Arbeit und Transformation, Teil 2: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz – vielversprechendes Konzept für den deutschen Arbeitsmarkt? 

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Am 7. Juli 2023 wurde das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom Bundesrat verabschiedet. Das Artikelgesetz novelliert insbesondere Teile des Aufenthaltsgesetzes, des Staatsbürgerschaftsrechts und der Beschäftigungsverordnung (Bundesregierung, 2023). Aus Sicht einiger Verbände wurde dabei die Chance versäumt, das Regelwerk zur Erwerbsmigration in einem dezidierten Gesetzeswerk zu bündeln (ZDH, 2023). 

Um zu verstehen, was die langfristige Strategie der Bundesregierung in Bezug auf die Erwerbsmigration ist, lohnt sich ein Blick in die – nicht rechtsverbindliche – Fachkräftestrategie. Dort postuliert die Bundesregierung:  

“Deutschland muss ein Einwanderungsland sein, das auch im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte attraktiv ist. Wir werden die Rahmenbedingungen der Einwanderung verbessern, damit ausländische Fachkräfte und ihre Familien gern in Deutschland leben und arbeiten” (BMAS, 2022).

In diesem Artikel versuchen wir zu klären, wie weit Deutschland von dieser Vision entfernt und ob das Fachkräfteinwanderungsgesetz ein Schritt in die richtige Richtung ist. 

Im Vergleich zur Fluchtmigration spielte die Erwerbsmigration in den vergangenen Jahren in Deutschland nur eine untergeordnete Rolle. Netto sind in Deutschland vergangenes Jahr etwa 1,5 Millionen Menschen zugewandert. Ohne die Einmaleffekte durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reduziert sich die Zahl auf 538.000. Im Zuge der Erwerbsmigration sind 56.000 Menschen eingewandert. Sie machte also etwa 10% der Gesamtmigration aus (wenn die Einmaleffekte exkludiert werden) (destatis, 2023a, destatis, 2023b, destatis, 2023c). Um das Arbeitskräftepotenzial trotz demografischen Wandels konstant zu halten, braucht es jährlich eine Nettomigration von 400.000. Mit einer mittleren, jährlichen Migration von 100.000 droht die Zahl der Erwerbsfähigen von 47,4 Millionen (2020) auf 38,3 Millionen bis zum Jahr 2060 zu schrumpfen (IAB, 2021). 

 

Das erste Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 

Schon die Vorgängerregierung hatte sich bemüht, die Bedingungen für die Erwerbsmigration zu verbessern. 2019 wurde das 1. Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen und ist Anfang 2020 in Kraft getreten. Zum ersten Mal wurde der Terminus Fachkraft legaldefiniert. Es handelt sich gemäß Aufenthaltsgesetz um eine Person mit einer mindestens 2-jährigen Berufsausbildung oder Studium (§18 Abs. 3 AufenthG).  Neben einigen Änderungen zur Beschleunigung von Anerkennungsverfahren, diente die Reform der Umsetzung einer EU-Richtlinie zum Umgang mit Drittstaatenangehörigen. Der durchschlagende Erfolg ist jedoch ausgeblieben. Die Deutsche Handwerkszeitung zeigt sich z.B. darüber enttäuscht, dass die anvisierte Zahl der Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung deutlich verfehlt wurde. Das selbst erklärte Ziel waren 10.000 solcher Fachkräfte, es konnten 2021 aber nur 3.200 für eine Beschäftigung in Deutschland gewonnen werden (DHZ, 2022). Und auch die Begleitforschung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum 1. Fachkräfteeinwanderungsgesetz kritisiert vor allem folgende Punkte: 

  • Viele ausländische Fachkräfte haben von den erleichterten und den neuen Programmen keine Kenntnis erlangt. 
  • Durch die Reform sind zahlreiche neue Aufgaben auf die Behörden zugekommen. Allerdings wurde das Personal nicht im gleichen Umfang aufgestockt, was zu einer Überlastung von vielen Ämtern geführt hat. 
  • Die Verfahren um ausländische, insbesondere nicht-akademische, Abschlüsse anzuerkennen sind weiterhin sehr komplex und zeitaufwendig (BAMF, 2023). 

Das aktuelle Fachkräfteeinwanderungsgesetz – Die Chancenkarte 

Die Bundesregierung hat sich mit dem aktuellen Fachkräfteeinwanderungsgesetz viel vorgenommen: Pro Jahr sollen dadurch 50.000 zusätzliche Fachkräfte ins Land strömen (Handelsblatt, 2023). Um das zu erreichen, führt sie mit der Chancenkarte erstmalig ein Punktesystem für die Erwerbsmigration ein. Punkte gibt es für Berufserfahrung, Qualifikation, Deutsch- bzw. Englisch-Kenntnisse und ein junges Alter. Anspruch auf eine Chancenkarte hat, wer nach Maßgabe dieses Punktesystems eine Mindestzahl von 6 erreicht. In der nachfolgenden Tabelle ist aufgeschlüsselt, für welches Merkmal, wie viele Punkte vergeben werden. 

Merkmal Inhalt Punkte 
Qualifikation 
Gute Deutschkenntnisse 
Ausreichende Deutschkenntnisse 
Hinreichende Deutschkenntnisse
Englischkenntnisse (C1)
Mind. 5 Jahre Berufserfahrung
Mind. 2 Jahre Berufserfahrung
Qualifikation in einem Engpassberuf
Jünger als 35
10 Jünger als 40
116 Monate in DE1
12Ehegatt*in ebenfalls Antrag auf Chancenkarte1

Quelle: Bundesgesetzblatt, 2023, S. 20

Ob es z.B. bei dem Merkmal 1 “Berufsqualifikation” auch Teilpunkte geben kann, geht aus dem Gesetzentwurf nicht hervor. Denkbar wäre, dass eine Qualifikation in einem Engpassberuf einen höheren Punktwert liefert als andere Ausbildungen. Aktualisierung: Durch Nachfrage beim Innenministerium haben wir in Erfahrung gebracht, dass die Punkte für das Merkmal 1 „Berufsqualifikation“ binär vergeben werden, sprich alles oder nichts. Für eine Qualifikation in einem Engpassberuf wurde in einer neueren Fassung des Gesetzes ein weiteres Merkmal in die Tabelle eingefügt, für das es bei Vorliegen einen Punkt gibt.
Neu ist, dass die Fachkraft nach Deutschland einreisen darf, ohne dass das Berufsanerkennungsverfahren schon abgeschlossen sein muss. Die Chancenkarte berechtigt, den oder die Inhaberin zur Beschäftigung bzw. Ausbildungsplatzsuche mit einer zeitlichen Beschränkung von einem Jahr. Auch ist eine vorherige feste Zusage eines Betriebs über ein Beschäftigungsverhältnis nicht notwendig. 

Obwohl es auf EU-Ebene schon die BlueCard gibt, die auch zu einem Aufenthalt in Deutschland berechtigt, stellt die Chancenkarte eine sinnvolle Ergänzung dar. Die BlueCard setzt einen Hochschulabschluss und ein Bruttomindestgehalt von 58.400 Euro voraus. Die BlueCard richtet sich damit also vor allem an hochspezialisierte Akademiker*innen z.B. aus dem IT-Bereich und ist damit nicht geeignet, die Engpässe in der Pflege- bzw. Bauchbranche zu lindern (Auswärtiges Amt, 2023). 

Was ist noch neu? Spurwechsel 

Für Menschen, die sich in einem Asylantragsverfahren befinden und eine Qualifikation und ein Jobangebot vorweisen können, öffnen sich durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz neue Perspektiven. Nach Inkrafttreten wird es möglich sein, nahtlos von dem Asylverfahren in ein Aufenthaltsverfahren zu Beschäftigungszwecken zu wechseln. Bislang waren Betroffene verpflichtet, Deutschland zunächst zu verlassen und aus ihrem Heimatland ein Berufsvisum zu beantragen. Diese neue und vereinfachte Möglichkeit wird im Fachjargon Spurwechsel genannt. Diese Regelung gilt allerdings nur für Schutzsuchende, die vor dem 29. März 2023 einen Asylantrag gestellt haben. Prof. Herbert Brücker von der Humboldt-Universität Berlin schätzt, dass 30.000 – 50.000 Personen von dieser Regelung profitieren könnten (Mediendienst Integration, 2023). 

Westbalkan-Regelung 

Darüber hinaus wird die Regelung für die kurzfristige Beschäftigung von Arbeitskräften aus den Westbalkan-Staaten entfristet und erweitert. Sie stammt aus dem ersten Fachkräfteeinwanderungsgesetz und sollte ursprünglich Ende 2023 auslaufen. Sie sieht vor, dass pro Jahr 25.000 Bewerber*innen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Madzedonien und Serbien ohne Qualifikationsfestellungsverfahren eine kurzfristige Beschäftigung in Deutschland aufnehmen können. Das Kontingent wurde im Zuge der Novellierung auf 50.000 pro Jahr erhöht (Bundesrat, 2023). Die Bauindustrie und der Zentralverband des deutschen Handwerks begrüßen diese Regelung (handwerk.com, 2023). Kritiker*innen sehen die Gefahr, dass den Balkan-Staaten in noch größerem Umfang wertvolle Fachkräfte abhandenkommen. Seit 2000 haben schon über 7 Millionen Menschen Südosteuropa verlassen. Es sind “häufig keineswegs Arbeitslose, sondern beschäftigte Fachkräfte, die als erste gehen. Ihre Abwanderung sorgt für zunehmende Engpässe auf den Arbeitsmärkten” (Tagesspiegel, 2019). 

Schnellere Einbürgerung 

Die Zahl der in Deutschland lebenden Migrant*innen, die nach 10 Jahren noch ohne deutsche Staatsbürgerschaft dastehen, ist im Vergleich zu klassischen Einwanderungsländern wie z.B. Kanada hoch. Während im Jahr 2020 in Kanada nach 10 Jahren 90,5% der Zugewanderten die Staatsbürgerschaft erlangt haben, waren es in Deutschland gerade einmal 54,9% (vgl. Abbildung unten, Bertelsmann Stiftung, 2023). Um hier gegenzusteuern, wird im Zuge des Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Mindestaufenthaltsdauer in Deutschland, um die Staatsbürgerschaft zu beantragen, von 8 auf 5 Jahre herabgesenkt. Aber auch dann ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft kein Automatismus. Es müssen Sprachkenntnisse nachgewiesen und ein Einbürgerungstest bestanden werden. Zudem sollen in Deutschland geborene Kinder von Migrant*innen automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten, sofern sich mindestens ein Elternteil seit mehr als 5 Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält (DLF, 2023a). 

Wird jetzt alles gut? 

Die Reaktion aus der Wirtschaft auf das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist verhalten. Zwar wird es als Schritt in die richtige Richtung gewertet, aber für viele gehen die Vereinfachungen nicht weit genug und sind skeptisch, dass damit die erhoffte Dynamik im Bereich der Erwerbsmigration entfacht wird (DLF, 2023b). Insbesondere die mangelnde Digitalisierung wird weiterhin als große Hürde angesehen (Frankfurter Rundschau, 2023). In vielen anderen Staaten läuft der Prozess zur Visumbeantragung vollständig digital ab. Ein Beispiel für überbordende Bürokratie ist das Antragsverfahren für Erwerbsmigrant*innen aus dem Kosovo, die eigentlich durch die Westbalkan-Regelung von einem besonders einfachen Verfahren profitieren sollten: Ohne 3-fache papierbasierte Ausführung der Unterlagen mit Beurkundung und Übersetzung ins Deutsche geht es nicht. Zusätzlich müssen die Unterlagen bei einem Präsenztermin – der per Los vergeben wird, da es zu wenige Kapazitäten gibt – vorgelegt werden. Zudem sind die Bewerber*innen dazu angehalten, in den ersten 3 Monaten keine Nachfragen zu ihrem Verfahren anzustellen (Deutsche Botschaft Pristina, 2023). Dass sich an dieser Situation bald etwas ändert, ist nicht abzusehen. Gerade vor dem Hintergrund der Ankündigung des FDP-geführten Finanzministeriums, die Mittel zur Digitalisierung der Behörden um 99% zu kürzen (von 377 Millionen auf 3 Millionen Euro), ist zu befürchten, dass dieser Zustand noch lange andauern wird (Golem, 2023). 

Neben den bürokratischen Hürden offenbart eine großangelegte Umfrage unter im Ausland lebenden Fachkräften weitere Defizite. Neben der fehlenden Willkommenskultur schneidet Deutschland in der Kategorie “Freundlichkeit der lokalen Bevölkerung” besonders schlecht ab. Außerdem fällt es ausländischen Fachkräften hierzulande besonders schwer, neue soziale Kontakte zu knüpfen (InterNations, 2023). Ebenfalls können die Sprachbarriere und fehlende Anerkennung/Wertschätzung der Kolleg*innen die Attraktivität schmälern. So würden von einer Gruppe von philippinischen Pflegekräften nur 17% den Job einem Freund bzw. einer Freundin weiterempfehlen (Grace Lugert-Jose, 2022). 

Wenn es nach dem Handwerk geht, sollte die Bundesregierung, statt an weiteren juristischen Aufenthaltstiteln zu feilen, die das Einwanderungsrecht noch unübersichtlicher machen, lieber die Umsetzungskapazitäten in den entsprechenden Behörden, vor allem den Ausländerbehörden, massiv erhöhen (ZDH, 2023). Hier sorgen lange Bearbeitungszeiten für hohe Frustration bei den potenziellen Fachkräften und den Betrieben. Insbesondere die Qualifikationsfestellungsverfahren ziehen sich oft über einen längeren Zeitraum. In den Jahren 2017-2021 warteten ausländische Fachkräfte im Durchschnitt 99,4 Tage bis zum ersten Bescheid. Für viele Angehörige aus Drittstaaten ist der Prozess damit nicht abgeschlossen, sondern es müssen häufig weitere Auflagen erfüllt werden. Dies können Aufbaulehrgänge oder Eignungsprüfungen sein (Böse/Schmitz, 2022). Auf der untenstehenden Grafik ist zu erkennen, dass ein großer Teil der Anerkennungsverfahren innerhalb von 3 Monaten erstmalig beschieden wird. In diese Kategorie fallen insbesondere die Anerkennungsverfahren für Qualifikationen aus dem EU-Ausland. Hier sind die meisten Berufsqualifikationen in einer gemeinsamen Datenbank hinterlegt mit den entsprechenden Äquivalenzqualifikationen aus Deutschland. Die Anerkennung erfolgt dementsprechend sehr schnell. Bei Qualifikationen aus Drittstaaten nehmen die Verfahren häufig deutlich mehr Zeit in Anspruch. 2021 mussten immerhin 5,5% der Bewerber*innen länger als 12 Monate auf den ersten Bescheid warten. 

Fazit 

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist der Bundesregierung nicht der große Wurf gelungen. Die Beschleunigungs- und Vereinfachungsansätze sind zu begrüßen, gehen aber nicht weit genug. Darüber hinaus liegen die wirklichen Problemfelder in den Augen vieler Beobachter gar nicht im juristisch-legislatorischen Bereich, sondern in der praktischen Umsetzung: Viele Behörden, und dazu gehören insbesondere die Ausländerbehörden, sind mit ihren Aufgaben überfordert und müssen personell und technisch dringend besser ausgestattet werden. Außerdem wird Deutschland in den nächsten Jahren ernsthaft Probleme bekommen, wenn sich kein Kulturwandel einstellt: Freundlichkeit und Offenheit gegenüber Zugewanderten sollten eine Selbstverständlichkeit sein, sind es hierzulande aber keineswegs. Auch über Deutschlands Rückständigkeit in Sachen Digitalisierung kann die Welt nur staunen. Vor diesem Hintergrund überrascht folgende Statistik nicht: Jede zweite ausländische Fachkraft kehrt Deutschland früher oder später wieder den Rücken (Fachkräftestrategie der Bundesregierung, 2022, S. 30). 

Letzte Aktualisierung am 11. Oktober 2023

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