Vorstudie bestätigt Forschungsbedarf für flexible Arbeitszeitmodelle im Klimahandwerk

In dem Projekt “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchten wir untersuchen, inwiefern flexible Arbeitszeitmodelle und Mischarbeit die Attraktivität des Klimahandwerks steigern und damit neue Zielgruppen gewonnen werden können. In dem vorliegenden Text werden vor allem die Zwischenbefunde der Vorstudie thematisiert, die zur Absicherung der Forschungsfragen durchgeführt wurde.

Das wichtigste in Kürze

  • Flexible Arbeitszeitmodelle könnten die Arbeitskräftebasis im Klimahandwerk durch verschiedene Effekte stärken:
    • Ältere Beschäftigte bleiben länger im Betrieb
    • Die Abwanderung in andere Bereiche wird vermindert
    • Neue Zielgruppen werden erschlossen
    • Die langfristige Gesundheit der Beschäftigten verbessert sich
    • Der Frauenanteil steigt
    • Der Umstieg aus dem Büro auf die Baustelle wird erleichtert
    • Studierende finden einen Nebenjob
  • Durch Pionierbetriebe, die schon heute flexible Arbeitszeitmodelle praktizieren, könnte in den spezifischen Gewerken ein Rechtsanspruch auf Teilzeit entstehen (der zumutbar ist)
  • Durch die rasanten Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz steigen die Substituierbarkeitspotenziale der kaufmännischen Berufe stark an. Die Dringlichkeit, eine Strategie “Raus aus dem Büro – Rauf auf die Baustelle” zu entwickeln, wächst. 
  • Die Umschulungspraxis der Agenturen für Arbeit ist zu sehr auf die aktuelle Situation und zu wenig auf die künftigen Bedarfe ausgerichtet
  • Die Teilzeitausbildung ist im Handwerk bislang ein theoretisches Konstrukt, könnte bei richtiger Umsetzung aber neue Personengruppen erschließen

Zu wenige Arbeitskräfte im Klimahandwerk sind eine ernsthafte Bedrohung für unsere (zu niedrigen) Klimaziele. Eine Studie im Auftrag des BMWK hat gezeigt, dass der Gebäudesektor deutlich zu viel CO2 emittieren wird, falls das Arbeitsangebot nicht massiv ausgeweitet wird (vgl. BMWK, 2022, S. 69). Aktuell deuten aber alle Trendindikatoren in die falsche Richtung. Das sollte bei den Entscheider*innen die Alarmglocken läuten lassen.

Die Zahl der Schulabgänger*innen ist begrenzt, und diese sind hart umkämpft. Nicht nur die akademische Laufbahn, sondern auch andere Ausbildungsberufe außerhalb des Handwerks, z.B. im kaufmännischen Bereich, steigen in der Gunst der Absolvent*innen. Und selbst die jungen Menschen, die für eine Ausbildung im Klimahandwerk gewonnen werden können, sind kein Garant für eine solide Beschäftigungsbasis. Direkt nach der Ausbildung, aber auch später während des Berufslebens kehren viele Beschäftigte dem Handwerk den Rücken. Nur ein Drittel bleibt dem Handwerk das ganze Berufsleben treu (Haverkamp, 2016, S. 11). Die Altersstruktur in vielen Gewerken des Klimahandwerks ist, vorsichtig ausgedrückt, suboptimal. Im SHK-Bereich etwa ist mehr als jeder Fünfte älter als 55 Jahre (TAG, 2022).

Das heißt, allein das aktuelle Fachkräfteniveau zu halten, ist eine immense Herausforderung. Dabei muss insgeheim der Anspruch aber lauten, die Leistungsfähigkeit des Klimahandwerks nicht nur zu erhalten, sondern zu steigern; was in logischer Konsequenz auch bedeutet, die Beschäftigungsbasis deutlich auszubauen. Aktuell befinden wir uns bei der energetischen Sanierungsrate auf einem historischen Tiefstand: 0,7% (BuVEG, 2024). Laut Studien müsste die Sanierungsrate aber mindestens auf 2% oder mehr gesteigert werden, um die selbst gesteckten Ziele der Bundesregierung zu erreichen (Ariadne, 2021).

Mit dem Forschungsvorhaben “Erschließung neuer Potenziale im Klimahandwerk” (ENPIK) möchte Klimaschutz im Bundestag e.V. untersuchen, mit welchen Instrumenten das Klimahandwerk an Attraktivität gewinnen und somit die Beschäftigungsbasis ausbauen und diversifizieren kann. Dabei sollen verschiedene Forschungsmethoden zum Einsatz kommen, um ein umfassendes Problemverständnis zu generieren. Auf dieser Basis können der Politik dann wissenschaftlich basierte Empfehlungen gemacht werden, um die Herausforderungen im Klimahandwerk künftig besser zu meistern. Der modulare Aufbau der Hauptstudie gliedert sich wie folgt:

  • Modul 1 (Qualitative Phase): 15 Interviews mit Expert*innen aus dem Klimahandwerksökosystem 
  • Modul 2 (Quantitative Phase): Online-Befragung spezifischer Zielgruppen mit einer großen Stichprobe 
  • Modul 3 (Reallabor): Testen von flexiblen Arbeitszeitmodellen im betrieblichen Umfeld im Klimahandwerk

Um die zugrundeliegenden Annahmen und Forschungsfragen von ENPIK zu verifizieren, haben wir im April und Mai dieses Jahres eine Vorstudie durchgeführt. In sieben halbstrukturierten Interviews haben wir Einschätzungen erhoben, um die Relevanz der Forschungsfragen zu überprüfen. Dabei haben wir uns bei den Befragten für einen Mix aus direkt Betroffenen und externen Expert*innen entschieden: 

  • Potenzieller Quereinsteiger (kaufmännischer Beruf)
  • SHK-Auszubildende 
  • Geschäftsführer in einem PV-Installationsbetrieb
  • Soziologiestudentin (mit Nebenjob im PV-Handwerk) 
  • Arbeitsschutzexperte 
  • Abteilungsleiterin in einer regionalen Energieagentur 
  • Montageleiter in einem PV-Installationsbetrieb

Folgende Erkenntnisse konnten wir im Zuge dieser Interviews gewinnen:

Flexible Arbeitszeitmodelle / Teilzeit

Der Arbeitsschutzexperte erachtet flexible Arbeitsmodelle als wichtig, um Menschen für das Klimahandwerk zu aktivieren, die aus gesundheitlichen oder privaten Gründen keine klassische 40-Stunden-Woche arbeiten können. Er sieht in dieser Hinsicht noch ungehobene Potenziale im Handwerk. Ebenso sind Teilzeitmodelle ein wichtiger Baustein, um ältere Beschäftigte länger im Betrieb zu halten. Gleichzeitig betont er, dass die Möglichkeit, in Teilzeit zu wechseln, früh in der Erwerbsbiographie angeboten werden sollte, weil sie auch dazu beiträgt, übermäßigen körperlichen Verschleiß zu vermeiden und so die langfristige Gesundheit der Beschäftigten unterstützt. 

Liste Der Gefaehrlichsten Berufe

Auf der Grafik ist die Rate der Erwerbsminderungsrente nach Beruf abgebildet (Statista, 2011). Diese Zahl gibt an, wie viel Prozent der Beschäftigten vor Erreichen des regulären Renteneintrittsalters ihren Beruf nicht mehr ausführen können und ist damit ein guter Indikator für körperlichen Verschleiß. Es ist erschreckend zu sehen, dass es im Gerüstbau eher die Regel als die Ausnahme ist, dass Beschäftigte von der Erwerbsminderungsrente Gebrauch machen müssen. Auf dem Diagramm ist ebenfalls zu erkennen, dass von den 10 Berufen mit dem höchsten körperlichen Verschleiß 7 zum Klimahandwerk gehören.

Der befragte Geschäftsführer und der Montageleiter arbeiten in demselben PV-Installationsbetrieb. In diesem wurde der Umgang mit flexiblen Arbeitsmodellen bereits normalisiert. Sie berichten, dass 80% – 90% der Monteur*innen in Teilzeit arbeiten. Zwei Tage die Woche hält der Geschäftsführer für organisatorisch schwer handelbar (wird aber von zwei Monteur*innen praktiziert), drei Tage die Woche sind akzeptiert und vier Tage die Woche der Standard. Arbeitswillige Monteur*innen können auch eine klassische Fünf-Tage-Woche arbeiten. Der Betrieb zeigt nahezu mustergültig, dass eine X-Tage-Woche auch im handwerklichen Bereich, genauer gesagt im PV-Installationshandwerk, möglich ist. Solche Betriebe können eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie die gesamte Branche in Zukunft mit flexiblen Arbeitsmodellen umgeht. Und das nicht nur auf einer kommunikativen, sondern auch auf einer juristischen Ebene. Nach § 8 TzBfG haben schon heute alle Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitenden das Recht, in Teilzeit zu wechseln, falls keine wichtigen Gründe dagegen sprechen. Handwerksbetriebe könnten in der Vergangenheit argumentiert haben, dass eine X-Tage-Woche nicht in die betrieblichen Abläufe passt oder zu erhöhten Kosten führt. Wenn aber mehr Betriebe zeigen, dass eine Einsatzplanung auch mit einer Drei- bzw. Vier-Tage-Woche möglich ist, könnte das Gerichte in Zukunft dazu bewegen, zumindest im PV-Installationshandwerk davon auszugehen, dass diese Arbeitsmodelle zumutbar sind und damit ein Rechtsanspruch seitens der Beschäftigten besteht. Die Angst vor flexiblen Arbeitsmodellen ist aber unbegründet: Der Geschäftsführer berichtet, dass sehr viele Menschen bei ihm arbeiten möchten und sein Betrieb deswegen Wartelisten führt. Außerdem seien auch alle Stellen der Elektriker*innen besetzt, was keine Selbstverständlichkeit ist und er neben den flexiblen Arbeitszeiten auf das gute Betriebsklima zurückführt.

Mischarbeit

Unisono gab es eine breite Zustimmung zur Mischarbeit, die wir als Kombination einer Büro- und einer handwerklichen Tätigkeit definieren. Der potenzielle Quereinsteiger gibt an, dass er sich vorstellen kann, 10-20 Stunden pro Woche im Klimahandwerk neben einer Bürotätigkeit zu arbeiten. Die Abteilungsleiterin (Energieagentur) weist darauf hin, dass dieses Modell sehr vielen Menschen entgegenkommen würde und dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, z.B. bei der digitalen Einsatzplanung oder bei der kontaktlosen Baustellenübergabe. Auch der PV-Geschäftsführer ist von der Idee überzeugt und sieht darin auch einen Beitrag im Kampf gegen Zivilisationskrankheiten, die in vielen Fällen durch Bewegungsmangel begünstigt werden. Für die SHK-Auszubildende wäre das Modell auch sehr attraktiv, weil es eine größere inhaltliche Abwechslung verspricht.

Substituierbarkeitspotenziale

In der Vorstudie wurde auch abgefragt, welche Bedeutung Generative Künstliche Intelligenz (wie z.B. ChatGPT) für den Arbeitsmarkt hat. Der potenzielle Quereinsteiger, der zurzeit als Projektassistent, also in einer kaufmännischen Rolle, tätig ist, hat angegeben, dass 10-15 % seiner Arbeit durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt werden könnten. Nach Beschreibung seiner Tätigkeit und Abgleich mit den Substituierbarkeitspotenzialen, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnet hat, scheint das deutlich zu niedrig. Das IAB geht im Bereich der kaufmännischen Berufe inzwischen von einem Substituierbarkeitspotenzial von 69 % aus (IAB, 2024). Bis auf den Experten für Arbeitsschutz wurde das Disruptionspotenzial durch KI für den Arbeitsmarkt von den Befragten unterschätzt. In den aktuellen Entwicklungen liegt aber ein großes Potenzial: Während in absehbarer Zeit mehr und mehr Geschäftsprozesse und Bürotätigkeiten automatisiert werden können, werden im Klimahandwerk händeringend Arbeitskräfte gesucht. Der Weg „raus aus dem Büro – rauf auf die Baustelle“ ist heutzutage noch nicht exploriert, könnte aber große gesellschaftliche Probleme angehen. Falls im kaufmännischen Bereich viele Menschen durch Produktivitätsfortschritte nicht mehr gebraucht werden, scheint es keine sinnvolle Option, diese Menschen in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden. Vielmehr muss es Aufgabe der Politik und Verwaltung sein, diese Menschen zu einem neuen Tätigkeitsfeld zu lotsen.

Umschulungen

In den Interviews haben die Abteilungsleiterin (Energieagentur) und der Arbeitsschutzexperte unterstrichen, dass die Bedeutung von Umschulungen stark zunehmen wird. Diese Einschätzung deckt sich mit einer Arbeit aus den USA: Ellingrud et al. haben für den US-Arbeitsmarkt errechnet, dass es bis 2030 12 Millionen Umschulungen bräuchte, um den veränderten Erfordernissen durch u.a. Digitalisierung gerecht zu werden (Ellingrud et al., 2023). Heruntergerechnet auf die deutschen Verhältnisse würde das 435.000 Umschulungen pro Jahr entsprechen. Das wäre eine Steigerung um den Faktor 9 gegenüber dem heutigen Niveau von 50.000 Umschulungen pro Jahr (Arbeitsmarkt News, 2019). In diesem Kontext sollte ebenfalls die Förderpraxis der Agenturen für Arbeit auf den Prüfstand. Falls sich heute ein Beschäftigter mit kaufmännischer Ausbildung mit der Umschulungsabsicht in einen handwerklichen Beruf an eine Agentur für Arbeit wendet, wird dieses Gesuch in aller Regel mit der Begründung abgelehnt, dass in dem erlernten Beruf heute immer noch eine Stelle gefunden werden kann. Dies lässt aber die Entwicklungen durch Fortschritte in der künstlichen Intelligenz (vgl. Substituierbarkeitspotenziale) und die akute Arbeitsmarktsituation für die Klimahandwerksberufe außer Acht und kann damit zumindest als kurzsichtig beurteilt werden. Der gesetzliche Rahmen ließe auch schon heute die Förderung derartiger Umschulungen zu (vgl. § 81 SGB III). Hier ist also vor allem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefragt, die Förderpraxis seiner Behörden gemäß den aktuellen und künftigen Herausforderungen anzupassen. 

Auch sollten neue Umschulungsinstrumente in den Blick genommen werden. Sogenannte Teilqualifizierungen (TQ) erlauben es den Arbeitnehmer*innen, in kurzer Zeit in eine neue Berufssparte einzusteigen. Dabei wird das Ausbildungsprogramm in 5-7 Module unterteilt (Bundesagentur für Arbeit, n.d.). Schon nach der ersten TQ kann der Start in ein neues Berufsleben gelingen. Über die Zeit können die restlichen TQs durchgeführt und nach Absolvierung der „externen Prüfung“ ein vollwertiger Berufsabschluss erworben werden. Daneben gibt es Kurzschulungen, die in kurzer Zeit für spezifische Aufgaben qualifizieren. Ein Bildungsanbieter aus Plochingen bietet z.B. einen zweiwöchigen Kurs an, der für die PV-Dachmontage (DC-Seite) qualifiziert (Energieheldem Academy, n.d.). In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls untersucht werden, wie eine Berufsausbildung, Teilqualifizierung oder Kurzschulung in Teilzeit bzw. halbtags gelingen kann. Obwohl es dafür einen gesetzlichen Rahmen gibt, kommen diese Modelle in der Praxis im Klimahandwerk so gut wie nicht vor (§27 b Handwerksordnung). Inwiefern dies im Rahmen des ENPIK-Projekts beleuchtet werden kann, ist zurzeit noch unklar.

Andere Attraktionsfaktoren

Wie oben gezeigt, spielen flexible Arbeitszeitmodelle eine zentrale Rolle; sie alleine werden das Klimahandwerk aber nicht retten. In den Interviews haben sich weitere Attraktionsfaktoren herauskristallisiert, die für die (potenziellen) Beschäftigten einen hohen Stellenwert haben:

  • Fairer Lohn
  • Guter Umgangston
  • Vertrauen der Vorgesetzten
  • Arbeitsschutz
  • Selbstbestimmtes Arbeitstempo
  • Gutes Werkzeug / gute Ausstattung

Daher ist uns die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen sehr wichtig, die in einem dieser Punkte bereits Erfahrung gesammelt und Expertise aufgebaut haben. Nach wie vor ist der Lohn ein ganz wesentlicher Faktor bei der Berufswahl. Hier kann die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften sehr sinnvoll sein. In der Vergangenheit hatten die Arbeitnehmer*innen im Klimahandwerk (mit Ausnahme der Elektriker*innen) große Schwierigkeiten, gute Löhne durchzusetzen. Im Schnitt verdient man mit der gleichen Qualifikation im Handwerk 1000 Euro weniger als in der Industrie (Frankfurter Rundschau, 2019). Trotz der sehr harten Arbeit und dem großen Lohnabstand mahnen Arbeitgeber*innen aber zu Lohndisziplin, weil aktuell die Baukosten explodieren. Dies hat aber multiple Gründe (Inflation, hohe Zinsen, hohe Preise für Baustoffe). Nun zu versuchen, die Baukosten ausgerechnet durch Lohnverzicht bei den Beschäftigten zu begrenzen, ist der falsche Ansatz. Gute und flächendeckende Tarifverträge hingegen können dazu führen, dass sich das Lohnniveau eines Gewerks verbessert, Lohndumping vermieden und dadurch mehr Arbeitskräfte angelockt werden können. Auch der Arbeitsschutzexperte betont, dass Tarifverträge in puncto Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz Vorteile für die Beschäftigten bieten. Um im Bausektor Kosten zu sparen, sollte vielmehr auf Umbau/Sanierung statt auf Neubau gesetzt werden (vgl. unsere Veranstaltung zu Wohnraumsuffizienz). 

Bei dem vorliegenden Projekt soll nicht der Eindruck entstehen, dass Arbeitszeiten der alleinig entscheidende Faktor bei der Berufswahl ist. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel von einer ganzen Reihe von Faktoren. Im Zuge des ENPIK-Projekts werden wir durch Abfrage bei den Zielgruppen eine sogenannte Präferenzordnung erstellen, die darlegt, welchen Stellenwert “flexible Arbeitszeit” im Vergleich zu anderen Arbeitsbedingungen einnimmt.

Ausblick

Wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, können alle betroffenen Gruppen und die gesamte Gesellschaft von den Umbrüchen profitieren. Dafür braucht es aber gesicherte Erkenntnisse über die Arbeitszeitpräferenzen der Menschen, die heute noch nicht im Klimahandwerk arbeiten, in Zukunft aber einsteigen könnten. Des Weiteren braucht es Erkenntnisse darüber, ob und wie diese Arbeitszeitpräferenzen in die betrieblichen Abläufe integriert werden könnten. Das vorliegende Projekt kann in diesen Fragestellungen wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse generieren und diese der Öffentlichkeit, aber auch insbesondere den Entscheider*innen im Klimahandwerk und der Politik zur Verfügung stellen. Dies ermöglicht früh und evidenzbasiert Entscheidungen zu treffen, die für mehr gesellschaftliche Resilienz sorgen. Dass die Forschungshypothesen eine Relevanz besitzen, wurde durch die Vorstudie bestätigt. Deshalb bemühen wir uns weiter um Fördermittel und rechnen mit einem Projektstart Anfang 2025.

Konversion statt Kündigung: Florenzer Arbeiter kämpfen mit der Klimabewegung für eine nachhaltige Fabrik

Seit über zwei Jahren wehren sich die Beschäftigten des Zulieferwerks von der Firma GKN gegen eine plötzliche Kündigung und setzen sich zusammen mit der Klimabewegung für eine Konversion des Werkes ein. Was dahintersteckt, ein paar Eindrücke von meinem Besuch dort über Silvester und was es jetzt auch aus Deutschland braucht, findest Du in diesem Artikel.  

Die damaligen 422 Beschäftigten des GKN-Werks bei Florenz haben bis Juli 2021 Achswellen produziert. Dann kam übers Wochenende die plötzliche Kündigung aller Beschäftigten. Die fuhren am nächsten Montag jedoch trotzdem zur Fabrik und starteten eine unbefristete Betriebsversammlung, quasi eine legale Form der Fabrikbesetzung. Diese läuft seitdem ununterbrochen und immerhin 185 der ursprünglichen Beschäftigten sind noch dabei. Vor Gericht gewannen sie gegen ihren Arbeitgeber, da die kurzfristigen Kündigungen unrechtmäßig waren. 

Florenz, 31. Dezember 2023 in der „Bar“, dem sozialen Mittelpunkt der Fabrik: Die Kollegen (inzwischen sind es tatsächlich nur noch Männer) hatten zur Silvesterfeier eingeladen und zur Verteidigung der Fabrik aufgerufen, denn sie sollten zum 01.01.24 erneut gekündigt werden. Wenige Tage zuvor kam jedoch die gute Nachricht: 

Das Gericht hat wieder dem Fabrikkollektiv rechtgegeben und die Kündigungen sowie die Räumung des Fabrikgeländes so verhindert. Die Begründung: Weder die Stadt noch der Arbeitgeber haben einen vernünftigen Plan zur Reindustrialisierung vorgelegt. Im Gegensatz zu den Beschäftigten.  

Zurück in der Bar: Diego kommt rein und grüßt mit einer Geste einen der GKN-Beschäftigten, der wie so oft in der in der Ecke neben einem Heizstrahler sitzt, kaum spricht und anscheinend schwer hört. Diego ist Lehrer aus dem Norden Italiens und einer der wenigen vor Ort, der gut Englisch spricht. Noch am Abend zuvor haben wir lange mit ihm diskutiert, wie wir mehr Menschen für sozial-ökologische Projekte gewinnen können – etwas, was dem colletivo di Fabrica schon erstaunlich gut gelungen ist: 

Im September nach der Kündigung rief das Fabrikkollektiv zusammen mit Unterstützer*innen zur Demonstration in Florenz auf und rund 40 000 Personen kamen – darunter Arbeiter*innen, Klimaaktivist*innen, kirchliche Akteure und viele weitere Organisationen und Einzelpersonen.  

An der Theke der Bar steht neben einigen Kollegen und Unterstützer*innen auch die Florentiner Stadträtin Antonella Bundu, die den Kampf schon lange aktiv unterstützt und ein bekanntes Gesicht und regelmäßiger Gast auf dem Fabriksgelände ist. Sie hat uns später am Mittag mit dem Auto mit in die Stadt genommen und dabei von den verschiedenen Herausforderungen der Stadtpolitik und rund um die Fabrik erzählt. Sobald die Genossenschaft gegründet ist und ökologische Produkte produziert werden, will sie ihr Amt als Stadträtin niederlegen, um in der Fabrik zu arbeiten. 

Das Kollektiv hat nämlich gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und der Klimabewegung einen Plan zur Konversion der Fabrik ausgearbeitet: Als Genossenschaft wollen sie Lastenräder und Photovoltaikmodule zusammenbauen. So können die Arbeitsplätze erhalten werden und gleichzeitig entsteht die erste sozial integrierte Fabrik Italiens mit einer ökologisch sinnvollen Produktion. 

Die Stimmung in der Bar ist gut und kurze Zeit später kommt Dario, der Betriebsrat, aus seinem Büro in die Bar und die Aufbauarbeiten für die Veranstaltung am Abend beginnen. Mit für deutsche Verhältnisse wenig Plan und viel Diskussion bauen wir Pavillons und Ausschanktische auf. 140 Helfer*innen haben sich für den Tag gemeldet, die meisten jedoch erst für verschiedene Schichten am Abend. Trotz des leichten Chaos merkt man, dass die Kollegen und regelmäßige Unterstützer*innen viel gemeinsam durchgemacht haben. Man kennt sich und verlässt sich aufeinander.  

Diesen Zusammenhalt werden die Kollegen weiterhin brauchen, denn dieser Kampf ist noch nicht vorbei: da es jetzt keinen Lohn mehr gibt, muss das „colletivo“ möglichst schnell das nötige Kleingeld zusammenbekommen, mit dem sie als Genossenschaft das Fabrikgelände und die Geräte kaufen können: Insgesamt sind das über 20 Millionen Euro, um mit der Produktion starten zu können. Zum Glück gibt es verschiedene öffentliche und genossenschaftsbankliche Töpfe, mit denen dieses Ziel erreichbar wird. Trotzdem braucht es ein gewisses Eigenkapital: Eine Million Euro sammelt das Projekt noch bis Juni 2024 über Genossenschaftsanteile, die Bürger*innen, Vereine, Arbeitnehmer*innen und solidarische Gruppen für je 100€ erwerben können. Ab fünf Anteilen wird man zum Genossenschaftsmitglied und erhält Stimmrecht in den Versammlungen. Es wird es eine Möglichkeit geben, von Deutschland aus online an den Versammlungen teilzunehmen. 

All das scheint angesichts der wachsenden internationalen Unterstützung sehr erreichbar. Entsprechend ausgelassen, aber auch kämpferisch war die Party am Abend und die Demonstration um Mitternacht an Silvester. Es wurde durchgehend gesungen – vor allem „occupiamola“ („Lasst sie uns besetzen“) – ein Lied, das einer der Beschäftigten, Snupo, nun schon in etlichen Versionen mit den vielen Instrumenten, die er spielt, aufgenommen hat und von dem es bald auch eine deutsche Version geben wird.  

Damit das Fabrikkollektiv und die Genossenschaftsgründung von diesem beispielhaften sozial-ökologischen Projekt erfolgreich sein können, braucht es jetzt viel Unterstützung. Teile die Geschichte der Beschäftigten und, falls möglich, kaufe Genossenschaftsanteile.  
Weitere Informationen: https://www.insorgiamo.org/germany 


Kontext des Beitrags: Die Autorin Greta Waltenberg ist Mitarbeiterin bei Klimaschutz im Bundestag e.V. und setzt sich ehrenamtlich unter anderem für eine stärkere Kooperation zwischen Gewerkschaften und Klimabewegung ein. Im Dezember hat sie das Werk bei Florenz das erste Mal besucht, hatte aber schon vorher Kontakt zu der dortigen Bewegung. Jetzt unterstützt sie die deutsche Kampagne und wird selbstverständlich auch selber Genossenschaftsmitglied.

Bildquelle: https://insorgiamo.org/germany

Arbeit und Transformation, Teil 4: Mit dem Handwerk in Berührung kommen – Eine Analyse des Solarcamps Freiburg 2023 

Titelbild: Credits: Laurin Budnik 

Hinweis: Sofern nicht anders angegeben stammen die Fotos vom Solarcamp Freiburg 

Vom 21. August bis zum 1. September diesen Jahres hat am Nimburger Baggersee erstmalig das Solarcamp Freiburg stattgefunden. Über 50 Teilnehmende hatten in der einwöchigen Ausbildungsphase die Möglichkeit, Grundkenntnisse im Bereich der Aufdach-PV-Montage zu erwerben. Das ehrenamtlich getragene Projekt wurde dabei von lokalen Handwerksbetrieben unterstützt, um eine hohe Ausbildungsqualität zu gewährleisten. In diesem Artikel werden die Zielstellung, das Konzept und die Ergebnisse aus der Umfrage unter den Teilnehmenden vorgestellt. 

Ziele des Solarcamps Freiburg 2023 – Begeisterung für das Handwerk wecken und auf Missstände aufmerksam machen 

Das Solarcamp möchte den Teilnehmenden die Möglichkeit bieten, in einem geschützten Raum unter professioneller Anleitung erste Erfahrungen im Bereich des Handwerks zu sammeln. Diese Erfahrungen sollen im besten Fall dazu führen, dass die Teilnehmenden daraufhin eine Karriere im Klimahandwerk verfolgen.  
Neben dieser offensichtlichen – aber auch sehr wichtigen – Zielstellung versteht sich das Solarcamp auch als eine Initiative mit politischen und gesellschaftskritischen Botschaften und Forderungen. Dazu gehört in erster Linie die Kritik an der Bundesregierung, die zu wenig für den Kampf gegen den eskalierenden Fachkräftemangel im Klimahandwerk unternimmt. Laut Studien könnte sich der Fachkräftemangel in diesem Bereich bis 2035 auf 750.000 Arbeitskräfte vergrößern (Blazejczak/Edler, 2021). Ein Mangel an Beschäftigten in diesem Bereich ist eine ernsthafte Bedrohung für die selbstgesteckten Klimaziele der Bundesregierung. Für den Gebäudebereich wurde gezeigt, dass durch ein zu geringes Fachkräfteangebot die Reduktionsziele deutlich verfehlt werden könnten (Thamling et al., 2023). Um diesem drohenden Kollaps entgegenzuwirken, müsste die Bundesregierung sofort Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Arbeitsbedingungen und Löhne im Klimahandwerk attraktiver zu machen.  

Auch setzt sich das Klimacamp Freiburg dafür ein, dass sich die gesellschaftliche Anerkennung der Handwerksberufe maßgeblich verbessert. Aus diversen Studien ist bekannt, dass körperliche Arbeit im Vergleich zu geistiger Arbeit in Deutschland immer noch abgewertet wird: “Dies gilt umso mehr, als nach Ansicht von Berufsbildungsfachleuten die Überzeugungen von der vermeintlichen Nachrangigkeit der beruflichen Bildung gegenüber der Hochschulausbildung und von der vermeintlichen Minderwertigkeit von Berufen mit überwiegend körperlicher Arbeit in der Gesellschaft weiterhin stark verankert sind” (Mischler et al., 2018). 

Ein ganz besonderes Anliegen für das Solarcamp ist die Öffnung des Klimahandwerks für unterrepräsentierte Personengruppen, insbesondere für Frauen und INTA* (inter, non-binary, trans, agender). 

An dieser Stelle ist es auch wichtig zu betonen, was sich das Solarcamp Freiburg nicht als Ziel setzt: Innerhalb von einer Woche Fachkräfte ausbilden. Vielmehr ist es die Möglichkeit, Einblick in ein zukunftsorientiertes Handwerk zu erhalten. Aus einer bisher unveröffentlichten Umfrage der Energieagentur Regio Freiburg, wissen wir, dass PV-Installationsbetriebe nicht ausschließlich ausgebildete Fachkräfte, sondern auch ungelernte Hilfskräfte suchen. In diesem Bereich kann das Solarcamp dazu beitragen, die Lücke ein wenig zu schließen. 

Hintergrund 

Das erste Solarcamp hat 2022 in Braunschweig stattgefunden, damals noch unter dem Namen “Energiecamp” (Fridays for Future Braunschweig, n.d.). Freiburg hat das Grundkonzept mit geringfügigen Modifikationen von Braunschweig übernommen.  

Neben Freiburg haben dieses Jahr auch in Kassel (Hessenschau, 2023), Berlin (Tagesspiegel, 2023) und Lüneburg (Landeszeitung, 2023) Solarcamps stattgefunden. Unterstützt werden die lokalen Gruppen von der Bundesebene “Solarcamp for Future”. Sie bietet Vernetzungsmöglichkeiten an, damit der Wissenstransfer zwischen den Städten problemlos funktioniert. Die Bundesebene hat darüber hinaus ein Handbuch entworfen, in dem die wichtigsten Fragen für die Organisation, Planung und Durchführung eines Solarcamps adressiert werden. Ziel ist es, möglichst viele Gruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu motivieren, in der eigenen Stadt ein Solarcamp auf die Beine zu stellen. 

Ferner wurde bei der Organisation des Solarcamps Freiburg 2023 Wert daraufgelegt, dass die Teilnahme nicht von den finanziellen Mitteln der Teilnehmenden abhängt. So wurde zur besseren Planbarkeit zwar ein Schutzbetrag von 60 Euro erhoben, dieser konnte aber mit Verweis auf eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten ohne weitere Nachfragen komplett aufgehoben worden. Diese Möglichkeit wurde auch in 11 Fällen in Anspruch genommen. Die 60 Euro pro Person hätten die Gesamtkosten nicht ansatzweise gedeckt. Um einen in finanzieller Hinsicht barrierefreien Zugang zu ermöglichen, hat das Organisationsteam großen Wert daraufgelegt, dass Camp mit Hilfe von Netzwerkpartner*innen (JobRad, EWS, FFF, Patagonia) zu finanzieren. 

Inhalte 

Das Programm ist in eine einwöchige Ausbildungsphase vor Ort im Solarcamp und eine einwöchige Praxisphase im Betrieb (Praktikum) aufgegliedert. Wobei die Praktikumsphase optional ist und nicht von allen Teilnehmenden in Anspruch genommen wird. 

In der Ausbildungsphase werden folgende theoretische Inhalte angerissen: 

  • Funktionsweise der Komponenten einer PV-Anlage 
  • Sicherer Umgang mit elektrotechnischen Anlagen 
  • Planung von PV-Anlagen 
  • Energiewende und PV-Branche im Überblick 

Für den sicheren Umgang mit elektrotechnischen Anlagen wird ein ganzer Tag investiert. Nach dem theoretischen Input am Morgen folgt am Nachmittag eine kurze Prüfung zur Elektrotechnisch unterwiesenen Person (EuP). Diese Prüfung ist Voraussetzung, um einfache Tätigkeiten an elektrotechnischen Anlagen unter Aufsicht durchführen zu dürfen. 

Theorie Quelle Solarcamp

Neben der theoretischen Inhalte gibt es auch eine praktische Einführung in die Aufdach-Montage von Solaranlagen. Hier dürfen die Personen folgende Schritte unter professioneller Anleitung selbst durchführen: 

  • Einzeichnung des Installationsfelds 
  • Setzen der Dachhaken 
  • Bearbeitung der Ziegel (flexen bzw. ausklinken der Ziegel) 
  • Befestigung der Montageprofile 
  • Anklemmung und Verkabelung der PV-Module 
Ziegel Flexen

Um den Lerneffekt zu vergrößern, wird der Installationsvorgang an unterschiedlichen Dachtypen wiederholt, sprich an Dachflächen mit anderen Eindeckungen (Beton-, Tonziegel, Frankfurter Pfanne, Biberschwanz, Trapezblech) und mit verschiedenen Neigungen. Dafür wurden von einer Freiburger Berufsschule zwei Übungsdächer gezimmert, die das Erlernen der verschiedenen Installationstechniken in sicherer Höhe ermöglichen. Zentral ist die Möglichkeit für die Teilnehmenden, alle relevanten Werkzeuge und Maschinen für die Aufdach-PV selbst zu bedienen. Dies geschieht natürlich erst nach einer Einweisung, unter Aufsicht von ausgebildeten Fachkräften und ausgestattet mit der notwendigen Persönlichen Schutzausrüstung (PSA). 

Uebungsdaecher Quelle Solarcamp

Darüber hinaus wurde der Freiburger Ausbildungskanon um einen Workshop im Bereich der Balkon-Montage erweitert, in dem einerseits das fachgerechte Montieren von PV-Modulen an Fassaden bzw. Balkonen und andererseits das Upcycling von ausrangierten Aufdach-Modulen vermittelt wurde. Dieser Workshop wurde von dem bundesweit tätigen Verein BalkonSolar durchgeführt. 

In der zweiten Woche hatten die Teilnehmenden dann die Möglichkeit praktische Erfahrungen bei einem Betrieb im Rahmen eines Praktikums zu sammeln. Je nach Betrieb sind die Möglichkeiten zur Mitarbeit unterschiedlich. Aber es wird angestrebt, dass die Teilnehmenden aktiv in den Montageprozess eingebunden werden und so ihre Kenntnisse vertiefen und erweitern können.  

Umfrage / Zusammensetzung der Teilnehmenden 

Die Umfrage unter den Teilnehmenden wurde gemeinsam mit einem Forscher der TU Berlin konzipiert. Die Antworten der beiden Kohorten werden hier aggregiert betrachtet. Insgesamt haben sich 45 Teilnehmende an der Umfrage beteiligt (N = 45). Alle folgenden Darstellungen und Zahlen basieren (wenn nicht anders angegeben) auf dieser nicht repräsentativen Umfrage. 

In Freiburg wurde besonderer Wert daraufgelegt, dass unterrepräsentierte Gruppen die Möglichkeit bekommen, am Solarcamp teilzunehmen. Es wurde intern eine harte 50%-FINTA*-Quote vereinbart. Hätte es für diese Quote nicht genügend Bewerbungen gegeben, wäre das Camp konsequenterweise abgesagt worden. 

Grund für diese strikte Haltung sind die geringen Zahlen an Frauen und INTA*, die in diesem Bereich tätig sind. Auf der folgenden Grafik wird deutlich, dass der Anteil in den einschlägigen Berufen des Klimahandwerks extrem gering ist. 

Frauenanteil Neu Abgeschlossen Ausbildungsvertraege 2022 Im Klimahandwerk

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Destatis, 2023 (xlsx); BIBB, 2022 

Damit dieser nicht zufriedenstellende Status-Quo nicht reproduziert wird, wurde ein besonderes Augenmerk daraufgelegt, diese Zielgruppe mit der Ausschreibung anzusprechen. 

Wie auf der Grafik erkennbar, wurde die FINTA*-Mindestquote mit einem FINTA*-Anteil von 56 % sogar leicht übertroffen. 

Gender

Die meisten Teilnehmenden haben als Hauptbeschäftigung “Studium” (44 %) angegeben. Der hohe Wert erklärt sich teilweise daraus, dass der Großteil des Organisationsteams ebenfalls studiert. Da es sich um die erste Ausgabe des Solarcamps in Freiburg handelte, gab es keine finanziellen Mittel, um große Werbekampagnen zu starten. Gleichzeitig ist es ein ganz natürlicher Effekt, dass viele Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld des Organisationsteams auf das Angebot aufmerksam geworden sind.

Hauptbeschaeftigung

Der Altersdurchschnitt der Teilnehmenden betrug 31,7 Jahre. Die größte Gruppe stellten mit 42 % die 20-29 Jährigen, was mit dem hohen Anteil an Studierenden koinzidiert. Aber immerhin 11 % der Teilnehmenden waren bereits 50 oder älter.

Altersverteilung

Auf der folgenden Grafik ist zu sehen, mit welchen Bildungsvoraussetzungen die Teilnehmenden ins Camp gekommen sind. Die Antwortmöglichkeiten “kein Abschluss”, “Hauptschulabschluss” bzw. “Mittlere Reife” wurden jeweils null mal gewählt. Die Gruppe mit akademischem Abschluss dominiert das Teilnehmendenfeld mit 45 %. Die Menschen mit Abitur bilden mit 36 % die 2. größte Gruppe. Das Organisationsteam des Solarcamps ist sich dieser Unausgewogenheit bewusst. Für die nächste Ausgabe des Solarcamps soll verstärkt an Haupt-, Werkreal- und Realschulen geworben werden.

Hoechster Abschluss

Arbeitszeitpräferenzen 

Die Teilnehmenden wurden weiterhin gefragt, wie viele Stunden pro Woche sie in einer idealen Welt arbeiten würden. Mit 28 Stunden liegt die Zeitpräferenz unter dem Schnitt aller Arbeitnehmer*innen, die nach neusten Erhebungen etwa 32 Stunden pro Woche arbeiten möchten (IAB, 2023). Die Differenz kann teilweise mit einer geringfügig anderen Fragestellung erklärt werden. Während bei der Erhebung des IAB die Arbeitnehmer*innen nach ihrer Wunscharbeitszeit unter gegeben Bedingungen gefragt werden, wurden die Camp-Teilnehmenden nach ihrer Wunscharbeitszeit in einer idealen Welt gefragt. In dieser wäre es natürlich auch denkbar, dass durch ein höheres Lohnniveau mit einer geringeren Anzahl an Stunden ein ausreichendes Einkommen erwirtschaftet werden kann.

Ideale Arbeitszeit

Ebenfalls wurde gefragt, wie viele Stunden idealerweise davon pro Woche in einem handwerklichen Betätigungsfeld geleistet werden sollten. Die erstaunliche Antwort: Ca. 20 Stunden pro Woche. Das entspricht einem Anteil von 71 %. Das ist erstaunlich, weil ein Großteil der Teilnehmenden durch Bürojob oder Studium aktuell einer überwiegend sitzenden Tätigkeit nachgeht.

Ideale Arbeitszeit Handwerklich

Auffällig ist der hohe Anteil in der Kategorie “11-20 Stunden”. Daraus lässt sich ableiten, dass der Wunsch einer Arbeit im Handwerk in Teilzeit nachzugehen sehr ausgeprägt ist. Dem steht gegenüber, dass im handwerklichen Bereich aktuell allenfalls kaufmännische Beschäftigte Teilzeitmodelle in Anspruch nehmen können. Wie auf der Grafik ersichtlich ist dieses Arbeitsmodell im gewerblich-technischen Bereich quasi nicht existent (Zoch, 2009).

Arbeitsmodelle Baugewerbe

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Zoch, 2009, S. 52 

Gründe nicht ins Handwerk zu gehen

Gruende Gegen Das Handwerk Ueber Mittelwert

Für das Organisationsteam war es auch von Interesse, warum die Teilnehmenden des Solarcamps, die ja schon durch die Teilnahme eine gewisse Affinität oder zumindest Aufgeschlossenheit und Neugierde für das Handwerk zeigen, noch nicht im Handwerk tätig sind.  Die Ergebnisse der Freiburger Umfrage decken sich größtenteils mit den Angaben in der Literatur. 

Dem Kriterium “Arbeitsbedingungen” attribuieren die Befragten die höchste Relevanz. Darunter fallen üblicherweise starre und lange Arbeitszeiten, Überstunden, körperliche Überlastung, schlechte Kommunikationskultur, geringe Aufstiegschancen, wenig Möglichkeiten zur Weiterbildung, schwierige Vorgesetzte, wenig Mitbestimmung. 

Für 53 % der Teilnehmenden hat die Aussage “Es war immer klar, dass ich studiere” eine (hohe) Relevanz. Daraus geht hervor, dass die elterliche Prägung bzw. elterliche Meinung und das soziale Umfeld einen großen Einfluss auf die Berufswahl haben. Wenn die eigenen Eltern Akademiker*innen sind, die Eltern zumindest unterbewusst vermitteln, dass ein Studium mehr wert ist als eine Ausbildung und ein Großteil der Freund*innen ebenfalls studieren will, setzen sich viele junge Menschen gar nicht mit der Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung auseinander (Hampel et al., 2003). Der extrem hohe Wert von 53 % erklärt sich auch durch die Teilnehmenden-Struktur, die überdurchschnittlich viele Studierende und Akademiker*innen aufweist. 

“Angst vor männerdominierten Strukturen” erreicht ebenfalls einen hohen Wert. In der Literatur erscheinen sinnverwandte Items unter dem Namen “Arbeitskultur” und werden dort auch als zentrales Merkmal für die Arbeitsplatzattraktivität und Weiterempfehlungsbereitschaft identifiziert (Radermacher, 2022). Bei diesem Kriterium hat das Gender einen signifikanten Einfluss auf die Beantwortungsmuster. Werden nur FINTA*-Personen befragt, erreicht das Kriterium sogar den höchsten Rang in der Fragen-Batterie “Gründe gegen das Handwerk”. Das zeigt, dass Betriebe, die aufrichtig daran interessiert sind, Frauen als Beschäftigte zu gewinnen, dafür sorgen müssen, dass der Arbeitsplatz ein sicherer und diskriminierungsfreier Raum ist. 

Angst Vor Maennerdominierten Strukturen

Abschreckend ist auch das vergleichsweise geringe Lohnniveau im Handwerk. Fachkräfte können bei einem Wechsel in die Industrie im Schnitt 1000 Euro pro Monat mehr verdienen (Frankfurter Rundschau, 2019). Dies ist einer der Gründe, warum 2006 nur 36,5 % der Menschen, die im Handwerk eine Ausbildung absolviert haben, auch immer noch in diesem Sektor arbeiten (Haverkamp et al., 2016). Das Lohnniveau spielt auch in einem ganz anderen Kontext eine wichtige Rolle: Arbeitszeiten flexibel einzuteilen ist ein Privileg und hat viel mit der Höhe des Stundenlohns zu tun. Ist in einer Branche der Lohn so gering, dass es bei einer 40-Stunden-Woche gerade so reicht, sind flexible Arbeitsmodelle mit reduzierter Arbeitszeit ein leeres Versprechen, weil die Beschäftigten diese aus ökonomischen Gründen nicht in Anspruch nehmen können. 

Auch wird die Aussage “Mir ist die Ausbildung zu lang” in vielen Fällen von den Befragten unterstützt. Hier muss aber beachtet werden, dass die meisten Befragten schon mitten im Studium oder bereits berufstätig sind und somit als Quereinsteiger*innen ihren Weg ins Handwerk finden würden und nicht durch eine sogenannte Erstausbildung. Bei einer Befragung von Schüler*innen würde die Bewertung vermutlich ganz anders ausfallen, weil der Karriereweg über ein Studium in der Regel länger dauert. Die Quereinsteiger*innen sehen also die 3-jährige-Berufsausbildung als zu lang an, was auch verständlich ist, weil eine berufstätige Person dann 3 Jahre lang mit einem sehr geringen Ausbildungsgehalt zurechtkommen und in der Berufsschule allgemeine Fächer belegen müssten, deren Inhalt unter Umständen schon bekannt sind und nichts mit der fachspezifischen Ausbildung zu tun haben. Dieses Problem ist von verschiedenen Akteur*innen erkannt worden. Das große Unternehmen Enpal hat eine Akademie ins Leben gerufen, um den eigenen Arbeitskräftemangel zu lösen (PV Magazine, 2022). Dort werden Menschen für die DC- (Gleichstrom, Dachmontage) und AC-Installation (Wechselstrom, Anschluss an Hauselektrik) ausgebildet. Die Schulungen dauern nach Angaben des Unternehmens 2 Wochen. Die Schulung ist primär kostenfrei und erst danach klärt sich, wer übernommen wird und wer nicht (agrajo, 2022). Das Modell von Enpal wird durchaus kontrovers diskutiert. Gewerkschaften sehen die Kurzschulungen eher kritisch, weil die Gefahr besteht, dass Arbeitskräfte zu spezifisch auf Enpal eigene Lösungen trainiert werden und dann z.B. nicht so einfach ihren Arbeitsplatz wechseln können, wie es mit einer vollen und staatlich anerkannten Berufsausbildung der Fall wäre (DHZ, 2023).   

Ein weiteres Modell, um die Ausbildungszeiten zu verkürzen, sind die noch recht unbekannten Teilqualifizierungen. Dabei werden die Inhalte einer Berufsausbildung (z.B. Elektriker*in) in 5-7 Module (Teilqualifizierungen) unterteilt und können dann in einem Zeitraum von 3-4 Monaten absolviert werden. Schon nach dem ersten Modul kann der Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingen und es gibt die Option die weiteren 4-6 Module nach und nach zu absolvieren und im Anschluss zu einer sogenannten Externenprüfung bei der Handwerkskammer zugelassen zu werden, um einen vollwertigen Berufsabschluss zu erwerben (Arbeitgeberinitiative Teilqualifizierung, n.d.). Diese Thematik werden wir aber in einem separaten Artikel ausführlich behandeln. 

Interesse an anderen Berufen des Klimahandwerks 

Grundsätzlich besteht bei den Teilnehmenden auch ein Interesse an anderen Klimahandwerksberufen. 74 % könnten sich vorstellen an einem Wärmepumpen-Camp teilzunehmen. Ob ein solches Camp mit vergleichbarem finanziellem, personellem und zeitlichem Aufwand oder überhaupt umsetzbar wäre, kann das Organisationsteam des Solarcamps Freiburg aber nicht einschätzen.

Bereitschaft Teilnahme Waermepumpen Camp

Veränderung der Wahrnehmung des Handwerks durch das Solarcamp 

Nach Selbsteinschätzung der Teilnehmenden hat sich deren Einstellung zum Handwerk in den meisten Fällen verbessert. Auch dies ist erstaunlich, weil durch die Ausschreibung insbesondere Menschen angesprochen wurden, die schon ein Interesse und sehr wahrscheinlich eine positive Einstellung zum Handwerk hatten. Dass sich die Einstellung zum Handwerk dennoch weiter verbessert hat, hat sicher etwas mit dem direkten Kontakt zu den Ausbildern zu tun, die von den meisten Teilnehmenden als sehr freundlich und kompetent wahrgenommen worden sind. Außerdem spielt es in den meisten Fällen wahrscheinlich auch eine Rolle, dass die Teilnehmenden sich bewusst geworden sind, dass sie selbst die Fähigkeiten mitbringen, um im Handwerk (beruflich) aktiv zu werden.

Einstellung Handwerk Positiv Beeinflusst

Ambitionen für das Solarcamp 2024 

Neben vielen Dingen, die bei der ersten Freiburger Ausgabe gelungen sind, gibt es natürlich auch Aspekte, die bei folgenden Auflagen noch verbessert werden können. 

Die praktische Ausbildung wurde nur von Männern durchgeführt. Hier ist der Anspruch beim nächsten Camp zumindest eine Frau als praktische Ausbilderin zu gewinnen. Natürlich ist das kein Selbstläufer, weil die Zahl der Monteurinnen extrem gering ist. Nichtsdestotrotz lohnt es sich hier, extra viel Arbeit zu investieren, weil weibliche Vorbilder eine wichtige Rolle dabei spielen, den Schritt ins Handwerk als ganz natürliche und gewöhnliche Karriereoption für Frauen zu etablieren. 

Ziel ist es außerdem beim nächsten Mal mehr Schüler*innen zu erreichen. Da in der ersten Auflage alles sehr kurzfristig organisiert wurde, darunter auch die Ausschreibung, war es schwierig die Schüler*innen in den Abschlussjahren noch über ihre Lehrer*innen zu erreichen. Der Fokus wird auch beim nächsten Mal nicht ausschließlich auf dieser jungen Zielgruppe liegen, aber sie ist eine wertvolle Ergänzung und bietet für die Betriebe die attraktive Möglichkeit mögliche Kandidat*innen für freie Ausbildungsplätze kennenzulernen. 

Weitere Aktivitäten 

Auch ist das Solarcamp Freiburg 2023 ein Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. So hat das Organisationsteam beschlossen, sich auch weiterhin für soziale Gerechtigkeit und die Energiewende einzusetzen. Aktuell wird ein Projekt vorangetrieben bei dem in einem Freiburger Brennpunktviertel ein Gebäudekomplex komplett mit Balkon-PV-Anlagen ausgestattet werden soll. Dies wird für die Bewohnenden komplett kostenfrei geschehen. Ziel ist es, Menschen für die Energiewende zu begeistern und einkommensschwache Haushalte bei den Stromkosten zu entlasten. Schlüssel zum Erfolg bei diesem Projekt ist die gute und ausführliche Kommunikation mit den Bewohnenden im Vorfeld. Es soll niemandem etwas aufgedrückt werden, was sie oder er nicht will. Gleichzeitig wird mit der Aktion auch eine politische Botschaft verbunden: Die aktuelle Förderpraxis für Balkonkraftwerke in Freiburg geschieht mit der Gießkanne und berücksichtigt keinerlei soziale Kriterien. Hier wird die Gruppe um das Solarcamp Freiburg in Zukunft auch Vorschläge unterbreiten, wie die öffentlichen Mittel noch zielgerichteter eingesetzt werden können.

Weingarten

Dieses oder ein anderes Gebäude in Freiburg Weingarten könnte im Rahmen des Projekts komplett mit Balkon-PV ausgerüstet werden. Quelle: Solarcamp Freiburg 

Grenzen des Solarcamps 

Auch wenn das Solarcamp eine gute Möglichkeit ist, Menschen mit dem Handwerk in Berührung zu bringen, muss gleichzeitig konstatiert werden, dass die Attraktivität des Klimahandwerks allein durch das Camp nicht steigt. Die vielfältigen Probleme, die in den Betrieben und Gewerken des Klimahandwerks in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen (geringe Entlohnung, wenig Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, patriarchale Strukturen, schlechte Absicherung im Krankheitsfall, geringes Ansehen, körperlicher Verschleiß) werden durch das Solarcamp nicht verbessert (George, 2023). Hier bedarf es weitergehender Initiativen, die sich intensiv mit diesen Missständen auseinandersetzen und konkrete Lösungsansätze entwickeln. Gleichzeitig ist es möglich, dass durch das Solarcamp neue Zielgruppen ihren Weg nach und nach in das Klimahandwerk finden und es dadurch langfristig mitprägen und verändern. 

It’s a match 

Als Erfolg ist hervorzuheben, dass in einigen Fällen das Solarcamp Betrieb und Arbeitnehmer*in zusammengebracht hat. Nach aktueller Kenntnislage des Organisationsteams wurden im Nachgang des Solarcamps 5 Arbeitsverträge unterschrieben. Diese Zahl kann aber noch nach oben korrigiert werden: Ende des Jahres findet eine erneute Umfrage unter den Teilnehmenden statt, bei der auch spezifisch gefragt wird, ob inzwischen ein (Neben)Job in der PV-Branche begonnen wurde. Gleichzeitig kann auf diese Zahl aber auch kritisch geblickt werden. Denn unter den Teilnehmenden war der Wunsch, einen Neben- bzw. Hilfsjob in der PV-Montage nach dem Solarcamp aufzunehmen, besonders groß (67 %). Hier besteht also noch ein großes Passungsproblem zwischen Menschen auf der Arbeitnehmer*innenseite, die an zeitlich flexiblen Einsatzmöglichkeiten interessiert sind und Betrieben, die weiterhin vor allem nach Vollzeitkräften suchen. Wie hier in Zukunft eine bessere Passung erreicht werden kann, werden wir in einem dezidierten Projekt untersuchen. 

Nebenjob Als Monagehilfskraft

Podiumsdiskussion 

Zum Abschluss des Solarcamps wurde eine Podiumsdiskussion zwischen Vertreter*innen der Agentur für Arbeit, des Handwerks, der Politik und des Solarcamps organisiert. Dabei wurde vom Handwerk der Wunsch nach einem neuen Berufsbild (Solateur*in) geäußert, das Inhalte aus der Dachdecker*in- und der Elektriker*in-Ausbildung in sich vereint, dabei aber auf relevante Aspekte begrenzt und mit 2 Jahren deutlich kürzer ist als die Ausbildungsberufe, die heute für eine Tätigkeit in der PV-Installation vorbereiten.  

Auch wurde die Rolle der Politik thematisiert. Aus Sicht des Solarcamps es ist die Aufgabe der Politik eine langfristige Strategie zum Aufbau von Handwerkskapazitäten zu erarbeiten. Einzelne kleine Handwerksbetriebe sind nicht in der Lage diese Rolle zu übernehmen. Die Politik müsste hier aufgrund der eigenen Ziele im Bereich der energetischen Sanierung und des Ausbaus der Erneuerbaren Energien den Arbeitskräftebedarf prognostizieren und diesen mit dem voraussichtlichen Angebot vergleichen. Sollte es bei dieser Betrachtung zu einer Lücke kommen (was bei den meisten Kommunen der Fall sein dürfte) müssen Schritte eingeleitet werden, um die Ausbildungs- und Umschulungskapazitäten entsprechend zu erhöhen und durch geeignete Maßnahmen die Attraktivität des Handwerks so weit zu erhöhen, dass sich eine ausreichend große Zahl an Menschen für dieses Arbeitsfeld begeistert.

Podiumsdiskussion

Fazit 

Während bei den Teilnehmenden die selbstgesteckte FINTA*-Quote erfüllt wurde, sah es auf der Ausbilder*innen-Seite noch sehr unausgewogen aus. Im Camp 2023 haben nur männliche Ausbilder die praktischen Teile angeleitet. Da ist für nächstes Jahr noch Luft nach oben.  

Das Solarcamp hat über seine Durchführungszeit im August/September hinaus Wirksamkeit entfaltet, z.B. indem einzelne Teilnehmende bei den Partnerbetrieben einen Job gefunden haben. Die Missstände im Handwerk konnten durch das Solarcamp natürlich nicht behoben werden, noch wurde der Arbeitskräftemangel gelöst, aber und das ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt: Es wurden viele wertvolle Verbindungen zwischen ganz unterschiedlichen Netzwerkakteur*innen geknüpft, die sich nun bei der großen Aufgabe, die Arbeitsbedingungen im Handwerk attraktiver zu gestalten, gegenseitig unterstützen können. Sehr wichtig waren auch die Nachgespräche mit den lokalen Handwerksbetrieben. Diese waren insgesamt sehr zufrieden mit der Kooperation und sind bei der Ausgabe im nächsten Jahr gerne wieder mit dabei.

Gruppenfoto Woche 1

Transparenzhinweis: Der Autor hat selbst ehrenamtlich bei der Planung und Durchführung des Solarcamps Freiburg 2023 mitgewirkt. 

Arbeit und Transformation, Teil 3: Wie machen wir das Handwerk wieder attraktiv?

Mit ca. 1 Million Betrieben, über 5,5 Millionen Beschäftigten, ca. 360.000 Auszubildenden und einem Jahresumsatz von 739 Milliarden Euro versteht sich das Handwerk zurecht als Wirtschaftsmacht von nebenan (ZDH, 2023). Trotz dieser beeindruckenden Zahlen steht das Handwerk vor vielfältigen Herausforderungen. Das wahrscheinlich gravierendste Problem ist der grassierende Arbeits- und Fachkräftemangel. Verschaffen Sie sich in unserem Artikel “Zahlen, Zahlen, Zahlen – Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich?” einen genauen Überblick über die aktuelle Situation. Im Folgenden präsentieren wir zunächst problematische Rahmenbedingungen, Probleme und Defizite im Handwerk und diskutieren anschließend mögliche Lösungsansätze. 

Fortschreitende Akademisierung erodiert die Nachwuchsbasis 

Der Trend zum Studium in Deutschland ist ungebrochen. Aktuell sind 2,9 Millionen Menschen in Deutschland an einer Hochschule immatrikuliert, während sich nur 1,2 Millionen in einer Ausbildung befinden. Die Verhältnisse haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Auf der Grafik sieht man, dass sich noch vor ca. 20 Jahren die beiden Lager bei 1,7 Millionen Personen in etwa die Waage gehalten haben. Seitdem ist die Zahl der Auszubildenden stetig gesunken und die der Studierenden stetig gewachsen. 

Entwicklung Der Studierenden Vs Auszubildenden

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Destatis, 2023BIBB Bildungsbericht, 2006; Statista, 2023

Dafür verantwortlich ist u.a. die Abiturquote von 48,4 %. Im historischen Vergleich ist sie hoch, in den letzten 10 Jahren ist sie jedoch nicht mehr merklich gestiegen, sondern oszilliert um 50 % (Destatis, 2022, S. 113). Die Abschaffung der Hauptschule in vielen Bundesländern hat ebenfalls dafür gesorgt, dass die angestammte Basis für den Handwerknachwuchs geschrumpft ist. Mit Blick auf das deutsche Schulsystem gab Hampel schon 2003 zu bedenken:  

“Das dreigliedrige Schulsystem führt zu einer „Versäulung“ beruflicher Erwartungen. Das Handwerk sei, so der Tenor an Realschulen und Gymnasien, etwas für Hauptschüler. Diese Segregation der Berufserwartungen führt dazu, dass selbst Hauptschüler, die an einer Werkrealschule die Mittlere Reife anstreben, vom Handwerk kaum noch gewonnen werden können. Diese fixe Verknüpfung von schulischer und beruflicher Ausbildung wird der Differenziertheit des Arbeitsmarkts kaum noch gerecht. Aus arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten wäre zu überlegen, ob ein hierarchisches Schulsystem, das einseitig kognitive Fähigkeiten entwickelt, dem differenzierteren Arbeitskräftebedarf der Zukunft gerecht wird” (Hampel, et al., 2003, S. 47) 

Und obwohl sich das Handwerk zu großen Teilen aus den eigenen Reihen rekrutiert (der Wunsch eine Ausbildung im Handwerk zu beginnen korreliert stark mit Eltern, die selbst im Handwerk arbeiten) ist auch dieser Mechanismus nicht mehr intakt. Nur 46 % der Handwerker würden den eigenen Kindern empfehlen selbst eine Karriere im Handwerk zu verfolgen (Hampel, et al., 2003, S. 32). An diese Stelle ist in vielen Fällen der Satz getreten “Du sollst es mal besser haben” und drückt aus, dass das Angebot aus Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Ansehen und gesundheitlichen Faktoren nicht mehr als erstrebenswert angesehen wird.  

Eine Ausbildung im Handwerk ist keine Garantie für eine Beschäftigung im Handwerk 

Traditionell bildet das Handwerk über den eigenen Bedarf aus. Und es gab Zeiten, in denen es für die Beschäftigten ein Segen war, dass die Industrie eine Alternative darstellt. In der Zeit von 1995 bis 2005 gab es für Handwerksaufträge eine extrem schwache Konjunktur. In dieser Handwerkskrise haben 1,4 Millionen Menschen das Handwerk verlassen und sind größtenteils im Facility Management (Dienstleistungssektor) oder in der Industrie untergekommen (Haverkamp/Gelzer, 2016, S. 10). Der Markt hat sich aber längst gedreht und das Handwerk ächzt unter der großen Zahl von gut ausgebildeten Fachkräften, die den eigenen Sektor verlässt. Auf der Grafik ist zu sehen, dass 2012 nur 36,5 % der Menschen, die im Handwerk eine Ausbildung absolviert haben, auch tatsächlich im Handwerk arbeiteten.

Prozent Arbeiten Im Handwerk Die Darin Ausgebildet Wurden

Quelle: Haverkamp, 2016, S. 11

Die Gründe sind vielfältig, aber ein ganz entscheidender Faktor sind die Lohnunterschiede zwischen dem Handwerk und der Industrie. Facharbeiter*innen können mit einem Wechsel in die Industrie im Schnitt mit einem 1.000 Euro höheren Gehalt (brutto) rechnen (Frankfurter Rundschau, 2019). 

Für viele Abiturient*innen, die eine Lehre im Handwerk absolvieren, ist es oftmals auch nur eine Durchgangsstation. Die Idee durch ein Studium ein höheres Prestige zu erlangen und mehr Geld zu verdienen, ist auch nicht unbegründet. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass das akkumulierte Lebensarbeitseinkommen nach Abschluss stark differiert. Es ist ersichtlich, dass das Lebensentgelt durch ein Studium im Vergleich zu einer Berufsausbildung um 830.000 Euro steigt. Richtig ist aber ebenfalls, dass eine Aufstiegsfortbildung (Techniker*in, Meister*in) ebenfalls zu deutlich höheren Entgelten führt (Stüber, 2022, S. 5). 

Durchschnittliche Brutto Lebensentgelte Nach Abschluss

Quelle: Stüber, 2022, S. 5 

Handwerker*innen werden mit ihren gesundheitlichen Risiken allein gelassen 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Arbeit im Handwerk mitunter körperlich sehr anstrengend ist. Dagegen spricht grundsätzlich auch nichts und übt auf viele Menschen sogar einen gewissen Reiz aus. Diskussionswürdig wird es erst, wenn Belastungen zu gesundheitlichen Problemen führen. Ein Blick auf die Empirie zeigt, dass es in viele Berufen systematisch zu Überbelastungen kommt. In akademischen Berufen, die größtenteils im Sitzen und im Büro ausgeübt werden, ist der Anteil derer, die aufgrund gesundheitlicher Probleme frühzeitig in den Ruhestand gehen, sehr gering. In der Tabelle ist ersichtlich, dass Physiker*innen z.B. nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 3,62 % eine Erwerbsminderungsrente beziehen.

Liste Der Ungefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Ungefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011

Ganz anders sieht es bei den Gerüstbauer*innen aus. Hier ist es mit einer Erwerbsunfähigkeitsrate von 52,18 % sogar eher die Ausnahme als die Regel, dass ein Beschäftigter den Beruf bis ins Rentenalter ausüben kann. Auch bei den Dachdecker*innen, Estrichleger*innen, Fliesenleger*innen, Zimmerer*innen und den Maurer*innen ist die Lage prekär. 

Liste Der Gefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Gefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011 

Diese systematische körperliche Überlastung wirkt auch abschreckend auf junge Menschen, die sich mit ihren Zukunftsoptionen auseinandersetzen. In einer Studie aus dem Jahr 2003 gaben viele Auszubildende im Handwerk an, dass ihnen der Blick in die Zukunft Sorge bereite, weil sie nicht wüssten, ob sie in der Lage wären, den angestrebten Beruf bis zur Rente ausüben zu können (Hampel et al., 2003, S. 40). 

Ein Grund für den körperlichen Verschleiß sind die Zwangshaltungen, in denen Handwerker*innen je nach Gewerk einen nennenswerten Teil ihrer Arbeitszeit verharren. Die Abbildung zeigt, dass Maurer*innen im Akkord bis zu 40 % ihrer Arbeitszeit in einer solchen Zwangshaltung verbringen. Es handelt sich hierbei um Durchschnittswerte. Je nachdem wie der Arbeit auf der Baustelle organisiert ist, können die tatsächlichen Werte auch stark nach oben oder unten abweichen (Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150).

Arbeiten In Zwangshaltungen

Quelle: Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150 

Im Fall der Erwerbsunfähigkeit geht es um die Existenz 

Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit gerät oftmals nicht nur das Selbstbild ins Wanken, sondern ebenso die ökonomische Existenz. Hier zeigt sich die Unfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme, aber auch der Entlohnungsmechanismen, faire Bedingungen für Menschen zu schaffen, die mit der Ausübung ihres Berufs erhebliche Risiken eingehen. Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit springt die staatliche Erwerbsminderungsrente ein. Diese zahlt bis zu 1/3 des letzten Bruttogehalts (LWK Niedersachsen, n.d.). Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente hat nur, wer aus gesundheitlichen Gründen nicht länger als 3 Stunden pro Tag arbeiten kann und zwar nicht nur in dem angestammten Beruf, sondern generell (Deutsche Rentenversicherung, n.d.). In den meisten Fällen ist das nicht gegeben und es kommt zu Abschlägen. Auf der Abbildung sind die Höhen der neu eingetretenen Erwerbminderungsrenten zu sehen. Mit einer durchschnittlichen Höhe von 972 Euro (Männer/West) wird schnell klar, dass die meisten Betroffenen auf das Existenzminimum abrutschen. Mit diesem Betrag ist die Erwerbsminderungsrente zwar nominal höher als das Bürgergeld, aber im Fall des Bürgergeldes werden vom Amt die Kosten für eine angemessene Wohnung übernommen (IAQ, 2022). In Dortmund gilt eine Wohnung mit einer Bruttokaltmiete bis 510 Euro als angemessen (Berliner Morgenpost, 2023). Unter Berücksichtigung dieser Kostenübernahme ist der Unterschied zwischen Bürgergeld und Erwerbsminderungsrente verschwindend gering. 

Durchschnittliche Hoehe Der Erwerbsminderungsrente

Quelle: Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, 2021 

Teilweise ereilt die Betroffenen zusätzlich der Vorwurf, sie hätten nicht ausreichend privat vorgesorgt und seien somit selbst schuld an der Situation. Die Realität ist jedoch, dass es in den oben genannten Risikoberufen schlicht nicht möglich ist, eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen, weil die Prämien im Vergleich zu den gezahlten Löhnen exorbitant hoch sind. 

“Ein kleines Beispiel: Der Versicherungsmakler Matthias Helberg hat errechnet, dass ein Gerüstbauer, der dreißig Jahre alt und kerngesund ist, für seine Berufsunfähigkeitsversicherung zwischen 162 und 417 Euro zahlen müsste. Dachdecker, Maurer und andere Handwerker müssten ähnlich viel Geld auf den Tisch legen. Zum Vergleich: Architekten und Apotheker zahlen im selben Alter und bei gleicher Gesundheit zwischen 33 und 143 Euro” (Nievelstein, 2019). Für diese Berufsgruppen hat die Versicherungsbranche neue Produkte geschaffen, die menschliche Grundfähigkeiten, wie “laufen”, “stehen”, “sehen” versichern. Das klingt erstmal vielversprechend. Jedoch muss auch hier beachtet werden, dass der Versicherungsschutz erst greift, wenn die Person eine solche Grundfunktion gänzlich verloren hat. Selbst nach schweren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sind nach Versicherungsmaßstäben die Grundfunktionen noch partiell erhalten. Gleichzeitig ist an die Ausübung des Berufs aber nicht mehr zu denken. Diese Versicherungsprodukte hören sich in der Theorie also gut an, haben aber in der Praxis aber kaum Relevanz. 

Auch innerhalb des Handwerks bleibt die offene Auseinandersetzung über die gesundheitlichen Risiken die Ausnahme: “Eine proaktive Bearbeitung wird aber nicht angestoßen. Der körperliche Verschleiß ist ein normales und normalisierendes Element der Berufsbiografie, welches einen Exit vor der Regelaltersrente wahrscheinlich macht. Dies verweist auch darauf, dass es i. d. R. nicht zu einer präventiven Bearbeitung kommt – weder individuell noch in den Betrieben” (Blasczyk, 2018). 

Mehr als jeder 4. Ausbildungsvertrag wird aufgelöst 

Ein weiteres Problem ist die Rate der Ausbildungsabbrüche, die seit Jahren auf einem hohen Niveau stagniert. 2019 wurden in Deutschland 26,3 % aller Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst (SWR, 2023). Die Gründe dafür sind sehr vielfältig: finanzielle Gründe (hohe Opportunitätskosten: geringer Ausbildungslohn vs. reguläre Vergütung für ungelernte Kräfte), Probleme mit der Ausbilderin/dem Ausbilder, ausbildungsfremde Tätigkeiten, ungünstige Arbeitszeiten, Überforderung im schulischen Bereich, patriarchale Strukturen in männerdominierten Berufen und geringe Beschäftigungsaussichten (Westdeutscher Handwerkskammertag, 2000; Bessey/Backes-Gellner, 2008). Seit über 20 Jahren wurden in diesem Bereich keine substanziellen Fortschritte gemacht – zumindest nicht in einem Umfang, der die Abbruchquoten deutlich reduziert hätte. 

Wie kann das Handwerk wieder attraktiver werden? Flexible Arbeitszeiten als Lösungsbaustein 

Der Fachkräftemangel hat das Handwerk fest im Griff. Es gibt aber Betriebe, die davon nicht betroffen sind. In einer ZDF-Dokumentation wird die Geschichte einer Malermeisterin präsentiert, die durch den Fachkräftemangel in ihrer Existenz ernsthaft bedroht war. Monatelang blieben ihre Anstrengungen, neue Mitarbeitende zu gewinnen, erfolglos, bis sich dazu entschieden hat, über die Sozialen Medien flexible Arbeitszeiten und eine 4-Tage-Woche anzubieten. Dies bescherte ihr innerhalb von 3 Wochen 50 Bewerbungen. Ein Mitarbeiter bringt die Attraktivität schnell auf den Punkt: Seinen Sohn müsse er jeden Morgen in die Kita bringen. Bei einem strikten Arbeitsanfang um 7 Uhr wie bei seinen vorherigen Arbeitgebern schlicht nicht möglich. In dem aktuellen flexiblen Arbeitszeitmodell hingegen schon (ZDF, 2023). Eine solche Flexibilisierung würde neue Zielgruppen für das Handwerk mobilisieren. Es gibt viele Frauen, für die nur ein Teilzeitmodell in Frage kommt. Fehlt ein solches in den Gewerken, geht ein großer Teil an potenziellen Mitarbeitenden von vornherein verloren. Und auch generell gibt es den Wunsch die Wochenarbeitszeit eher an 32 Stunden auszurichten als an 40 (IWD, 2023). Ein Wunsch, der in einem Bürojob eher erfüllt wird als auf der Baustelle. 

Wir wollen hier keine Augenwischerei betreiben: In dem Büro ist es einfacher auf die Arbeitszeitwünsche der Mitarbeitenden einzugehen. Auf der Baustelle braucht es für viele Tätigkeiten ein Team, das gewisse Fähigkeiten, Erfahrungen und Qualifizierungen mitbringt. Um das sicherzustellen, braucht es also wiederum Arbeit in Form von Koordination. Diese Mehrarbeit kann sich aber lohnen, wenn dafür neue motivierte Mitarbeitende gewonnen und alte erfahrene gehalten werden können. Darüber hinaus kann der Aufwand durch den richtigen Einsatz von digitalen Hilfsmitteln möglichst gering gehalten werden.  

Körperliche Arbeit? Unbedingt! Aber in einem gesunden Maß 

Sich im Beruf physisch zu betätigen ist für viele zunächst einmal ein Attraktivitätsfaktor, solange die physische Arbeit keine Überlastung für den Körper darstellt. Um die körperliche Arbeit in einem gesunden Maß zu halten, sind verschiedene Lösungsansätze denkbar: 

Die Frage, welche Aufträge angenommen werden und in welcher Reihenfolge, sollte neben ökonomischen Überlegungen auch ergonomische beachten. Wenn z.B. bekannt ist, dass Großbaustellen für Mitarbeitenden im Malerbereich besonders anstrengend sind, weil es auch das Streichen von großen Deckenbereichen (das Deckenstreichen ist mit einer Zwangshaltung des Nackens verbunden) mit einschließt, könnte es sinnvoll sein nach einer intensiven Phase mit einer Großbaustelle, Aufträge abzuarbeiten, die aus dem kleinteiligen privaten Bereich kommen, die körperlich weniger intensiv und in der Regel abwechslungsreicher sind (Blasczyk, 2018). 

Auch sollte darauf geachtet werden, dass Arbeiten, die eine Zwangshaltung erfordern, möglichst gut unter den Beschäftigen aufgeteilt werden. Heute dominiert der Gedanke, dass die Person, die die Aufgabe in Zwangshaltung am besten kann, komplett übernimmt. Aus einer kurzfristigen Perspektive erscheint das für den Betrieb auch sinnvoll, weil er Arbeitszeit spart. Auf lange Sicht kann eine solche Einstellung aber zu hohen Kosten führen, wenn Berufskrankheiten oder Krankenstand die Folge sind.

Mit dem Handwerk in Berührung kommen – Durch Solarcamps 

Bei einem Solarcamp kommen Quereinsteiger*innen und junge Menschen ganz niedrigschwellig mit dem Handwerk in Berührung. Ziel ist es die Teilnehmenden an die Aufdach-PV-Montage heranzuführen inklusive der elektrotechnischen Sicherheitsschulung und dem Kennenlernen der dazugehörigen Werkzeuge (Schlagbohrer, Flex, Fuchsschwanz, Kreissäge, etc.). In der ersten Woche werden diese theoretischen und praktischen Kenntnisse innerhalb des Solarcamps mit Hilfe von Übungsdächern vermittelt. Die praktische Schulung übernehmen erfahrene Handwerksbetriebe. In der zweiten Woche haben die Teilnehmenden dann die Chance, die erlernten Kenntnisse direkt auf der Baustelle bei kooperierenden Handwerksbetrieben anzuwenden. Diese Exposition gibt die Möglichkeit, die eigenen handwerklichen Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Aus Untersuchungen wissen wir, dass eine positive Selbsteinschätzung der eigenen handwerklichen Fähigkeiten einer der stärksten Prädikatoren für eine Karriere im Handwerk ist (Mischler, 2017). Die Ergebnisse des Solarcamps in Freiburg sind vielversprechend: Es wurden direkt im Nachgang einige Arbeitsverträge zwischen den Teilnehmenden und den Handwerksbetrieben geschlossen. In Kürze wird hier eine dezidierte Analyse über das Solarcamp Freiburg 2023 verlinkt werden. 
Transparenzhinweis: Der Autor hat an der Organisation des Solarcamp Freiburg 2023 ehrenamtlich mitgewirkt. 

Die Finanzen müssen stimmen – dazu gehört auch die Absicherung 

Wie eingangs erwähnt, gibt es zwischen vergleichbaren Tätigkeiten im Handwerk und in der Industrie gewaltige Lohnunterschiede: So gibt es für die gleiche Qualifikation in der Industrie im Schnitt 1.000 Euro mehr. Diese Schieflage muss dringend abgebaut werden. Zunächst um die Flucht aus dem Handwerk einzudämmen, perspektivisch aber auch um einen attraktiven Übergang von vom Strukturwandel betroffenen Industrien zu ermöglichen. Allein in der Automobilindustrie drohen 300.000 Arbeitsplätze bis 2040 wegzufallen (BMWK, 2020). Ein Weg zu besseren Löhnen sind flächendeckende Tarifverträge. In einer Analyse zeigt die IG Metall, dass im Kfz-Handwerk die Löhne in tarifgebundenen Betrieben im Schnitt 533 Euro höher sind als in nicht tarifgebundenen (IG Metall, 2023). Damit würde auch ein Lohndumping unterbunden werden und Betriebe müssten keine Angst haben, dass sie durch attraktive Gehälter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Dies wird keine leichte Aufgabe sein – gerade in kultureller Hinsicht, weil viele Betriebsinhaber*innen immer noch der Meinung sind, alles könne informell und familiär geregelt werden und sie noch “jeden Gewerkschafter” vom Hof gejagt haben. Hier bedarf es einer sensiblen, aber dennoch zielgerichteten Bemühung der Gewerkschaften, um bei den Betrieben Vertrauen aufzubauen und letzten Endes wirksame Tarifverträge mit den Innungen abzuschließen. 

Auch müssen wir jetzt ehrlich darüber reden, dass ein Job auf der Baustelle nicht genauso lange ausgeübt werden kann wie ein Bürojob. Dies muss sich auch in den Bedingungen der Rentenversicherung widerspiegeln. Aktuell gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz, sprich die Rentenversicherung ist blind gegenüber der ausgeübten Tätigkeit. Das Einzige, was interessiert, sind die Beitragsjahre und der durchschnittliche Bruttolohn. In der aktuellen Interpretation macht der Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch eine Sache falsch: Büro- und Baustellenarbeit sind nicht das gleiche und sollten daher auch nicht gleich behandelt werden. Eine Lösungsmöglichkeit wäre ein Gewichtungsfaktor von z.B. 1.25 für jedes Beitragsjahr, das auf der Baustelle erbracht wird. Dann könnten Handwerker*innen in diesem Bereich bereits nach 36 Jahren mit vollen Ansprüchen in die Rente gehen anstatt nach 45. 

Des Weiteren muss sich die Absicherung im Fall einer Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit deutlich verbessern. Handwerker*innen setzen sich tagtäglich besonderen körperlichen Herausforderungen und Risiken aus und werden im Unfall- oder Krankheitsfall von der Gesellschaft im Stich gelassen, wie oben anhand der verschwindend geringen Höhen der Erwerbsminderungsrenten gezeigt wurde. Hier müssen Lösungen gefunden werden wie z.B. eine staatliche Berufsunfähigkeitsversicherung, die honoriert, dass sich Menschen für eine gesellschaftliche relevante aber auch (empirische belegt) risikobehaftete Arbeit entschieden haben.

Vom Büro auf die Baustelle 

Vom Strukturwandel sind nicht nur Industriezweige betroffen, sondern zunehmend auch der Dienstleistungssektor. Ursächlich hierfür sind vor allem die rasanten Fortschritte im Bereich der Generativen Künstlichen Intelligenz (GKI), z.B. bekannt geworden in der Anwendung “ChatGPT” von Open AI. Im Gegensatz zu früheren Formen der Automatisierung sind die Programme heutzutage in der Lage natürliche Sprache sehr gut zu verstehen und können darüber hinaus Sprache erzeugen – und das auf einem sehr hohen Niveau. Es gibt Untersuchungen aus den USA, die zu dem Schluss kommen, dass in den nächsten Jahren 7 % der Arbeitsplätze durch GKI ersetzt werden könnten (Briggs/Kodnani, 2023). Davon werden vor allem Tätigkeitsfelder betroffen sind, bei denen die Verarbeitung und die Erzeugung von natürlicher Sprache einen großen Teil der Arbeit ausmachen, wie z.B. in der Verwaltung, in Kanzleien (Rechtsanwaltsgehilf*innen), in Callcentern und im Marketing. Darüber hinaus kommt es in vielen Fällen nicht zu einer kompletten Ersetzung der Arbeitskraft, sondern teilweise zu einer deutlich erhöhten Produktivität. Aber auch diese wird sich gesamtwirtschaftlich betrachtet früher oder später in Form von Arbeitsplatzabbau äußern. Auf der folgenden Grafik sind auf der X-Achse Berufsfelder nach ihrem Substitutionspotenzial durch GKI angeordnet und auf der Y-Achse der Prozentanteil an Tätigkeiten, der durch GKI übernommen werden kann. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass 30 % der heutigen Arbeit potenziell von GKI übernommen werden könnte. 

Workshare Substituable By Gai

Quelle: Briggs/Kodnani, Goldman Sachs, 2023, S. 6 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie dieses potenzielle Arbeitskräfteangebot für das Handwerk gewonnen werden kann. Keine leichte Aufgabe, denn unsere Gesellschaft (inklusive der Behörden) kennen und unterstützen bislang nur den umgekehrten Weg, sprich von der Baustelle ins Büro. Kosten für eine Umschulung werden nämlich nur übernommen, wenn der Beruf aufgrund von Krankheit oder körperlichen Einschränkungen nicht mehr ausgeübt werden kann. Wenn man sich heutzutage auf den (digitalen) Strukturwandel vorbereiten und z.B. auf die eigene kaufmännische Ausbildung eine handwerkliche obendrauf setzen möchte, werden die Kosten für diese Maßnahme von der Agentur für Arbeit nicht übernommen. Hier müsste ein neues Rollverständnis für die Agentur für Arbeit greifen: Weg von der Verwalterin, die sich um Menschen kümmert bzw. diese vermittelt, sobald sie in Arbeitslosigkeit gefallen sind, hin zu Gestalterin, die sich proaktiv darum bemüht, dass Beschäftigte in strukturgefährdeten Sektoren frühzeitig eine Umschulung im handwerklichen Bereich beginnen und damit ein zweites Standbein und eine gewisse Resilienz aufbauen. Das würde wesentlich zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen. Wenn nämlich technologische Umbrüche potenziell zu einem Arbeitsplatzverlust ohne Perspektive führen, schürt das Ängste, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv gefährden.  

Kombinierte Arbeit und altersgerechte Arbeitsmodelle 

Heute gilt auf dem Arbeitsmarkt das Dogma: Büro oder Baustelle. Die Kombination Büro und Baustelle findet heute weder in der Praxis noch in der Debatte Beachtung, obwohl beide Prägungen in ihrer Reinform erhebliche gesundheitliche Risiken mit sich bringen. In einer groß angelegten US-amerikanischen Studie wurde für Männer, die täglich mehr als 6 Stunden sitzen ein 20 % erhöhtes Sterberisiko observiert (Patel, 2010). Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schäden am Bewegungsapparat, aber auch psychische Verstimmungen werden durch langes Sitzen begünstigt (MDR, 2022). Die gesundheitlichen Risiken durch zu viel körperliche Arbeit wurden weiter oben erörtert. Ideal wären daher Arbeitsverhältnisse, die körperliche und kognitive Betätigungen kombinieren. Da dies innerhalb eines Betriebs nicht immer ermöglicht werden kann, sollte vermehrt über betriebsübergreifende Kooperationen nachgedacht werden, die eine Kombination aus körperlicher und geistiger Arbeit ermöglichen. Perspektivisch würde dies auch erlauben, dass der Anteil an körperlicher Arbeit an die Leistungsfähigkeit des Angestellten angepasst ist und sich mit zunehmendem Alter verschiebt. Um diesen Gedanken frühzeitig gerade im akademischen Umfeld zu setzen, sollten Handwerksbetriebe vermehrt auf Universitäten und Fachhochschulen zugehen und dort zumindest Nebenjobs anbieten. Laut der 22. Sozialerhebung gehen 63 % der Studierenden einer Erwerbstätigkeit mit durchschnittlich 15,1 Stunden pro Woche nach (Kroher et al., 2023). Das macht bei 2,9 Millionen eingeschriebenen Studierenden ein Potenzial von 689.000 Vollzeitäquivalenten (VZÄ). Auf der Abbildung ist zu sehen, nach welchen Kriterien der wöchentliche Erwerbsaufwand variiert.

Erwerbsaufwand Der Studierenden In Sektoren

Quelle: 22. Sozialerhebung, Kroher et al., 2023, S. 90 

689.000 VZÄ sind ein nicht zu vernachlässigender produktiver Input, bei dem aber eingeschränkt werden muss, dass dieser vor allem in Ballungszentren zur Verfügung steht und natürlich auch zu einem großen Anteil von den Hochschulen selbst in Anspruch genommen wird. Neben einer besseren Verteilung der physischen Arbeit hätten kombinierte Arbeitsverhältnisse auch den Vorteil, dass die Anerkennung von handwerklichen Berufen steigt. Wer selbst einmal bei 40 Grad ein Dach eingedeckt oder eine PV-Anlage installiert hat, wird auf Handwerk*innen nicht mehr herab, sondern viel eher zu ihnen heraufschauen. 

Insbesondere für ältere Arbeitnehmer*innen im handwerklichen Bereich sollten Teilzeitmodelle ein selbstverständliches Angebot werden (Buschfeld, 2013, S. 142). Dies erlaubt die Leistungsreserven optimal zu nutzen und ein frühzeitiges Ausscheiden in den Ruhestand zu verhindern. Auch sollte vermehrt darüber nachgedacht werden, Tandems aus älteren und jüngeren Mitarbeiter*innen zu bilden. Dies würde erlauben, dass der junge Mitarbeiter tendenziell die körperlich anstrengenden Tätigkeiten übernimmt, während die ältere Mitarbeiterin ihren Erfahrungsschatz an die nächste Generation vermitteln kann (Naegele/Frerichs, 2018). 

Fazit 

Die hier präsentierten Ansätze zur Abmilderung des Arbeitskräftemangels im Handwerk nehmen für sich nicht in Anspruch eine spruchreife Lösung für dieses äußerst komplexe und zentrale Problem zu sein. Vielmehr sollen sie Ausgangspunkte für weitere Diskussionen sein. Insbesondere sind die Ansprüche, Gegebenheiten und Zukunftsperspektiven in den einzelnen Gewerken hoch unterschiedlich. Hier bedarf es also auch eines intensiven Austauschs mit den entsprechenden Praktiker*innen (auf Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite), um zu guten, nachhaltigen und praxisnahen Lösungen zu kommen. Eines steht fest: Wir müssen jetzt an einen Tisch kommen, um das Handwerk auch für bislang atypische Zielgruppen attraktiv zu machen. Denn bis 2035 könnten bis zu 770.000 Beschäftigte in den klimarelevanten Gewerken fehlen (Blazejczak/Edler, 2021). Wenn wir es nicht schaffen, diese Fachkräftelücke sukzessive zu schließen, werden wir unsere Klimaschutzziele mit Gewissheit verfehlen (BMWK, 2022). Entscheidend wird dabei sein, dass nicht wie in den vergangenen 20 Jahren nur mit leeren Worthülsen um sich geschmissen wird. Denn wenn wir tatsächlich Menschen vom Büro auf die Baustelle locken wollen, müssen sich die Bedingungen und das Ansehen dieser Arbeit drastisch verändern. 

Arbeit und Transformation, Teil 2: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz – vielversprechendes Konzept für den deutschen Arbeitsmarkt? 

Am 7. Juli 2023 wurde das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom Bundesrat verabschiedet. Das Artikelgesetz novelliert insbesondere Teile des Aufenthaltsgesetzes, des Staatsbürgerschaftsrechts und der Beschäftigungsverordnung (Bundesregierung, 2023). Aus Sicht einiger Verbände wurde dabei die Chance versäumt, das Regelwerk zur Erwerbsmigration in einem dezidierten Gesetzeswerk zu bündeln (ZDH, 2023). 

Um zu verstehen, was die langfristige Strategie der Bundesregierung in Bezug auf die Erwerbsmigration ist, lohnt sich ein Blick in die – nicht rechtsverbindliche – Fachkräftestrategie. Dort postuliert die Bundesregierung:  

“Deutschland muss ein Einwanderungsland sein, das auch im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte attraktiv ist. Wir werden die Rahmenbedingungen der Einwanderung verbessern, damit ausländische Fachkräfte und ihre Familien gern in Deutschland leben und arbeiten” (BMAS, 2022).

In diesem Artikel versuchen wir zu klären, wie weit Deutschland von dieser Vision entfernt und ob das Fachkräfteinwanderungsgesetz ein Schritt in die richtige Richtung ist. 

Im Vergleich zur Fluchtmigration spielte die Erwerbsmigration in den vergangenen Jahren in Deutschland nur eine untergeordnete Rolle. Netto sind in Deutschland vergangenes Jahr etwa 1,5 Millionen Menschen zugewandert. Ohne die Einmaleffekte durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reduziert sich die Zahl auf 538.000. Im Zuge der Erwerbsmigration sind 56.000 Menschen eingewandert. Sie machte also etwa 10% der Gesamtmigration aus (wenn die Einmaleffekte exkludiert werden) (destatis, 2023a, destatis, 2023b, destatis, 2023c). Um das Arbeitskräftepotenzial trotz demografischen Wandels konstant zu halten, braucht es jährlich eine Nettomigration von 400.000. Mit einer mittleren, jährlichen Migration von 100.000 droht die Zahl der Erwerbsfähigen von 47,4 Millionen (2020) auf 38,3 Millionen bis zum Jahr 2060 zu schrumpfen (IAB, 2021). 

 

Das erste Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 

Schon die Vorgängerregierung hatte sich bemüht, die Bedingungen für die Erwerbsmigration zu verbessern. 2019 wurde das 1. Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen und ist Anfang 2020 in Kraft getreten. Zum ersten Mal wurde der Terminus Fachkraft legaldefiniert. Es handelt sich gemäß Aufenthaltsgesetz um eine Person mit einer mindestens 2-jährigen Berufsausbildung oder Studium (§18 Abs. 3 AufenthG).  Neben einigen Änderungen zur Beschleunigung von Anerkennungsverfahren, diente die Reform der Umsetzung einer EU-Richtlinie zum Umgang mit Drittstaatenangehörigen. Der durchschlagende Erfolg ist jedoch ausgeblieben. Die Deutsche Handwerkszeitung zeigt sich z.B. darüber enttäuscht, dass die anvisierte Zahl der Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung deutlich verfehlt wurde. Das selbst erklärte Ziel waren 10.000 solcher Fachkräfte, es konnten 2021 aber nur 3.200 für eine Beschäftigung in Deutschland gewonnen werden (DHZ, 2022). Und auch die Begleitforschung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum 1. Fachkräfteeinwanderungsgesetz kritisiert vor allem folgende Punkte: 

  • Viele ausländische Fachkräfte haben von den erleichterten und den neuen Programmen keine Kenntnis erlangt. 
  • Durch die Reform sind zahlreiche neue Aufgaben auf die Behörden zugekommen. Allerdings wurde das Personal nicht im gleichen Umfang aufgestockt, was zu einer Überlastung von vielen Ämtern geführt hat. 
  • Die Verfahren um ausländische, insbesondere nicht-akademische, Abschlüsse anzuerkennen sind weiterhin sehr komplex und zeitaufwendig (BAMF, 2023). 

Das aktuelle Fachkräfteeinwanderungsgesetz – Die Chancenkarte 

Die Bundesregierung hat sich mit dem aktuellen Fachkräfteeinwanderungsgesetz viel vorgenommen: Pro Jahr sollen dadurch 50.000 zusätzliche Fachkräfte ins Land strömen (Handelsblatt, 2023). Um das zu erreichen, führt sie mit der Chancenkarte erstmalig ein Punktesystem für die Erwerbsmigration ein. Punkte gibt es für Berufserfahrung, Qualifikation, Deutsch- bzw. Englisch-Kenntnisse und ein junges Alter. Anspruch auf eine Chancenkarte hat, wer nach Maßgabe dieses Punktesystems eine Mindestzahl von 6 erreicht. In der nachfolgenden Tabelle ist aufgeschlüsselt, für welches Merkmal, wie viele Punkte vergeben werden. 

Merkmal Inhalt Punkte 
Qualifikation 
Gute Deutschkenntnisse 
Ausreichende Deutschkenntnisse 
Hinreichende Deutschkenntnisse
Englischkenntnisse (C1)
Mind. 5 Jahre Berufserfahrung
Mind. 2 Jahre Berufserfahrung
Qualifikation in einem Engpassberuf
Jünger als 35
10 Jünger als 40
116 Monate in DE1
12Ehegatt*in ebenfalls Antrag auf Chancenkarte1

Quelle: Bundesgesetzblatt, 2023, S. 20

Ob es z.B. bei dem Merkmal 1 “Berufsqualifikation” auch Teilpunkte geben kann, geht aus dem Gesetzentwurf nicht hervor. Denkbar wäre, dass eine Qualifikation in einem Engpassberuf einen höheren Punktwert liefert als andere Ausbildungen. Aktualisierung: Durch Nachfrage beim Innenministerium haben wir in Erfahrung gebracht, dass die Punkte für das Merkmal 1 „Berufsqualifikation“ binär vergeben werden, sprich alles oder nichts. Für eine Qualifikation in einem Engpassberuf wurde in einer neueren Fassung des Gesetzes ein weiteres Merkmal in die Tabelle eingefügt, für das es bei Vorliegen einen Punkt gibt.
Neu ist, dass die Fachkraft nach Deutschland einreisen darf, ohne dass das Berufsanerkennungsverfahren schon abgeschlossen sein muss. Die Chancenkarte berechtigt, den oder die Inhaberin zur Beschäftigung bzw. Ausbildungsplatzsuche mit einer zeitlichen Beschränkung von einem Jahr. Auch ist eine vorherige feste Zusage eines Betriebs über ein Beschäftigungsverhältnis nicht notwendig. 

Obwohl es auf EU-Ebene schon die BlueCard gibt, die auch zu einem Aufenthalt in Deutschland berechtigt, stellt die Chancenkarte eine sinnvolle Ergänzung dar. Die BlueCard setzt einen Hochschulabschluss und ein Bruttomindestgehalt von 58.400 Euro voraus. Die BlueCard richtet sich damit also vor allem an hochspezialisierte Akademiker*innen z.B. aus dem IT-Bereich und ist damit nicht geeignet, die Engpässe in der Pflege- bzw. Bauchbranche zu lindern (Auswärtiges Amt, 2023). 

Was ist noch neu? Spurwechsel 

Für Menschen, die sich in einem Asylantragsverfahren befinden und eine Qualifikation und ein Jobangebot vorweisen können, öffnen sich durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz neue Perspektiven. Nach Inkrafttreten wird es möglich sein, nahtlos von dem Asylverfahren in ein Aufenthaltsverfahren zu Beschäftigungszwecken zu wechseln. Bislang waren Betroffene verpflichtet, Deutschland zunächst zu verlassen und aus ihrem Heimatland ein Berufsvisum zu beantragen. Diese neue und vereinfachte Möglichkeit wird im Fachjargon Spurwechsel genannt. Diese Regelung gilt allerdings nur für Schutzsuchende, die vor dem 29. März 2023 einen Asylantrag gestellt haben. Prof. Herbert Brücker von der Humboldt-Universität Berlin schätzt, dass 30.000 – 50.000 Personen von dieser Regelung profitieren könnten (Mediendienst Integration, 2023). 

Westbalkan-Regelung 

Darüber hinaus wird die Regelung für die kurzfristige Beschäftigung von Arbeitskräften aus den Westbalkan-Staaten entfristet und erweitert. Sie stammt aus dem ersten Fachkräfteeinwanderungsgesetz und sollte ursprünglich Ende 2023 auslaufen. Sie sieht vor, dass pro Jahr 25.000 Bewerber*innen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Madzedonien und Serbien ohne Qualifikationsfestellungsverfahren eine kurzfristige Beschäftigung in Deutschland aufnehmen können. Das Kontingent wurde im Zuge der Novellierung auf 50.000 pro Jahr erhöht (Bundesrat, 2023). Die Bauindustrie und der Zentralverband des deutschen Handwerks begrüßen diese Regelung (handwerk.com, 2023). Kritiker*innen sehen die Gefahr, dass den Balkan-Staaten in noch größerem Umfang wertvolle Fachkräfte abhandenkommen. Seit 2000 haben schon über 7 Millionen Menschen Südosteuropa verlassen. Es sind “häufig keineswegs Arbeitslose, sondern beschäftigte Fachkräfte, die als erste gehen. Ihre Abwanderung sorgt für zunehmende Engpässe auf den Arbeitsmärkten” (Tagesspiegel, 2019). 

Schnellere Einbürgerung 

Die Zahl der in Deutschland lebenden Migrant*innen, die nach 10 Jahren noch ohne deutsche Staatsbürgerschaft dastehen, ist im Vergleich zu klassischen Einwanderungsländern wie z.B. Kanada hoch. Während im Jahr 2020 in Kanada nach 10 Jahren 90,5% der Zugewanderten die Staatsbürgerschaft erlangt haben, waren es in Deutschland gerade einmal 54,9% (vgl. Abbildung unten, Bertelsmann Stiftung, 2023). Um hier gegenzusteuern, wird im Zuge des Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Mindestaufenthaltsdauer in Deutschland, um die Staatsbürgerschaft zu beantragen, von 8 auf 5 Jahre herabgesenkt. Aber auch dann ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft kein Automatismus. Es müssen Sprachkenntnisse nachgewiesen und ein Einbürgerungstest bestanden werden. Zudem sollen in Deutschland geborene Kinder von Migrant*innen automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten, sofern sich mindestens ein Elternteil seit mehr als 5 Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält (DLF, 2023a). 

Wird jetzt alles gut? 

Die Reaktion aus der Wirtschaft auf das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist verhalten. Zwar wird es als Schritt in die richtige Richtung gewertet, aber für viele gehen die Vereinfachungen nicht weit genug und sind skeptisch, dass damit die erhoffte Dynamik im Bereich der Erwerbsmigration entfacht wird (DLF, 2023b). Insbesondere die mangelnde Digitalisierung wird weiterhin als große Hürde angesehen (Frankfurter Rundschau, 2023). In vielen anderen Staaten läuft der Prozess zur Visumbeantragung vollständig digital ab. Ein Beispiel für überbordende Bürokratie ist das Antragsverfahren für Erwerbsmigrant*innen aus dem Kosovo, die eigentlich durch die Westbalkan-Regelung von einem besonders einfachen Verfahren profitieren sollten: Ohne 3-fache papierbasierte Ausführung der Unterlagen mit Beurkundung und Übersetzung ins Deutsche geht es nicht. Zusätzlich müssen die Unterlagen bei einem Präsenztermin – der per Los vergeben wird, da es zu wenige Kapazitäten gibt – vorgelegt werden. Zudem sind die Bewerber*innen dazu angehalten, in den ersten 3 Monaten keine Nachfragen zu ihrem Verfahren anzustellen (Deutsche Botschaft Pristina, 2023). Dass sich an dieser Situation bald etwas ändert, ist nicht abzusehen. Gerade vor dem Hintergrund der Ankündigung des FDP-geführten Finanzministeriums, die Mittel zur Digitalisierung der Behörden um 99% zu kürzen (von 377 Millionen auf 3 Millionen Euro), ist zu befürchten, dass dieser Zustand noch lange andauern wird (Golem, 2023). 

Neben den bürokratischen Hürden offenbart eine großangelegte Umfrage unter im Ausland lebenden Fachkräften weitere Defizite. Neben der fehlenden Willkommenskultur schneidet Deutschland in der Kategorie “Freundlichkeit der lokalen Bevölkerung” besonders schlecht ab. Außerdem fällt es ausländischen Fachkräften hierzulande besonders schwer, neue soziale Kontakte zu knüpfen (InterNations, 2023). Ebenfalls können die Sprachbarriere und fehlende Anerkennung/Wertschätzung der Kolleg*innen die Attraktivität schmälern. So würden von einer Gruppe von philippinischen Pflegekräften nur 17% den Job einem Freund bzw. einer Freundin weiterempfehlen (Grace Lugert-Jose, 2022). 

Wenn es nach dem Handwerk geht, sollte die Bundesregierung, statt an weiteren juristischen Aufenthaltstiteln zu feilen, die das Einwanderungsrecht noch unübersichtlicher machen, lieber die Umsetzungskapazitäten in den entsprechenden Behörden, vor allem den Ausländerbehörden, massiv erhöhen (ZDH, 2023). Hier sorgen lange Bearbeitungszeiten für hohe Frustration bei den potenziellen Fachkräften und den Betrieben. Insbesondere die Qualifikationsfestellungsverfahren ziehen sich oft über einen längeren Zeitraum. In den Jahren 2017-2021 warteten ausländische Fachkräfte im Durchschnitt 99,4 Tage bis zum ersten Bescheid. Für viele Angehörige aus Drittstaaten ist der Prozess damit nicht abgeschlossen, sondern es müssen häufig weitere Auflagen erfüllt werden. Dies können Aufbaulehrgänge oder Eignungsprüfungen sein (Böse/Schmitz, 2022). Auf der untenstehenden Grafik ist zu erkennen, dass ein großer Teil der Anerkennungsverfahren innerhalb von 3 Monaten erstmalig beschieden wird. In diese Kategorie fallen insbesondere die Anerkennungsverfahren für Qualifikationen aus dem EU-Ausland. Hier sind die meisten Berufsqualifikationen in einer gemeinsamen Datenbank hinterlegt mit den entsprechenden Äquivalenzqualifikationen aus Deutschland. Die Anerkennung erfolgt dementsprechend sehr schnell. Bei Qualifikationen aus Drittstaaten nehmen die Verfahren häufig deutlich mehr Zeit in Anspruch. 2021 mussten immerhin 5,5% der Bewerber*innen länger als 12 Monate auf den ersten Bescheid warten. 

Fazit 

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist der Bundesregierung nicht der große Wurf gelungen. Die Beschleunigungs- und Vereinfachungsansätze sind zu begrüßen, gehen aber nicht weit genug. Darüber hinaus liegen die wirklichen Problemfelder in den Augen vieler Beobachter gar nicht im juristisch-legislatorischen Bereich, sondern in der praktischen Umsetzung: Viele Behörden, und dazu gehören insbesondere die Ausländerbehörden, sind mit ihren Aufgaben überfordert und müssen personell und technisch dringend besser ausgestattet werden. Außerdem wird Deutschland in den nächsten Jahren ernsthaft Probleme bekommen, wenn sich kein Kulturwandel einstellt: Freundlichkeit und Offenheit gegenüber Zugewanderten sollten eine Selbstverständlichkeit sein, sind es hierzulande aber keineswegs. Auch über Deutschlands Rückständigkeit in Sachen Digitalisierung kann die Welt nur staunen. Vor diesem Hintergrund überrascht folgende Statistik nicht: Jede zweite ausländische Fachkraft kehrt Deutschland früher oder später wieder den Rücken (Fachkräftestrategie der Bundesregierung, 2022, S. 30). 

Letzte Aktualisierung am 11. Oktober 2023

Arbeit und Transformation, Teil 1: Zahlen, Zahlen, Zahlen – Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich? 

Dieser Beitrag ist der erste aus der Reihe „Arbeit und Transformation“ und soll eine erste Übersicht geben, wie groß der Fachkräftemangel aktuell ist und sich in Zukunft entwickelt. 

Zurzeit gibt es in Deutschland 46 Millionen Erwerbstätige (destatis a, 2023). Die Arbeitslosigkeit liegt im Juni 2023 bei 2,55 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 5,5 % entspricht. Bei niedriger Zuwanderung wird die Gruppe der Menschen im Erwerbsalter (20 bis 66 Jahre) bis Mitte der 2030er Jahre um 4,8 Millionen Menschen abnehmen (destatis b, 2023). Das entspricht einem Rückgang von rund 10 %. Es braucht also schon enorme Anstrengungen, allein um die Beschäftigungszahlen zu stabilisieren – ohne entsprechende Maßnahmen würden die Zahlen sogar zurückgehen. 

Der Rückgang der Beschäftigungszahlen in klimarelevanten Berufsgruppen ist teils überdurchschnittlich hoch. Bis 2040 könnte die Zahl der Beschäftigten in den Mechatronik-, Energie- und Elektroberufen um 14 % zurückgehen. Bei den Bauberufen wird sogar ein Rückgang von 19 % prognostiziert (Blazejczak/Edler, 2021). Die Entwicklung unterscheidet sich dabei stark nach Qualifikationsniveau: Während die Zahl der Erwerbspersonen mit beruflichem Abschluss bis 2040 um rund 2,4 Millionen zurückgeht, wird die Zahl der Erwerbspersonen mit Hochschulabschluss um 2,2 Millionen zunehmen (ebenda). 

Schon heute sind viele klimarelevante Berufsgruppen von einem Engpass betroffen. Die Agentur für Arbeit definiert einen Engpassberuf anhand von 6 statistischen Indikatoren (Agentur für Arbeit, 2023). Dazu gehört unter anderem die Frage, wie viele passend qualifizierte Arbeitslose für 100 offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind. Ist die Zahl kleiner als 100, ist das ein Indiz für einen Engpassberuf. Bei Elektriker*innen lag der Wert 2021 bei 26 (KOFA, 2021). Aktuell fehlen in den Berufen der Solar- und Windindustrie 216.000 Fachkräfte – ungeachtet der Bedarfe für Helfer*innen (IW Köln, 2022). In der Arbeitsmarktforschung wird zwischen verschiedenen Anforderungsniveaus differenziert (siehe Tabelle 1, ISCO 2007).  

 AnforderungsniveauBezeichnung Ausbildung 
1Helfer*in Keine formale Ausbildung 
2Fachkraft Mind. 2-jährige Berufsausbildung 
3Spezialist*in Berufliche Fortbildung (Meister*in, Techniker*in) oder Bachelor 
4Expert*in Master bzw. Diplom 

Die Situation ist heute also schon sehr angespannt, und sie wird sich vor dem Hintergrund der fortschreitenden Vergreisung unserer Gesellschaft und des Transformationsbedarfs hinsichtlich der Klimaziele weiter verschärfen. Allein in der Solarindustrie etwa fehlen bis zum Jahr 2035 über 200.000 Arbeitskräfte (Quaschning, 2021) (vgl. Abbildung 1, Quelle ebenda). 

Nicht für jeden Fachbereich gibt es eine dezidierte Untersuchung, wie viele Fachkräfte in Zukunft fehlen werden. Für den Bereich der transparenten Gebäudehülle, sprich der Fensterbauer*innen und Glaser*innen, wurden die Zahlen jedoch ermittelt: Dort müssten jedes Jahr 2.000 zusätzliche Beschäftigte eingestellt werden, um die notwendige Zahl an Fenstern für die energetische Sanierung zu installieren (Bundesverband Transparente Gebäudehülle, 2022).  

Eine neue Studie im Auftrag des BMWK kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Klimaneutralität im Gebäudesektor insgesamt 215.000 zusätzliche Arbeitskräfte für energetische Sanierungen braucht. Hinzu kommen weitere 67.000 für den Neubau von energiesparsamen Gebäuden. Mit diesem erweiterten Fachkräfteangebot wäre eine Sanierungsrate von 2 % realisierbar (Thamling et al., 2023). Auch wenn diese Zahlen sehr ambitioniert erscheinen, sind sie in der deutschen Geschichte nicht beispiellos: Im Jahr 1995 wurden in Ostdeutschland Sanierungsraten von 4 % erreicht (DIW, 2023). Aktuell liegt sie bei etwa einem Prozent (ZDF, 2022).

In einer weiteren umfassenden Studie wurden alle relevanten Berufsgruppen betrachtet, die zur Herstellung der Produkte und Dienstleistungen für Klimaneutralität 2050 benötigt werden. Die Autoren prognostizieren einen Arbeitskräftebedarf von knapp 770.000 im Jahr 2035 (Blazejczak/Edler, 2021). Da sich diese Studie am meisten zutraut (im Sinne der berufsübergreifenden Betrachtung) gehen wir an dieser Stelle kurz auf die Methodik ein: 

Zunächst haben die Autoren die notwendigen Investitionsvolumina berechnet und um die Importquote bereinigt. Importe spielen zwar eine wichtige Rolle für die Transformation, sie haben jedoch keine Effekte auf die heimische Beschäftigungsquote. Die Investitionen werden nach Sektoren aufgeschlüsselt und mit der Methode der offenen Input-Output-Rechnung auf die Berufsgruppen umgelegt (Miller et al., 2009). Dabei werden die unterschiedlichen Arbeitsproduktivitäten beachtet, und es werden Produktivitätssteigerungen zugrunde gelegt, die im Mittel 1% pro Jahr betragen. Weiterhin werden direkte und indirekte Effekte unterschieden. Während der Industriearbeiter, der Wärmepumpen herstellt, einen direkten Effekt darstellt, sind zusätzliche Personen, die im Rechnungswesen dieser Firma arbeiten, Teil des indirekten Effekts. 

Abbildung 2 (eigene Darstellung, Daten aus Blazejczak/Edler, 2021

Der Blick über den Tellerrand hinaus zeigt, dass der Fachkräftemangel nicht nur ein Problem im Bereich der Energiewende ist, sondern auch viele Bereiche der übrigen Daseinsvorsorge betrifft.  
Besonders im Pflege- und Gesundheitsbereich ist die Situation angespannt. Eine Untersuchung des IW Köln kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2035 bis zu 150.000 Pflegestellen in Deutschland nicht besetzt werden können (IW Köln, 2018). Eine neuere Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass es bis 2035 1,8 Millionen Stellen im gesamten Gesundheitswesen sind (PwC, 2022). 

 
Auch in der Landwirtschaft sind die Aussichten alles andere als rosig. Allein in Brandenburg müssen bis 2030 20.000 Fachkräfte ersetzt werden. Die Auszubildenden können diese Lücke nur zu 25 % schließen. Sprich, im Jahr 2030 klafft eine Fachkräftelücke von 15.000 (Hampel et al., 2018). Übertragen auf ganz Deutschland entspricht das einem Arbeitskräftemangel von 500.000. Dies ist eine sehr grobe Abschätzung, weil in anderen Bundesländern der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtwertschöpfung variiert. 
Auch bei den Erzieher*innen fehlen bereits heute über 100.000 Beschäftigte. 2030 könnte das Defizit auf 230.000 anwachsen (Bock-Famulla et al., 2021).  

In den nächsten Artikeln der Reihe „Arbeit und Transformation“ wird es unter anderem um die Frage nach Migration, der Rolle von generativer künstlicher Intelligenz, die (fehlende) Attraktivität der Handwerksberufe und neuen Methoden zur Abschätzung der regionalen Arbeitskräftebedarfe gehen.