen Brennstoffen ab 2045 und ein Pauschalwert von 65% erneuerbar Wärme vorgesehen.
Anreize durch gezielte Förderung und/oder Entlastungen gegenläufig zum Anstiegspfad des CO2-Preises setzen, wie z.B. über die BEG.
Eine politische Verständigung darüber wird allerdings nicht einfach. So würde SPD-Klimapolitiker Matthias Miersch vermutlich einen Instrumentenmix zwischen Förderung, Bepreisung und Ordnungsrecht begrüßen (FES 2020). Andere Parteien wie die FDP setzen ganz auf „harte“ Emissionsobergrenzen via Emissionshandel. Ob sie am Ende die hohen CO2-Preise eines harten Cap auch politisch durchhalten würden, kann jedoch bezweifelt werden.
Am Ende sollte also der Emissionshandel eher wie eine Steuer wirken, wenn es um die Planbarkeit geht. Auch wenn der ETS in der Politikblase sehr beliebt ist, ist der europäische Emissionshandel in seiner heutigen Form komplex und wenig transparent. Die kostenfreie Zuteilung, die Marktstabilitätsreserve, der Grenzsteuerausgleich, Strompreiskompensation, überschüssige Zertifikate u.v.m. macht den ETS zu einem für die allermeisten nicht verständlichen Instrument. Wer überschüssige Verschmutzungsrechte (Zertifikate) besitzt und aus welchem Grund auch immer verkauft (z.B. Spekulation), ist nicht öffentlich zugänglich. Und auch die genaue Ausgestaltung des Grenzausgleichs ist noch nicht abgeschlossen, wie z.B. die Frage, wie mit der Anerkennung von CO2-Preisen in Drittstaaten und deren Anrechnung auf die CBAM-Verpflichtungen umgegangen werden kann (vgl. UBA 2024).
Eine Umsteuerung vom Emissionshandel z.B. auf eine sehr viel einfachere fossile Kohlenstoffsteuer (nova institut 2021) im Rahmen des politischen Instrumentenmix zwischen Förder-, Bepreisungsmechanismen und ordnungspolitischen Vorgaben scheint jedenfalls politisch auf europäischer oder bundespolitischer Ebene längst nicht mehr durchsetzbar. Bis der EU-ETS II für die Bereiche Verkehr und Gebäude greift, sollte das Brennstoffemissionshandelsgesetz, ähnlich zu den Vorschlägen zu einer Preisstabilitätsreserve, so ausgestaltet werden, dass in Ergänzung zum EU-ETS II die CO2-Preise in einem kontinuierlich steigenden Korridor bleiben und somit planbar und verlässlich für Investitionsentscheidungen werden und nicht so stark schwanken wie beim EU-ETS I.
Letztlich bleibt die Feststellung, dass der Emissionshandel – trotz seiner Beliebtheit bei vielen Politikern und Wissenschaftlern in Europa – immer weniger das alles dominierende Instrument im Klimaschutz sein kann. Ökonomen bevorzugen solche „cap and trade“ Instrumente, weil sie in der Theorie CO2-Minderungsoptionen in der Reihenfolge ihrer Bezahlbarkeit – also effizient – abarbeiten. Die Theorie des ETS geht also davon aus, dass wir begrenzt Geld, aber genug Zeit und Ressourcen haben und das cap nur knapp genug gesetzt sein muss. Das mag Anfang der 1990er Jahre der Fall gewesen sein, doch die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2045 den Ausstoß von Treibhausgasemissionen auf Null gesenkt zu haben. Bis dahin sind es nur noch 21 Jahre. Immer mehr Autos, Fenster, Heizungen, Industrieanlagen u.v.m., die wir heute neu anschaffen, sind aber vermutlich 2045 noch im Gebrauch. Zunehmend müssen also alle Neuanschaffungen klimaneutral-ready sein. Da erscheint das Ordnungsrecht ein die CO2-Bepreisung notwendig ergänzendes Mittel – z.B. als Grenzwerte und Verbote für den Einsatz von Kühlmitteln mit hohem Treibhausgaspotential oder das Verbot im Gebäudeenergiegesetz, dass ab 2045 kein Kessel mehr mit fossilen Brennstoffen betrieben werden darf.
Weitere wertvolle Infos zum Emissionshandel finden sich in den Präsentationen der Vortragsreihe „Green Deal erklärt“ der Stiftung Umweltenergierecht unter https://stiftung-umweltenergierecht.de/vortraege-green-deal-erklaert/.
Seit den 50er Jahren wächst die Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland kontinuierlich. Gleichzeitig erleben wir, dass immer mehr Menschen in zu kleinen oder zu großen Wohnungen leben – ein klarer Hinweis darauf, dass unser Wohnraum zunehmend schlecht verteilt ist. Dies wirft die Frage auf: Haben wir genug Wohnraum, der nur ineffizient genutzt wird? In unserer Online-Podiumsdiskussion werden wir tiefgehend erörtern, welche Chancen darin liegen, den Wohnungsmarkt stärker bedarfs- und weniger finanzorientiert zu gestalten. Wir diskutieren mögliche Lösungsansätze und Instrumente wie:
Die in der Schweiz bei Genossenschaften und kommunalen Wohnungsunternehmen praktizierte n+1 Regel, die eine Obergrenze für die Zimmeranzahl in Relation zur Haushaltsgröße setzt.
Eine Wohnraumsteuer, die Wohnflächen z.B. über 50 qm pro Person besteuert.
Kommunale Dienstleistungen wie Umzugsboni, Beratung, Tauschbörsen etc.
Diese Maßnahmen könnten dazu beitragen, den Wohnraum gerechter zu verteilen und dabei soziale wie ökologische Politikziele zu erreichen.
Diskutant*innen:
Jonas Lage, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research der Europa-Universität Flensburg, forscht an der Schnittstelle von Energiewissenschaften, Transformationswissenschaften und Soziologie.
Franziska Mascheck, SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Leipzig-Land, ordentliches Mitglied im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen und stellvertretende Sprecherin der gleichnamigen SPD-Arbeitsgruppe, engagiert sich in der SPD-Begleitgruppe „Klimaschutz und Transformation”.
Moderation: Philipp George, politischer Referent, Klimaschutz im Bundestag e.V.
Aufzeichnung
Folien
Wohnraumsuffizienz Welche Instrumente brauchen wir, um Wohnraum besser zu verteilen?, Jonas Lage, Europa-Universität Flensburg
Living on Less Sufficiency-enabling Policies as a Lever for a Social and Ecological Housing Transition in Germany, Carolina Niewöhner, TU Delft
Fragen aus dem Chat (mit Antworten vom Team „Klimaschutz im Bundestag“ und Franziska Mascheck)
In Berlin wird gerade viel über einen Zusammenhang zwischen Klimaschutz und dem aktuellen Rechtsruck der Wähler*innen geredet. Als Lösung wird eine sozial gerechtere Klimapolitik empfohlen. Das würde helfen, geht aber nicht weit genug. Wir müssen den Kulturkampf, der schon lange geführt wird, aufnehmen.
Ich bin 1968 in New Orleans auf die Welt gekommen. Der größte Fehler, den meine Generation gemacht hat, war der Glaube, dass Wirtschaftswachstum die Gesellschaft einen wird. Der Slogan von Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton 1992 lautete: „It‘s the economy, stupid.“
Zwölf Jahre später stellte ein Professor diese Idee in seinem Buch „What‘s the Matter with Kansas?“ (Was ist mit Kansas los?) in Frage. Warum wählten so viele Menschen aus Kansas gegen ihre eigenen (wirtschaftlichen) Interessen. Die Antwort: Sie stimmten für ihre kulturellen Interessen. Der Kulturkampf ist mittlerweile in Deutschland angekommen. Das DIW sprach 2023 in einer Studie vom „AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen.“
Dabei stimmen diese Menschen für ihre kulturellen Werte. Immer mehr Bürger suchen nach Gruppenzugehörigkeit. Die neue europäische Partei für Parteien rechts der Konservativen heißt nicht umsonst Identität und Demokratie Partei. Den Adligen hinter den Reichsbürgern fehlt es vermutlich weniger an Geld; sie wollen eine andere Kultur.
Wir leben immer isolierter. Wenn ein Pilotprojekt wie 2019 in Pforzheim Nachbarn zu Gesprächen einlädt, wird von der „Wiederentdeckung der Nachbarschaft“ gesprochen. Um die Menschen aus ihrer jeweiligen Blase zu locken, hat Zeit Online 2017 Menschen aus unterschiedlichen Lagern in der Reihe „Deutschland spricht“ zusammengebracht. Damit Wähler*innen mehr über Gruppenzugehörigkeiten hinweg miteinander reden, werden immer mehr Bürgerräte organisiert; sie bringen repräsentative Bürgergruppen zusammen, um abgestimmte Empfehlungen für die Politik zu formulieren.
Die gute Nachricht: Auch links der Rechtsradikalen stellen viele Menschen ihre kulturellen Werte über das eigene Portemonnaie. Laut einer Studie der Uni Flensburg fordern Bürgerversammlungen europaweit mehr Suffizienz von der Politik: d.h., soziale Innovationen und Verhaltensänderungen statt nur technologischer Lösungen. Wir könnten das Potenzial heben, doch Klimaschützer*innen wollen ihre Vorschläge nicht als Kulturkampf verstanden wissen. Das Klimaschutz-Lager sagt, um Greta Thunberg zu zitieren: listen to the science.
Die Rufe aus der Klimablase nach Verhaltensänderungen werden daher eher wissenschaftlich als moralisch/kulturell begründet. Außerhalb der Klimablase werden diese Rufe trotzdem teils als Angriff auf die eigene Identität wahrgenommen. Schlägt man vor, wir könnten weniger Fleisch essen, teilt sich das Publikum in zwei feindliche Lager auf. So ergeht es aktuell den Autor*innen Hedwig Richter und Bernd Ulrich mit ihrem neuen Buch „Demokratie und Revolution: Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“. Auf Amazon hat das Buch 3 Sterne von 5; drei Viertel der Bewertungen sind 5 Sterne oder 1 Stern.
Bloß den Vorwurf des Verzichts nicht erregen: Ganze Studien werden unter der Annahme verfasst, dass sich unser Verhalten nicht ändern muss. Aktuelles Beispiel: Die neue Studie zu den Kosten der Verkehrswende von Agora Verkehrswende (hierbei wärmstens empfohlen) betrachtet Szenarien mit unveränderten Mobilitäts-Kilometern. Das ist eine wertvolle Untersuchung. Sollte aber nicht immer ein Szenario dabei sein, das untersucht, wie viel Verhaltensänderungen bringen würden?
Es fehlt natürlich nicht an Studien zu Suffizienz (wir empfehlen zum Einstieg die von Negawatt). In seiner letzten Stellungnahme zum Thema Suffizienz spricht der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) von einer „Strategie des Genug“ (Suffizienz bedeutet „genug“). Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass viele Bürger*innen nicht genug haben. Sie würden also mehr Wohlstand bekommen – mehr bezahlbaren Wohnraum, mehr Freizeit, mehr Mobilität, usw. Dafür müssten vor allem die Reichen und Superreichen auf manchen Luxus verzichten (auch wenn der SRU das eher implizit als explizit sagt).
Wie diese Idee ankommt, kann man in der Sendung von Markus Lanz vom 22.5. sehen. Das Video ist hier auf Reddit zu sehen, und ab 29:18 geht es darum, aus Milliardären Millionäre zu machen. Lanz will davon nichts wissen, und fragt: Darf man dann noch Porsche fahren? Impliziert wird: Lieber Zuschauer, die Gängelung fängt oben an, kommt aber irgendwann zu euch. Unter dem Video im Subreddit „Finanzen“ (wo sich Menschen über Geld austauschen, also eher keine grüne Ecke) sind die Kommentare aber lesenswert ausgewogen.
Es gibt vielleicht mehr Unterstützung für die Idee, als man vermuten würde. Deutschland setzt sich zusammen mit Brasilien, Frankreich, Spanien und Südafrika in der G20 für eine 2%-Steuer auf das Vermögen von Superreichen ein. Die Weltbank unterstützt die Idee. Präsident Biden plante eine „Milliardärsteuer“, traf aber bald auf Widerstand.
Wir sprechen also gerne von der Energiearmut, aber weniger davon, dass manche Menschen zu viel angehäuft haben, und unsere Staatskassen leer sind: z.B. für Kitaplätze, die seit 2012 eine kommunale Pflicht sind. Und auch für den Klimaschutz. Dieses Jahr ist eine neue Denkfabrik mit dem Namen Zukunft KlimaSozial gegründet worden. Die wird gute Arbeit leisten, vor allem beim versprochenen, aber nicht gelieferten Klimageld. Greenpeace beginnt gerade eine Kampagne fürs Klimageld. Sie können hier mitmachen. Neben sollten wir aber auch die gute Arbeit von Gruppen wie Netzwerk Steuergerechtigkeit stärken. Und gibt es überhaupt Orgs, die sich vorrangig mit Verhaltensänderungen befassen?
In den nächsten Monaten wollen wir bei KiB dem Thema Suffizienz mehr nachgehen. Am 6.6. geht es los: Mein Kollege Philipp George lädt zu einem Webinar zum Thema Wohnraumsuffizienz ein. Es gibt seit Jahrzehnten immer mehr Wohnraum pro Nase, und trotzdem ist es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Wie konnte das passieren, und wie kommen da raus? Infos zur kostenlosen Veranstaltung finden sie weiter unten und hier.
So viel vorab: Wir haben selten so viel Resonanz wie bei Philipps Webinar gehabt. Seit die Einladungen verschickt wurden, haben uns Stadträte und sogar das Büro unseres Wirtschaftsministers angerufen. Alle wollen wissen, was Kommunen machen können, um mehr bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen. Vorwiegend auf Neubau zu setzen, hat das Problem nicht gelöst, sondern uns in diese Situation gebracht. Philipp hat ein paar Expert*innen gefunden, die Lösungsansätze vorstellen, um den bestehenden Wohnraum besser zu verteilen.
Welche Suffizienz-Themen sind aus Ihrer Sicht wichtig? Schreiben Sie uns doch Ihre Idee an info@klimaschutz-im-bundestag.de. Wir schauen, welche wir in den nächsten Monaten behandeln können. Und: Wie finden Sie das Wortspiel „ZuverZicht“ als Oberbegriff?
Dieser Text ist bereits lang. Später haben wir Zeit für die Frage: Was meint ihr überhaupt mit „Kulturkampf aufnehmen“?
Der deutsche Atomausstieg hat sich letzten Monat gejährt – ein guter Anlass, auf den aktuellen Stand der Energiewende zu gucken.
Dass der Atomausstieg eine gute Entscheidung war und bleibt, liegt auf der Hand: Strom aus Atomkraft ist teuer, keineswegs klimaneutral, unflexibel, krisenanfällig, umweltschädlich und schafft neue Abhängigkeiten. Der Ausstieg spart uns eine Menge Subventionen (die französischen Atomunternehmen hatten 70 Milliarden Euro an Schulden, die durch den Staat aufgefangen werden mussteni) und hat laut Bundesnetzagentur die Strompreise nicht beeinflusstii. Weder ein Weiterbetrieb noch ein Neubau von Atomkraftwerken ist wirtschaftlich oder ökologisch sinnvoll – selbst die Betreiber haben daran kein Interesseiii. Auch EU-weit wäre ein mittelfristiger Atomausstieg sinnvoll. Der NGO-Zusammenschluss „European Environmental Bureau“ (EEB) beschreibt die Situation so: „Die bestehende Nuklearflotte kann zusammen mit den fossilen Brennstoffen aus dem Betrieb genommen werden, wobei die EU-Länder den Übergang zu einem drastisch effizienteren Energiesystem vollziehen“iv. Dieses „drastisch effizientere Energiesystem“ beruht natürlich auf erneuerbaren Energien (EE), Speichern und Flexibilisierung.
Wo stehen wir in der Energiewende?
Fragt man die Bundesregierung, läuft alles super: Letztes Jahr machten Erneuerbare das erste Mal über die Hälfte des deutschen Strommixes aus, und die Zielwerte der jährlichen gesamten Emissionsminderungen wurden übererfülltv.
Das alles stimmt zwar, beweist aber noch nicht, dass wir inzwischen ausreichenden Klimaschutz betreiben. Die relativ hohen CO2-Einsparungen wurden nicht vorwiegend durch eine gute Klimaschutzpolitik erreicht: Nur rund 15% der Emissionsminderungen sind langfristig gesichertvi. Der Rest ist auf andere Faktoren zurückzuführen. V.a. in der Industrievii, aber auch in anderen Bereichen gab es konjunkturbedingt eine geringere Energienachfrageviii. Damit sank der deutsche Strombedarf deutlich und erreichte den tiefsten Punkt seit 30 Jahrenix. Diese geringe Stromnachfrage ermöglichte auch erst den hohen Anteil der EE am Strommix. Das heißt auch, dass mit einer wirtschaftlichen Erholung der CO2-Ausstoß erstmal wieder steigen wird.
Die Prognosen, die einer Übererfüllung der Kilmaziele für 2030 vorhersagen, lesen sich laut Spiegel eher wie ein best-case-Szenariox, in dem alle (auch bisher nicht erprobte) Instrumente wirken wie geplant, in dem Förderungen einkalkuliert sind, die eigentlich schon ausgelaufen sindx, etc. Dazu kommen noch die jetzt abgeschafften Sektorziele des Klimaschutzgesetzes, die es den Problemkind-Sektoren Verkehr und Gebäude ermöglichen, Maßnahmen weiter aufzuschieben, die später unwahrscheinlicher greifen werden.
Alles in allem ist das mit dem Klimaschutz also durchmischt. Wie sieht es denn mit den einzelnen Maßnahmen im Energiesektor aus?
Ausbau der erneuerbaren Energien (EE)
Die Bundesregierung sagt selbst, dass sich die Ausbaugeschwindigkeit der EE verdreifachen muss, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollenxi. Entsprechend hat der Photovoltaik-Ausbau (14,4 GW in 2023) den bisherigen Rekord aus 2012 deutlich geknacktviii. Das kam teils durch gesetzliche Vereinfachungenxii – darunter welche zu Balkonsolarkraftwerken, wofür wir uns gemeinsam mit anderen erfolgreich stark gemacht haben (siehe https://klimaschutz-im-bundestag.de/balkonsolar/).
Anders sieht es aus bei der Windkraft: hier bleibt der Ausbau (2,9 GW Windkraft an Land in 2023) deutlich hinter dem benötigten Ausbau zurückviii. Immerhin: die Menge der Genehmigungen stieg um 75% gegenüber dem Vorjahr (jedoch nur 9% davon im Süden, wo sie dringend benötigt würdenxii). Im Bereich der Biomasse fehlt noch immer die klare Strategie, die eigentlich schon letzten Sommer hätte fertig sein sollen. Bisher wurde aber nur ein Entwurf aus dem Herbst geleaktxiii und seitdem gab es keine Neuigkeiten mehr dazu (unsere Position dazu finden Sie hier). Dafür wurde im Dezember eine Stromspeicher-Strategie des BMWK vorgelegt, die den Bau von (Groß-)Stromspeichern erleichtern sollxiv. Einige Großspeicherprojekte laufen langsam an, aber auch hier bleibt noch viel zu tun: Laut dem Fraunhofer ISE muss die Batteriespeicherkapazität bis 2030 fast ver-200-facht werdenxv. Auch das Stromnetz muss für ein erneuerbares und effektives Stromsystem dringend ausgebaut und weiterentwickelt werden.
Für all das fallen natürlich Kosten an. Vertreter der IHK beschwerte sich im März über die hohen Strom- und Gaspreise in Deutschland, für die Unternehmen verstärkt durch den Wegfall des geplanten Stromnetzentgeltzuschusses und die Abschaffung des Spitzenausgleichs bei Gaslieferungen. Die resultierende Forderung: eine schnelle Ausweitung des Stromangebots und eine Beteiligung des Bunds an den Kosten für den Stromnetzausbauxvi. Tatsächlich zahlen Verbraucher*innen in Deutschland den höchsten Strompreis in Europa, was größtenteils durch Netzentgelte und Abgaben bedingt istxvii. Atomkraft könnte hier aufgrund der hohen Kosten sowie der Verstopfung der Netze für Erneuerbare aufgrund von Inflexibilität übrigens auch nicht weiterhelfen.
Umgestaltung des Stromsystems
Abgesehen von einem konsequenten Ausbau von EE, Stromnetz und Speichern müssen wir auch über eine Anpassung des Strommarkts reden. Aktuell bezahlen Endverbraucher*innen immer gleich viel für den Strom, unabhängig davon, wann und wo sie ihn verbrauchen. Das suggeriert, dass die Verfügbarkeit konstant ist (früher war sie das vielleicht) und dass es beim „Transport“ von Strom keine Verluste und Netzengpässe gibt („Kupferplatte Deutschland“). Bei jeder anderen Ressource würde das als marktwirtschaftlicher Unsinn abgetan – wer nah an eine Ressource verbraucht, bezahlt weniger und wer dann kauft, wenn es weniger Nachfrage gibt, bezahlt auch weniger. Das lässt sich auch im Strommarkt umsetzen mit örtlich und zeitlich flexiblen Strompreisen und Netzentgeltexviii. Laut Agora Energiewende lassen sich so bis 2035 jährlich 100 TWh flexibilisieren und 4,8 Milliarden Euro einsparenviii. Erste Schritte sind hier schon getan: Mit dem Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende vom Mai 2023 sind alle Stromlieferanten ab 2025 dazu verpflichtet, auch Tarife anzubieten, die sich an den kurzfristigen Großhandelspreisen orientieren; außerdem hat der Smart-Meter-Rollout in Deutschland endlich angefangenviii. Trotzdem hinken wir im internationalen Vergleich stark hinterher: „Während etwa die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten bereits die 80 Prozent-Schwelle der Verfügbarkeit von Smart Metern bei Endkonsumenten erreicht hat, liegt die Verbreitung in Deutschland bei lediglich einem Prozent“viii.
Ausblick
Insgesamt gehen wir bei der Energiewende also schon in die richtige Richtung – nur eben deutlich zu langsam. Dass es schneller geht, wird nicht von allein kommen – es braucht weiterhin eine aktive Zivligesellschaft aus NGOs, Institutionen, sozialen Bewegungen und Einzelpersonen, die sich dafür einsetzen. Die Gegner*innen der Energiewende versuchen oft, die wahrgenommene Akzeptanz für entsprechende Maßnahmen kleinzuhalten. Daher müssen wir immer wieder die bestehende breite gesellschaftliche Unterstützung für mehr Klimaschutz sichtbar machen. Die zentrale Frage in der Energiewende ist für die allermeisten nämlich nicht das ”ob” sondern das ”wie”xix. More in Common hat dazu im Februar viele Menschen vor allem im Osten gefragt und entsprechende Empfehlungen für eine verbindende Energiewende entwickelt – Erstens muss das Vertrauen gestärkt werden, indem der Staat solide Rahmenbedingungen schafft, indem diversere Perspektiven in die Debatte eingebracht werden und indem (lokale) Vertrauensleute wie z.B. Klempner eingebunden und überzeugt werden (für die kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung haben wir genau dazu ein Projekt: https://klimaschutz-im-bundestag.de/ksse/). Zweitens braucht es die Möglichkeit für regionales Ownership – z.B. durch Optionen wie Balkonkraftwerke, Bürger*innengenossenschaften oder einfach gute und aufsuchende Beteiligungsprozesse. Gleichzeitig wünschen sich die Menschen klare Regeln – nur eben begleitet durch ermöglichende und unterstützende Maßnahmen. Drittens braucht es mehr Attraktivität der Maßnahmen durch ein sehr klares, positives Zukunftsbild, Bezahlbarkeit sowie eine Anerkennung von Problemen statt eines Schönredens.
Zum Abschluss ein Zitat und Apell aus dem entsprechenden Impulspapier von more in commonxix: “Allen demokratischen Akteuren sei gesagt, dass sie angesichts dieses Gestaltungs-Imperativs langfristig die Menschen nur dann überzeugen können, wenn sie allesamt starke programmatische Entwürfe entwickeln und die Klima- bzw. Energiepolitik nicht als isolierten „Zankapfel“, sondern als Querschnittsthema verstehen, das in einer größeren Erfolgs- und Zukunftsgeschichte für unser Land Platz finden muss. Schließlich ist das Thema perfekt anschlussfähig an Fragen der Daseinsvorsorge und Infrastruktur, der wirtschaftlichen Entwicklung, der sozialen Gerechtigkeit, der öffentlichen Gesundheit und vieler anderer Aspekte. Die Menschen wollen gute Vorschläge und gute Lösungen. Sie sind in ihrer Mehrzahl keine Gegnerinnen, sondern Bündnispartner (in spe) eines ganzheitlich durchdachten Klimaschutzes. Wer sie überzeugen kann, stärkt den Zusammenhalt. Und damit überdies auch noch die Demokratie im Ganzen” (Seite 14).
2023 musste die Klimabewegung gegen eine Klimapolitik ankämpfen, die geprägt war von einer fehlenden positiven Zukunftsvision und regierungsinternem Streit. Es brauchte einen Spagat zwischen der steigenden Dringlichkeit von konsequenten Klimaschutzmaßnahmen und dem Organisieren von Mehrheiten in einer verunsicherten Gesellschaft, die tief in multiplen Krisen steckt. Die verschiedenen Bewegungen haben dabei unterschiedliche Ansätze verfolgt.
Mit welchen Rahmenbedingungen musste die Bewegung umgehen?
Seit ca. zwei Jahren portraitieren sich die meisten politischen und gesellschaftlichen Akteur*in als Klimaschützer*in. Das ist zwar ein Erfolg, aber konsequente Maßnahmen werden trotzdem nicht entschieden. Das sorgt für Frust in der Bewegung. Nach unzähligen Stunden der ehrenamtlichen Arbeit stünde jetzt die tatsächliche Umsetzung an. Hier regt sich jedoch Widerstand: Verschiedene Personen und Organisationen realisieren, dass Klimaschutz spürbare Veränderung und Transformation gesellschaftliche Anstrengung bedeutet. Dieser Widerstand ist nicht unauflösbar, stellt aber eine Herausforderung dar.
2023 war eine Zeit der multiplen Krisen und eines angespannten gesellschaftlichen Klimas – Eindrücke aus der Meinungsforschung. Die gemeinnützige Organisation „More in Common“ hat im Sommer die gesellschaftliche Stimmung erfasst. Die Ergebnisse: Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass wir in einem ungerechten und egoistischen Land leben1. Es besteht der Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft: v.a. zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen mit verschiedenen Meinungen zum Klimaschutz und zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte1. Gleichzeitig wird die Regierung von vielen als undemokratisch, ungerecht, inkompetent und wirkungslos empfunden1. Die dominierenden politischen Probleme sind steigende Lebenshaltungskosten und Mietpreise1.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Klimabewegung: Große soziale Sorgen, ein geringes Zusammenhalts- und Selbstwirksamkeitsgefühl und der Wunsch der Hälfte der Gesellschaft, dass alles „zum Gewohnten“ zurückkehrt1. Nicht die besten Voraussetzungen also für eine gesamtgesellschaftliche Transformation.
Wie hat die Klimabewegung 2023 versucht, Wandel zu bewirken? – Ein paar Beispiele
Tendenz zu mehr zentralisierten Aktionen Dass seit der Pandemie weniger Personen als noch 2019 an Demonstrationen fürs Klima teilnehmen, hat dafür gesorgt, dass der Fokus mehr auf einzelnen symbolischen oder großen Aktionen liegt, als auf stetigen Protesten in der Fläche. Auch die letzte Generation rief im Herbst zum ersten Mal zur zentralen Massenbesetzung in Berlin auf (das erwartete exponentielle Wachstum blieb jedoch aus). Statt wie zuvor ein ernstes wurde dort ein fröhlicheres Aktionsbild geprägt. Das wurde unter anderen aus den Niederlanden inspiriert: Nachdem Aktivist*innen von Extinction Rebellion dort über einen Monat lang eine Autobahn bei Den Haag blockierten, beschloss die Regierung, fossile Subventionen abzubauen2.
Symbolische Orte Dass symbolische Orte für Klimaproteste genutzt werden, ist nicht neu. Es lässt sich einfacher zu einem konkreten, greifbaren Thema mobilisieren, als zu zunächst abstrakt wirkenden Forderungen nach, z.B., einem Klimageld. Im Januar 2023 wurde das besonders sichtbar: Die Massendemonstration und die Aktionen zivilen Ungehorsams in und um Lützerath haben für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Auch die Blockaden bei der Internationalen Auto-Ausstellung in München, begleitet von 4500 Polizist*innen3, hatten symbolische Wirkkraft.
Kriminalisierung von Klimaprotesten Die Ergebnisse eines Reports vom Green Legal Impact e.V.4 bestätigen, was viele Aktivist*innen beklagen: „Die Klimabewegung gerät auch in Deutschland zunehmend unter Druck. Staatliche Institutionen und ein verschärfter öffentlicher Diskurs beschränken die Handlungsmöglichkeiten von Aktivist*innen“. Das passiert in unterschiedlichsten Formen: Praxis von Versammlungs- & Polizeibehörden (restriktive Auflagen, Schmerzgriffe, Präventivgewahrsam) und harte Strafverfolgung (Ziel: Abschreckung durch vernachlässigte Verhältnismäßigkeitserwägungen). Ein Beispiel: der vor Gericht gescheiterte Versuch, die Letzte Generation als extremistisch einzustufen5. Eine ausgereifte Antwort darauf scheint die Bewegung noch nicht zu haben – bisher wurde lediglich medial darauf aufmerksam gemacht, wobei das Interesse und die Empörung über die Zeit abgenommen haben.
Größerer Fokus auf die Umsetzungsebene Um dafür zu sorgen, dass trotz langsamer politischer Fortschritte Klimaschutzmaßnahmen durchgeführt werden, fokussieren sich einige Akteur*innen mehr auf konkrete Umsetzungsprojekte. Zwei Beispiele:
In manchen Bereichen des Klimaschutzes mangelt es nicht an Wissen oder der Akzeptanz, sondern lediglich an den nötigen Arbeitskräften (z.B. Sanierung oder PV-Installation). Hier haben die 4 Solarcamps (in Freiburg, Kassel, Berlin und Lüneburg) letztes Jahr angesetzt: In je zwei Wochen konnten Interessierte in die PV-Installation schnuppern. Das Ergebnis: Einige haben sich im Anschluss für einen (Neben-)Job im Klimahandwerk entschieden. Eine detailliertere Auswertung des Camps bei Freiburg hat unser Kollege Philipp George hier veröffentlicht.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Initiative PlanB 2030 in Berlin: Nach dem knapp gescheiterten Volksentscheid für eine frühere Klimaneutralität nehmen einige Bürger*innen die Maßnahmen selbst in die Hand. Mit Nachbarschaftsevents und vielen anderen Formaten werden Bürger*innen ermutigt und unterstützt, z.B. Balkonsolarkraftwerke selbst anzubringen und anzumelden.
Neue Kooperationspartner*innen Ein wichtiger Ansatz von Fridays for Future ist es, in der Breite der Gesellschaft verankert zu sein. Mit der Kampagne „wir fahren zusammen“ setzen sie sich für eine sozial gerechte Verkehrswende ein: In Kooperation mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di unterstützen sie die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in deren Tarifverhandlungen. Im März 2023 brachte Fridays for Future mit diesem Thema an 240 Orten über 220 000 Demonstrant*innen auf die Straße. Dazu kamen gut 60 000 Beschäftigte, die am selben Tag für bessere Löhne streikten. Seit Herbst haben schon über 60 000 Personen die gemeinsame Petition unterschrieben.
Ausblick
Auch 2024 wird ein turbulentes Jahr für die Klimabewegung: Schon jetzt wurden Protestwellen aus der Landwirtschaft und gegen Rechts laut, die auch von der Klimabewegung unterstützt wurden. Die letzte Generation hat Massenproteste am 03. Februar in Berlin und einen Strategiewechsel angekündigt, und Fridays for Future wird am 01. März gemeinsam mit Beschäftigten deutschlandweite Großdemonstrationen für eine sozial gerechte Verkehrswende veranstalten. Außerdem stehen Kommunalwahlen, Landtagswahlen und die Europawahl an, bei denen es für die Bewegung darum gehen wird, wieder einen Klimawahlkampf zu prägen, bei dem es nicht um das „ob“, sondern um das „wie“ des Klimaschutzes und konkrete Maßnahmen geht.
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