Anbei finden Sie die Folien von der Veranstaltung am 20. Oktober 2025.

Freiburg, Berlin, 17.10.2025
Der Bauturbo wirft große Fragen auf:
Wenn der Bauturbo falsch verwendet wird, können wir wertvolle landwirtschaftlich genutzte Fläche in einer Größenordnung von 2200 km² verlieren. Das entspricht etwa 85% des Saarlands, bzw. einer Fläche, auf der Weizen für ca. 23 Millionen Menschen angebaut werden kann. Können wir uns das leisten?
Die akute Wohnungsnot ist unbestritten, wie könnte der zusätzliche Wohnraum geschaffen werden?
Wie kann der Bauturbo zu einem Umbauturbo werden, der auf eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung trifft?
Wer übernimmt am Ende die Verantwortung bei einer Nutzung des Bauturbo? Verwaltung oder Stadt- bzw. Gemeinderat?
Um diese Fragen zu besprechen, organisiert Klimaschutz im Bundestag e.V. in Kooperation mit anderen Organisationen aktuell zwei Online-Veranstaltungen. Vertreter*innen der Presse sind dazu herzlich eingeladen.
Am 20. Oktober um 19 Uhr diskutieren Vertreter*innen der Architektur, Landwirtschaft und Kommunalpolitik miteinander.
„Umbauturbo statt Bauturbo – Chancen und Risiken für die Kommunen“. Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Erzdiözese Freiburg und der Katholischen Akademie.
Auf dem Podium:
Mehr Information und Anmeldung hier: https://klimaschutz-im-bundestag.de/veranstaltung/umbauturbo-statt-bauturbo/
Am 29. Oktober um 18:30 Uhr werden wichtige Aspekte vertieft: Der Bauturbo ist ein erster Schritt Richtung Umbauturbo, aber die Länder und Bund müssen nachlegen, damit er richtig zündet. Auch eine strategische Bodenpolitik ist wichtig, damit eine nachhaltige Stadtentwicklung gewährleistet ist. Und auch neue Akteur*innen: Discounter, Lebensmittelhändler, produzierendes Gewerbe müssen eingebunden werden, um sozialen und ökologischen Wohnraum zu schaffen.
Auf dem Podium
Mehr Information und Anmeldung hier: https://klimaschutz-im-bundestag.de/veranstaltung/umbauturbo-teil-2/
Pressekontakt:
Philipp George
philipp.george@klimaschutz-im-bundestag.de
+49 (0)761 45 89 32 771
Klimaschutz im Bundestag e.V. | Alfred-Döblin-Platz 1 | 79100 Freiburg im Breisgau
Telefon: +49 (0)761 45 89 32 771 | Fax: +49 (0)761 59 47 92 E-Mail: | Web: www.klimaschutz-im-bundestag.de
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Freiburg/Berlin, den 05.10.2025
Anlass
Am 8. Oktober berät der Bauausschuss erneut den sogenannten Bauturbo (Tagesordnung der nicht-öffentlichen Sitzung).Das ist eine der letzten Möglichkeiten, um Änderungsanträge in das Verfahren einfließen zu lassen.
Aktuell riskiert die Bundesregierung zwei fundamentale Grundsätze der modernen Stadtentwicklung zu verfehlen: (1) Innen- vor Außenentwicklung und (2) Stadt der kurzen Wege.
In dem aktuellen Gesetzentwurf wird die Bebauung des Außenbereichs ohne Bebauungsplan ermöglicht. Dies könnte einen massiven Flächenverbrauch vor allem durch Einfamilienhäuser nach sich ziehen.
Neben Fachverbänden (Stadtplanung, Architektur) warnen auch Stakeholder, die der Union traditionsgemäß nahe stehen, vor den Folgen. (Bauernverbände)
Befürchtet werden:
• Wildwuchs im Außenbereich (Deutscher Bauernverband)
• Verstoß gegen das Ziel Flächenverbrauch auf Netto-Null bis 2035 (Bad. Landwirtschaftlicher Hauptverband e.V.)
• unkontrollierte Zersiedelung der Landschaft (Bundesrat)
• keine Berücksichtigung von Zielen der Raumordnung (Bundesrat)
• freie Außenbereiche sind für die Städte schützenswert für Frischluft, Trinkwasser, Lebensmittel- oder Energiepro- duktion (Stellungnahme von Kommunen)
• Bauturbo widerspricht dem Grundsatz Innen- vor Außenentwicklung (Katholische und Evangelische Kirche)
• beschneidet das Potenzial für Mixed-Use-Objekte z.B. Oben wohnen, unten Ärzte
• konterkariert das Konzept der Stadt der kurzen Wege
Der Bauernverband hat in seiner Stellungnahme klar zum Ausdruck gebracht, dass eine Öffnung des Außenbereichs für ihn inakzeptabel ist. Stattdessen schlägt er vor, die Innenentwicklungspotenziale zu nutzen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.(Deutscher Bauernverband Stellungnahme)
„Der sog. „Bauturbo” sorgt für Wildwuchs im Außenbereich. Wohnraumbedarf ist zweifellos vorhanden, rechtfertigt aber nicht, alle anderen Belange (unangemessen) hinten anzustellen. Es wird unzureichend gewährleistet, dass das tatsächliche Wohnungspotenzial des Innenbereichs eine umfängliche Berücksichti-gung findet. Der Gesetzesentwurf selbst spricht in der Begründung davon, dass ein Abweichen von den Regelungen des BauGB trotz der daran angeknüpften Voraussetzungen „Vereinfachungsmöglichkeiten in einer nicht vorab abschließend zu benennenden Vielfalt” ermöglicht. Genau dies hat der Umgang mit dem europarechtswidrigen § 13b BauGB deutlich als Fehlgebrauch aufgezeigt. Weniger die Großstädte als vielmehr kleinere Kommunen mit Innenbereichspotenzial für mehr Wohnraum machten davon Gebrauch, was bekanntlich zur Verödung der Ortskerne führte (sog. Donut-Effekt)“ (S.8)
Auch auf der Landesebene bemüht sich der Bauernverband den Außenbereich zu schützen.
Gemeinsam mit Umweltverbänden hat er 2023 den Volksantrag „Ländle leben lassen – Flächenfraß stoppen“ initiiert.
In diesem Zusammenhang unterstreicht er die Notwendigkeit einen Paradigmenwechsel in der Siedlungspolitik einzuleiten.
Obwohl über 52.000 Unterschriften gesammelt wurden, ging der Landtag auf keine Forderung des Bündnisses ein, dementsprechend enttäuscht zeigten sich die beteiligten Verbände (Badischer landwirtschaftlicher Hauptverband)
„Angesichts der klaren Aussage im Koalitionsvertrag, den Flächenverbrauch kurzfristig auf 2,5 Hektar pro Tag und bis 2035 auf Netto-Null zu reduzieren, betrachten die Initiatoren von Ländle leben lassen die Entscheidung als nicht nachvollziehbar. Der hohe Flächenverbrauch, der vor allem im ländlichen Raum stattfindet, wäre nicht notwendig. In denselben Dörfern, in denen alle paar Jahre neue Einfamilienhausge- biete ausgewiesen werden, stehen oft Häuser und Wohnungen leer, sind bestehende Bauflächen ungenutzt und andere Verdichtungspotenziale werden nicht ausgeschöpft“.
Mit acht angeführten Landesregierungen ist die Union die dominante Kraft innerhalb des Bundesrats. Darüber hinaus haben die Länder eine hohe Kompetenz, wenn es um das Thema Raumordnung und Städteentwicklung geht. Dementsprechend wichtig ist ihr Votum, wenn es um dieses Problemfeld geht. Das Bauplanungsrecht und damit die BauGB-Novelle ist reine Bundessache, somit muss der Bundesrat das Gesetz nicht ratifizieren.
Obwohl der Bundesrat formal kein Mitspracherecht hat, hat er sich in Form einer Stellungnahme in den Diskurs eingebracht ist, was äußerst selten ist und die hohe Brisanz verdeutlicht. Konkret macht der Bundesrat vier Regelungsvorschläge wie der Außenbereich geschützt werden kann, ohne das Kernanliegen (bezahlbarer Wohnraum) zu schwächen. Ebenso sieht er die Möglichkeiten für den weiteren Ausbau von Erneuerbaren Energien gefährdet. Auch die prioritäre Entwicklung von Gebieten, die gut an die vorhandene Verkehrsinfrastruktur angebunden sind, werde konterkariert. (Stellungnahme des Bundesrats zur BauGB-Novelle)
„Eine solche Regelung ermöglicht die unkontrollierte Zersiedelung des Außenbereichs und gefährdet hierdurch den Außenbereichsschutz […] Eine solche unbestimmte Regelung widerspricht dem Grundsatz auf sparsamen Umgang mit Grund und Boden sowie dem Vorrang der Innen- vor der Außenentwicklung. Schließlich verursacht eine entsprechende Wohnraumausweitung in den Außenbereich aufgrund der hierdurch entstehenden zusätzlichen Immissionsorte ein unkalkulierbares Risiko für die eigentlich nach § 35 BauGB privilegierten Vorhaben, insbesondere Anlagen zum Ausbau erneuerbarer Energien […] Die Intention dieses Gesetzentwurfs, die Schaffung von Wohnraum zu erleichtern und zu vereinfachen wird sehr begrüßt. Dennoch wird mit der Einführung des § 246e BauGB-E (anders als etwa mit der Ergänzung des § 34 BauGB um Absatz 3b) zumindest in Teilen der falsche Weg beschritten […]
Die Sonderregelung in § 246e BauGB-E ermöglicht somit auch Wohnbauvorhaben im räumlichen Zusammenhang von sehr kleinen Ortslagen und sogar in der Umgebung von isoliert im Freiraum liegenden kleinen Bebauungsplanflächen (zum Beispiel für einzelne Gewerbebetriebe).
Die über die Raumordnung angestrebte wirtschaftlich effiziente und verkehrsvermeidende Konzentration der Siedlungsentwicklung auf infrastrukturell gut ausgestattete und angebundene Bereiche wird damit konterkariert und zudem die weitere Zersiedelung der Landschaft begünstigt […] Dies würde dem Leitbild einer nachhaltigen europäischen Stadt der „Neue Leipzig-Charta“ widersprechen, das Grundlage jeder Siedlungsentwicklung sein sollte […] Eine zusätzliche Flächenversiegelung gerade in sensiblen klimatischen Bereichen oder Überschwemmungsbereichen würde zu erheblichen Problemen führen“. (S. 14 ff)
Falls der Außenbereich dennoch Teil des Gesetzentwurfs bleibt, macht der Bundesrat behelfsmäßig noch folgenden Vorschlag, um die schlimmsten Konsequenzen abzuwenden:
„Zumindest sind drei elementare Anforderungen für verbindlich zu erklären: Das Gewährleisten einer aus- reichenden Erschließung (v. a. auch bezogen auf die Abwasserbeseitigung und Trinkwasserversorgung), die Vereinbarkeit von größeren, raumbedeutsamen Vorhaben mit den Zielen der Raumordnung sowie die Berücksichtigung von Klimawandelfolgen. Gerade letzteres ist vor dem Hintergrund der aktuellen Hitzeperioden sowie Starkregen- und Hochwasserereignisse der letzten Jahre unabkömmlich; dabei sind insbesondere auch die wasserrechtlichen Bestimmungen zu Überschwemmungsgebieten zu beachten“ (S. 18)
Anlässlich der Sachverständigen-Anhörung im Rahmen der öffentlichen Ausschusssitzung des Bauausschuss am 10.09.2025 haben sich neun Kommunen mit eigenen Forderungen zur BauGB-Novelle eingeschaltet.(Gemeinsame Stellungnahme der Kommunen) Darunter auch zwei die Unions-geführt sind (Bayreuth und Düsseldorf). Ein zentraler Punkt ist die Begrenzung des Anwendungsbereichs des neuen § 246 e auf den Innenbereich.
„der Außenbereich gegenüber der Innenentwicklung geschützt und vom „Bauturbo“ weitgehend ausgenommen wird,“
„Den „Bauturbo“ begrenzen: Außenbereiche sichern! Die Außenbereiche sind planungsrechtlich vor Bebauung geschützt, weil sie herausragende Funktionen für die Versorgung der Städte, z.B. für die Frischluft-, Trinkwasser-, Lebensmittel- oder Energieproduktion, übernehmen. Diese schützenswerten Belange dürfen nicht durch den „Bauturbo“ aufs Spiel gesetzt werden. Allein die „Außenbereiche im Innenbereich“ – meist innerstädtische, gut erschlossene Areale – sollten als Potentiale mit Hilfe des „Bauturbos“ gehoben werden können. Hingegen droht bei einer generellen Anwendungsmöglichkeit des „Bauturbos“ an Siedlungsrändern die Entstehung von Wohnsiedlungen ohne ausreichend Anschluss und Versorgung, die mit hohen Kosten nachgerüstet werden müssten“
Die politischen Vertretungen der beiden Hauptkirchen in Deutschland haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet. Der Außenbereich erfülle wichtige Aufgaben für die Gesellschaft, Wohnraum gehöre nicht dazu. Damit widerspreche die Bundesregierung dem Grundsatz Innen- vor Außenentwicklung, so die Gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe (Katholisches Büro in Berlin) und des Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union 03.09.2025.
„Dann würde der Anwendungsschwerpunkt des § 246e BauGB-E allerdings wohl im Außenbereich liegen. Gerade im Außenbereich sind aber Vorhaben des Wohnungsneubaus besonders problematisch, da dieser Bereich grundsätzlich von der Bebauung freigehalten werden und solchen Vorhaben Raum geben soll, die aufgrund ihrer Art und ihres Bedarfs auf den Außenbereich angewiesen sind. Die Wohnbebauung gehört nicht hierzu […] Somit kehrt § 246e BauGB-E letztlich die von uns vertretene Priorisierung des Bauens im Bestand und der Umnutzung von Nichtwohngebäuden vor dem Neubau auf versiegelten Flächen vor dem Neubau auf bisher unversiegelten Flächen um. Wir halten das aus den genannten ökologischen, ökonomischen und sozialen Gründen für verfehlt und für ein falsches Signal an die Bau- und Immobilienwirtschaft. Auch gesellschaftlich setzt § 246e BauGB-E so ein ungutes Zeichen.“ (S. 14)
“Angesichts der vorgeschlagenen weitreichenden Abweichungsmöglichkeiten vom geltenden Planungsrecht können wir allerdings nicht ausschließen, dass langfristige städtebauliche Ziele zur nachhaltigen, funktionalen und sozial ausgewogenen Stadtentwicklung der Kommunen konterkariert werden.
Die beabsichtigten Regelungen der §§ 246e, 31 Abs. 3 sowie 34 Abs. 3b BauGB-E stellen einen erheblichen Eingriff in die kommunale Planungs- und Steuerungshoheit dar. Sie werden absehbar mit langfristig höheren Folgekosten, städtebaulichen Fehlentwicklungen sowie einem deutlich wachsenden kommunalen Koordinierungsaufwand einhergehen.”
Der Bauturbo ist aktuell nur für reine Wohngebäude zulässig. Damit verpufft ein Großteil des erhofften Beschleunigungseffekts. Gerade wenn Supermärkte aufstocken sollen, funktioniert das häufig nur mit einem Abriss und Ersatzneubau.
Daraus resultiert ein Mixed-Use-Objekt: oben wohnen, unten Einzelhandel. Aber genau diese gemischte Nutzung ist im Gesetzentwurf nicht vorgesehen.
Verbände über alle Lager hinweg (Bauindustrie, Umweltverbände, ArchitektInnen, Handwerksverbände) fordern, dass auch Gebäude mit einem untergeordneten Gewerbeanteil zulässig sind. Damit wären innovative Bauprojekte möglich, die einen echten Mehrwert für alle AnwohnerInnen bieten.
Die Reaktionen auf den Regierungsentwurf zum neuen Bauturbo zeigen, dass viele Akteure aus dem CDU/CSU-Lager die Öffnung des Außenbereichs kritisch sehen.
In der gestrigen Anhörung zum Bauturbo haben die Abgeordneten der Union betont, dass die BauGB-Novelle ein Gesetz für die Kommunen ist.
Paradoxerweise wird auf diese aber nicht gehört. Neun Städte, die in besonderem Maße von Wohnungsnot betroffen sind, haben sich anlässlich der Anhörung mit einer klaren Botschaft an die Bundesregierung gewandt: Der Außenbereich darf dem Bauturbo nicht zum Opfer fallen (Leipzig, 2025). Unter den mitzeichnenden Kommunen finden sich auch solche unter CDU- bzw. CSU-Führung.
Hintergrund: Die Regierung will die Genehmigung von Bauprojekten im Außenbereich ohne Bebauungsplan ermöglichen. Die fachkundigen Berufsverbände sehen darin erhebliche Risiken für eine Zersiedlung der Landschaft und hohe Folgekosten für die Kommunen.
Der CDU/CSU-dominierte Bundesrat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf ebenfalls harsche Kritik geübt (Bundesrat, 2025). Dass der Bundesrat sich mit einer Stellungnahme überhaupt einmischt, ist bemerkenswert. Bei nicht-zustimmungspflichtigen Gesetzen passiert dies nur äußerst selten (der Bauturbo muss nicht vom Bundesrat bestätigt werden). Formal haben die Länder also kein Mitspracherecht, aber sie haben in der Frage der Flächennutzung eine ausgeprägte Kompetenz. Sie sind verantwortlich für die Entwicklung der Regionalpläne, die als Grundlage für die Flächennutzungspläne der Kommunen fungieren. Sie wissen um die Nutzungskonkurrenzen und die diffizilen Abwägungsprozesse, wenn es um Flächeninanspruchnahme geht. Daher ist ihr Urteil von besonderer Bedeutung. Sie heben in ihrer Stellungnahme hervor, dass der sparsame Umgang mit Boden und der Schutz des Außenbereichs seit jeher ein fundamentaler Bestandteil des Baugesetzbuches ist. Insofern stellt der aktuelle Vorschlag einen Bruch mit der historischen Entwicklung des Gesetzes dar. Außerdem nehme die Schutzwürdigkeit des Außenbereichs über die Zeit weiter zu: Durch den Klimawandel häufen sich Extremwetterereignisse. Gerade bei extremen Niederschlägen ist der unversiegelte Außenbereich essenziell, um Regenwasser abzuführen und Überschwemmungen zu verhindern oder abzuschwächen. Dass dem Bundesrat ein Nachsteuern in diesem Punkt ein besonderes Anliegen ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er vier konkrete Formulierungen anbietet, die den Schutz des Außenbereichs gewährleisten.
Dabei richtet sich die Kritik nicht gegen die Zielsetzung des Gesetzentwurf – im Gegenteil: Alle Akteure befürworten die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.
Jedoch haben die Erfahrungen mit dem inzwischen ungültigen §13b BauGB gezeigt, dass beschleunigte Verfahren für den Außenbereich vor allem genutzt werden, um Einfamilienhäuser in ländlichen Gebieten zu genehmigen. Es ist zu befürchten, dass sich das Gleiche bei dem § 246e (Bauturbo) im Außenbereich wiederholen wird: Hohe Erschließungskosten, Bausünden, Schwächung der Klimaresilienz, Verlust von landwirtschaftlichen Flächen, hohe volkswirtschaftliche Kosten für die Gesellschaft, fehlende Anbindung an den ÖPNV, bei Wirkungslosigkeit in Bezug auf den Wohnraummangel.
Auch der Deutsche Bauernverband, der der CDU/CSU traditionell nahesteht, sieht in der Öffnung des Außenbereichs durch den Bauturbo eine Fehlentwicklung (DBV, 2025). Für sie ist das Bekenntnis zu dem Grundsatz „Innen- vor Außenentwicklung“ ein wichtiger Grundsatz. In einer Berechnung des Thünen-Instituts wird befürchtet, dass bis 2030 weitere 300.000 ha Ackerfläche verloren gehen werden. Hier braucht es also einen Paradigmenwechsel und eine Kehrtwende. Mit der Öffnung des Außenbereichs werde der „Flächenfraß“ aber weiter befeuert. Der Bauernverband unterstreicht, dass eine alternative Siedlungspolitik möglich ist und bezieht sich dabei auf eine Studie, die berechnet hat, dass es in deutschen Ballungsgebieten Wohnraumreserven im Bereich zwischen 2,3 – 2,7 Millionen Wohneinheiten gibt, welche durch bessere Bedingungen fürs Bauen im Bestand erschlossen werden können (TU Darmstadt, 2019). Der Zugriff auf den Außenbereich sei also nur in begründeten Ausnahmefällen berechtigt, und dürfe nicht weiter erleichtert werden.
Die einzige Lobbygruppe, die die CDU-Spitze in ihren Außenbereich-Experimenten unterstützt ist, wenig überraschend, die Bauindustrie. Für sie ist nur entscheidend, dass gebaut wird. Wo und für wen gebaut wird, ist für sie irrelevant. Hier gehen allgemeine Interessen und Partikularinteressen eben weit auseinander. Aufgabe der Politik ist es aber nicht, die Erwartung einer spezifische Klientel zu erfüllen, sondern die beste Lösung für die Gesamtbevölkerung zu entwickeln.
Am Ende bleibt ein unschöner Verdacht: Vielleicht geht es der CDU-Spitze gar nicht darum den Wohnungsmangel zu beheben, sondern nur darum, dass sie mehr Wohnungen baut als die Vorgängerregierung.
Das ist aber eine rein symbolische Ebene und wird den Herausforderungen auf der Sachebene nicht gerecht. Dass eine bessere räumliche Steuerung geboten ist, zeigen nicht zuletzt die Zahlen von empirica: Demnach findet 40% der Bauaktivität in übersättigten Märkten statt (Capital, 2024).
In der BauGB-Novelle steckt jedoch großes Potenzial: Falls die CDU-Spitze beim Schutz des Außenbereichs nachsteuert, kann die BauGB-Novelle einen essenziellen Beitrag dazu leisten, dass das dringend benötigte Bauen im Bestand einfacher und schneller wird. In der gestrigen Anhörung nannte z.B. der Jura-Professor Hellriegel die Änderungen im Bereich der TA Lärm gar revolutionär. Diese ermöglichen eine bessere Vereinbarkeit von Gewerbegebieten und heranrückender Wohnbebauung.
In dieser Kolumne möchte ich vor allem auf vier Fragen eingehen:
Die BauGB-Novelle wird u.a. drei neue Genehmigungstatbestände einführen:
§ 31 Abs. 3: Abweichungen vom Bebauungsplan (beplanter Innenbereich)
§ 34 Abs. 3b: Abweichungen vom Einfügungsgebot (unbeplanter Innenbereich)
§ 246e: Abweichungen von allen Normen des BauGB in erforderlichem Ausmaß (Außen- und Innenbereich)
Um eine genaue Einsicht in die geplanten Änderungen zu bekommen, empfehle ich einen Blick in unsere Kolumne von vorletztem Monat „Sprengkraft braucht System – Was der Bauturbo kann, und was er noch lernen muss“.
Wo stehen wir gerade in dem gesetzgeberischen Verfahren?
Bereits die Ampel-Koalition hat vor 1,5 Jahren einen Anlauf zur BauGB-Novelle unternommen. Das Auseinanderbrechen der Koalition hat den ersten Versuch zunichte gemacht. Die neue Regierung hat das Thema im Koalitionsvertrag (April 2025) zur höchsten Priorität erklärt. Im Juni hat das Kabinett den Gesetzentwurf verabschiedet (Bundesregierung, 2025). Für die erste Lesung im Bundestag haben die Regierungsfraktionen am 10. Juli einen leicht abgewandelten Entwurf in den parlamentarischen Prozess eingebracht (Bundestag, 2025). Während der Sommerpause hat sich naturgemäß nichts getan, aber in Kürze kommt wieder Bewegung in die Sache: Am 10. September findet die Öffentliche Anhörung im Bauausschuss statt (Bauausschuss, 2025).
Bei öffentlichen Anhörungen ist es die Regel, dass die Fraktionen gemäß ihrer Fraktionsstärke Expert*innen benennen dürfen. Als stärkste Fraktion schickt die CDU/CSU-Fraktion 3 Expert*innen ins Rennen. Die SPD benennt 2 Expert*innen und die übrigen Fraktionen jeweils einen Experten bzw. eine Expertin.
Hier die Übersicht:
Die Vertreter*innen der kommunalen Spitzenverbände werden bei öffentlichen Anhörungen automatisch beteiligt und müssen nicht von den Fraktionen benannt werden. Mit der finalen Verabschiedung ist bei der dritten Lesung wahrscheinlich im Oktober 2025 zu rechnen.
Diese Punkte sollten an der BauGB Novelle auf jeden Fall noch geändert werden
Gebäude mit Gewerbeanteil zulassen
Aktuell ist es so, dass auf Grundlage der neuen Instrumente (§§ 31, 34, 246e) nur Gebäude zu reinen Wohnzwecken errichtet werden dürfen. Die Intention ist zunächst verständlich: Man möchte als Gesetzgeber unterstreichen, dass die Wohnungskrise als akutes Problem verstanden wurde und gegenüber der Errichtung von Gewerbegebieten priorisiert wird. Mit dieser scharfen Formulierung werden den Kommunen und Planenden aber wertvolle Freiheiten genommen. Mit einer weicheren Formulierung könnten die stadtentwicklungspolitischen Ziele (Stadt der kurzen Wege) jedoch besser erreicht werden.
Im Gesetzestext sollte von „Gebäuden mit überwiegender Wohnraumnutzung“ die Rede sein.
Warum?
Das Paradebeispiel ist eine überalterte Einfamilienhaussiedlung wie es sie tausendfach in Deutschland gibt. Städtebaulich würde ein komplementärer Geschosswohnungsbau einige Probleme lösen – vielleicht sogar ein Neubaugebiet obsolet machen. Besonders attraktiv werden solche Projekte, wenn sie mit einer gewerblichen Nutzung im Erdgeschoss kombiniert werden können (Einrichtungen des täglichen Bedarfs, Ärztezentrum, Handwerksbetriebe). Unter der aktuellen Regelung wäre dies ausdrücklich nicht möglich.
Ein anderes Beispiel wäre ein leerstehendes, einstöckiges Autohaus ohne Traglastreserven. Mit dem vorgeschlagenen Gesetzestext müsste sich die Kommune entscheiden: Entweder abreißen und ein reines Wohngebäude errichten und damit Gewerbefläche verlieren oder es so belassen, und auf den Wohnraum verzichten.
Mit der angepassten Formulierung könnte die Kommune beides haben: Oben wohnen, unten Gewerbefläche.
Für eine solche Anpassung finden sich über alle Lager hinweg Befürworter*innen, z.B. der Zentralverband des Deutschen Handwerks „Wenn der Gesetzgeber die Sonderrege- lung nach § 246e BauGB-E einführt, sollte neben dem Wohnen bei Neubau und Um- nutzung auch die Platzierung von (flächenmäßig untergeordnetem) Gewerbe und be- gleitender Infrastruktur möglich sein, um die Versorgung und wohnortnahe Arbeits- plätze zu sichern“ (ZDH, 2025, S. 10). Deswegen sehe ich gute Chancen, dass die Veränderung in dem laufenden Verfahren Berücksichtigung findet.
Außenbereich schützen
Aktuell ist es so, dass sich der Anwendungsbereich des § 246e auf Flächen im räumlichen Zusammenhang mit bebauten Gebieten bezieht. Das heißt im Klartext: Sofern sich das anvisierte Projekt im Umkreis von 100 m von einem Gebäude befindet, darf es genehmigt werden.
Wer sich einmal mit Mindestabständen von Windrädern beschäftigt hat, weiß, dass Deutschland schon extrem dich bebaut ist. Gerade kleinere Höfe/Bebauungen würden Bebauungen im Außenbereich im großen Stil erlauben. Es gibt sehr gute Gründe, warum der Außenbereich bislang einen außerordentlichen Schutz im Bauplanungsrecht genießt: Wir befinden uns in einer Biodiversitätskrise, die Rückzugsräume für bedrohte Arten werden immer kleiner. Auf der anderen Seite befinden wir uns auch in einer Situation mit extremer geopolitischer Unsicherheit. Die landwirtschaftliche Fläche geht durch Expansion von Verkehr, Gewerbe und Wohnen stetig zurück. Dies sollte zugunsten einer resilienten, unabhängigen Landwirtschaft so gut wie möglich eingedämmt werden. Der Bundesrat sieht dies ebenfalls so, er hat in seiner Stellungnahme harsche Kritik geübt. Sieht in dem Vorschlag ein Abweichen von einem bewährten Leitprinzip mit katastrophalen Folgen (Bundesrat, 2025, S. 14 ff).
Gerade vor dem Hintergrund, dass allein in den Ballungszentren 2,3 -2,7 Millionen Wohneinheiten durch Aufstockung und Umnutzung von Bürogebäuden geschaffen werden können, scheint ein fahrlässiges Bauen im Außenbereich unangebracht (Tichelmann et al., 2019). Dem steht ein mittelfristiger Bedarf von 1,6 Millionen Wohnung gegenüber (BBSR, 2025). Daher sollte sich die Politik vermehrt mit der Frage auseinandersetzen, wie die enormen Innenentwicklungspotenziale systematisch und schnell erschlossen werden können (siehe dazu auch den letzten Punkt in diesem Artikel). Neben dem Bundesrat ist der Deutsche Bauerverband ein lautstarker Vertreter dieser Position, und hat bei der Union durchaus Gewicht „Durch eine derartige Baulandpolitik mit erleichtertem Zugriff auf den Außenbereich droht den landwirtschaftlichen Betrieben noch schneller und noch mehr Fläche als ohnehin schon geschehend für die dringend benötigte Lebensmittelerzeugung verloren zu gehen“ (Deutscher Bauernverband, 2025).
Klimaanpassung mitdenken
Das Konzept der dreifachen Innenentwicklung „Mobilität, Wohnen, Grün“ ist eine gute Richtschnur für eine gelungene Stadtentwicklung. Bei der aktuellen BauGB-Novelle muss darauf geachtet werden, dass der letzte Punkt „städtisches Grün“ nicht unter die Räder gerät. In Bebauungsplänen gibt die Kennziffer Grundflächenzahl (GRZ) an, wie viel Prozent eines Grundstücks bebaut bzw. versiegelt werden darf. Mit den kommenden Änderungen können sich Bauherr*innen (vorausgesetzt der Zustimmung der Gemeinde) über diese Einschränkung hinwegsetzen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Erderwärmung muss es aber unser gemeinsames Anliegen sein, städtische Grünflächen zu erhalten und sogar weitere Flächen zu entsiegeln, um die Temperaturen in unseren Städten erträglich zu halten und für extreme Niederschläge gewappnet zu sein. Daher wäre es extrem wichtig, in der Gesetzesnovelle einen Passus zu verankern, der einen Prüfschritt hinsichtlich der Verträglichkeit mit der Klimaanpassung vorsieht. Es gibt Städte, die schon recht fortgeschrittene Untersuchungen über Hitzebelastung angestellt haben. Hier müsste klar sein, dass es in Hot Spots zu keiner weiteren Versiegelung kommen darf. Eine horizontale Verdichtung bringt viele Probleme mit sich, daher sollte es eine klare Priorisierung von Maßnahmen geben, die eine vertikale Verdichtung begünstigen.
Hier muss die Politik standhaft bleiben
§ 36a oder „Die Kommune hat das letzte Wort“
Die neuen Instrumente (§§ 31 Abs. 3, 34 Abs. 3b, 246e) ermöglichen sehr weitreichende Abweichungen von den aktuellen Planungsverfahren. Daher ist es wichtig, dass die gemeindliche Politik (Gemeinderat) und die kommunale Verwaltung sicherstellen, dass mit diesen Ausnahmeinstrumenten nur Projekte realisiert werden, die zu den Zielen der lokalen Stadtentwicklung passen.
An dieser Stelle muss auch der Unterschied zwischen dem kommunalen Einvernehmen und der kommunalen Zustimmung erwähnt werden.
Bei üblichen Bauanträgen auf Grundlage von §30 (Bebauungsplan) oder §34 (unbeplanter Innenbereich, Einfügungsgebot) gilt das kommunale Einvernehmen. Falls alle Voraussetzungen des Bebauungsplans bzw. des Einfügungsgebots vom Antragsteller bzw. der Antragstellerin erfüllt werden, herrscht eine Genehmigungspflicht. Wird diese verwehrt, stehen dem Antragssteller Klagewege offen.
Falls materiell alles korrekt ist, wird das Gericht ihm bzw. ihr das Baurecht gewähren – ungeachtet welchen Standpunkt die kommunale Verwaltung oder Politik diesbezüglich vertritt.
Bei der Zustimmung nach § 36a – die nun bei den neuen Genehmigungsinstrumenten einschlägig ist – sieht das gänzlich anders aus:
Die Gemeinde ist in ihrer Entscheidung frei. Falls sie das Projekt befürwortet, wird es genehmigt. Falls die Kommune irgendwelche Einwände hat, erteilt sie keine Baugenehmigung. Ohne Begründungspflicht und ohne die Gefahr vor Gericht gezogen zu werden. Dies ist auch nachvollziehbar, da es sich ja gerade um Projekte handelt, die von den Leitlinien abweichen, die in einer langfristigen Bauleitplanung vereinbart wurden. Wer sollte hier besser beurteilen können, ob diese Abweichung zu der städtebaulichen Ordnung der Kommune passt, als die Kommune selbst? Ein Gericht sicherlich nicht, weil es nur Kongruenzen feststellt: Ist ein Bauantrag in Übereinstimmung mit einem existierenden Plan: ja oder nein?
Genau diese wichtige kommunale Hoheit ist der Bauindustrie aber ein Dorn im Auge. Sie sieht die Gefahr, dass die Kommunen auf die Bremse treten und es keine Planungssicherheit für die Investoren gibt.
Was muss noch geschehen, um einen wahrhaftigen Umbauturbo auszulösen?
Auch wenn die BauGB-Novelle voraussichtlich im Oktober über die Zielgerade kommt, ist der Umbauturbo noch lange kein Selbstläufer. Es bedarf dringend weiterer Instrumente:
Kommunen mit angespanntem Wohnungsmarkt (z.B. Leerstandquote < 3%) sollten verpflichtet werden, alle Wohnraumpotenziale im Bestand systematisch zu erfassen und zu quantifizieren. Mit diesen Informationen hat die Kommune eine deutlich bessere Entscheidungsgrundlage und kann die nächsten Schritte zur Bekämpfung des Wohnraummangels angehen. Wo kann sie selbst mit kommunalen Wohnungsunternehmen aktiv werden? Mit welchen Gebäudeeigentümer*innen muss sie ins Gespräch treten? Wo braucht es Bürgerbeteiligung, weil sich durch die potenziellen Eingriffe im Bestand Konfliktlinien auftun? Wie groß müssen Neubaugebiete auf der grünen Wiese dimensioniert sein oder kann gänzlich auf sie verzichtet werden?
Eine solche Analyse könnte und sollte auch vom Bund im Rahmen von bestehenden Förderlinien (Städtebauförderung) unterstützt werden, z.B. bei der Aufstellung oder Fortschreibung der Integrierten Stadtentwicklungskonzepten (ISEK). Der Bund hat die Verantwortung für die Einhaltung der Flächenziele, daher sollte er auch Instrumente bereitstellen, die den Flächenverbrauch auf das notwendige Minimum reduzieren.
Ergänzend zu dem gerade erwähnten Punkt, sollte die Kommunen mit angespanntem Wohnungsmarkt ein Fortschrittsmonitoring einführen. Wie viele Wohneinheiten wurden letztes Jahr im Bestand geschaffen? Diese Zahl muss abgeglichen werden, mit den gesetzten Zielen und den Potenzialen.
Ein weiterer Punkt ist die Förderung: Während klassischer Neubau von der Regierung mit beachtlichen Mitteln gefördert wird – aktuell sind es ca. 7 Milliarden Euro pro Jahr – gibt es für das Bauen im Bestand keine gesonderten Förderprogramme.
Aus politikwissenschaftlicher und volkswirtschaftlicher Sicht ist das nicht nachvollziehbar.
Zunächst wird durch das Bauen im Bestand wertvolles CO2 gespart. Aufstockungen werden in der Regel (auch aufgrund der Statik) in Holzrahmenbauweise ausgeführt. Die zusätzliche Etage fungiert sogar als CO2-Senke. Auf klassischen Neubaustellen dominiert nach wie vor Beton als Material für das Tragwerk. Man könnte argumentieren, dass Zement bereits durch den ETS1 ausreichend besteuert wird. Dem ist aber nicht so. Zum einen liegt der ETS1-Preis aktuell bei gerade mal 72 Euro (Ember Carbon Price Tracker, Stand 25.08.2025), obwohl die tatsächlichen Schäden gemäß Methodenkonvention 3.2 des UBA bei 880 Euro pro Tonne CO2 liegen (UBA, 2024, S. 8). Das heißt obwohl die Gesellschaft als ganzes profitiert, wenn Wohnraum über Nachverdichtung im Bestand entsteht, statt als Neubau auf der grünen Wiese, schlägt sich dies nicht 1 zu 1 bei den betriebswirtschaftlichen Kosten durch.
Ebenfalls muss das Bauordnungsrecht weiterentwickelt werden. Einen wichtigen Impuls haben hier die Architects for Future mit ihrer Forderung nach einer „Umbauordnung“ statt der bisherigen Bauordnung geliefert (vgl. A4F, 2021). Ein Aspekt, der in der Debatte bislang jedoch kaum Beachtung findet, ist der Bestandsschutz – ein zentrales Element beim Bauen im Bestand. Wird dieser Bestandsschutz entzogen, können Maßnahmen wie etwa eine Aufstockung prohibitiv teuer werden.
Entscheidend ist dabei die Einschätzung der lokalen Baubehörden: Gelten Aufstockungen als „wesentliche Veränderung“ des Gebäudes, erlischt der Bestandsschutz. In der Folge müsste das gesamte Gebäude in Hinblick auf Brandschutz, Schallschutz und Energieeffizienz an die aktuellen Standards angepasst werden. Gelten die Änderungen hingegen nicht als wesentlich, beziehen sich die aktuellen Anforderungen nur auf das neu geschaffene Stockwerk.
Das Problem liegt im großen Ermessensspielraum der Behörden. Sinnvoll wäre deshalb eine Regelung auf Länderebene, wonach eine Aufstockung grundsätzlich nicht als wesentliche Änderung gilt. Damit ließe sich die Attraktivität solcher Maßnahmen deutlich erhöhen und ein wichtiger Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum leisten. Natürlich bleiben Standsicherheit und Brandschutz von diesen Überlegungen unberührt – hier darf es keine Abstriche geben. Entscheidend ist, dass sich der Brandschutz durch ein zusätzliches Geschoss nicht verschlechtert. Gegebenenfalls muss dafür etwa ein Treppenhaus verbreitert werden. Gleichzeitig sollte aber nicht verlangt werden, dass der gesamte Brandschutz des Gebäudes aufgrund der Aufstockung auf ein höheres Niveau angehoben wird. Vielmehr sollten die aktuellen Brandschutzanforderungen ausschließlich für das neu errichtete Geschoss gelten.
Der letzte Punkt betrifft die Sicherheit der Menschen, die das Bauen im Bestand tatsächlich mit ihren Händen umsetzen: die Maurer*innen, Zimmerleute, Elektriker*innen, Dachdecker*innen, Trockenbauer*innen, Stukkateur*innen, Maler*innen, Isoliertechniker*innen und weiteren Handwerk*innen. Nach Angaben der IG BAU sind in den letzten 10 Jahren über 3000 Handwerker*innen an den Folgen von Asbest gestorben und war damit die häufigste berufsbedingte Todesursache (IG BAU, 2023). Gerade die Wohnhäuser mit dem größten Nachverdichtungspotenzial aus den 50er-80ern, sind auch jene mit der größten Schadstoffbelastung. Diese Debatte muss früh, ehrlich und wissenschaftlich fundiert geführt werden. Am Ende dürfen Kosten- und Zeitdruck nicht dazu führen, dass sich die Beschäftigten im Bausektor einem unkalkulierbaren Risiko aussetzen. Als erster Schritt wäre es daher sinnvoll, einen Schadstoff-Pass für Gebäude einzuführen. Dort könnten sich Handwerker*innen vor Beginn der Arbeiten informieren, ob Gebäude mit Asbest belastet sind, und falls ja welche Bauteile genau. Darüber hinaus müssten staatliche berufene Kontrolleur*innen prüfen, ob die Arbeitsschutzmaßnahmen in diesem sensiblen Bereich auch tatsächlich eingehalten werden. Aktuell ist ein staatlicher Kontrolleur bzw. Kontrolleur*in für die Arbeitssicherheit von 23.000 Beschäftigten verantwortlich, während die International Labour Organisation einen Schlüssel von maximal 10.000 empfiehlt (Bayerische Staatszeitung, 2023).
Der Bauturbo ist wie Sprengstoff: hochpotent und wirkungsvoll, aber auch gefährlich – man muss wissen, wie man damit umgeht. In diesem Text klären wir zunächst, welche Neuerungen auf uns zukommen. Anschließend ordnen wir sie ein: Welche Risiken, aber auch welche Chancen sind damit verbunden? Und zu guter Letzt präsentieren wir Heilungsansätze: Welche zusätzlichen Sicherheitsmechanismen braucht es, um die Vorteile zu bewahren und das Gefährdungspotenzial zu reduzieren?
Geschichte
Das „Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung“ – so heißt der Bauturbo offiziell – hat eine recht lange Vorgeschichte. Schon 2017 gab es den Versuch, Planungsverfahren beim Wohnungsbau radikal zu verkürzen. Mit der Einführung des § 13b BauGB (im Folgenden wird auf den Zusatz „BauGB“ verzichtet, da sich alle Paragraphen auf das Baugesetzbuch beziehen, falls nicht anders kenntlich gemacht) konnten Kommunen bei der Aufstellung von Bauplänen mit weniger als 10.000 m² auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung verzichten. 2023 hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig geurteilt, dass eine solche Pauschalierung nicht mit EU-Recht vereinbar sei, und diese Rechtsgrundlage gekippt. Die Ampelregierung hat sich seit Ende 2023 mit dem Bauturbo beschäftigt. Da es zu vorgezogenen Neuwahlen kam, konnte das Projekt in der letzten Legislaturperiode nicht abgeschlossen werden. Die aktuelle Regierung hat den Bauturbo nun zu ihrem Vorzeigeprojekt auserkoren. Im Koalitionsvertrag haben sich die beiden Regierungsfraktionen darauf geeinigt, dieses Gesetz in den ersten 100 Tagen der Regierungszeit durch das Parlament zu bringen. Da nun die Sommerpause dazwischenkommt, wird die Regierung diesen Zeitplan nicht einhalten können – aber das Vorhaben genießt weiterhin höchste Priorität.
Rechtliche Neuerungen
Die §§ 9 und 216a beschäftigen sich mit der Frage, ob Gewerbe- und Wohnzwecke näher zusammenrücken können. Bislang hat die TA (Technische Anleitung) Lärm strikte Vorgaben gemacht, wie laut es maximal in einem Gebiet mit Wohnraum sein darf. Diese Stringenz wird nun aufgebrochen. Zum einen gibt es für die Planer*innen eine größere Flexibilität, wie mit Lärm umgegangen wird: Nicht nur an der Schallquelle kann angesetzt werden, sondern ebenso am Ausbreitungsweg und am schutzwürdigen Wohngebäude. Letzteres ist insbesondere für heranrückende Bebauung relevant, da ein bestehender Gewerbebetrieb eine geringe Motivation für schallisolierende Maßnahmen haben könnte. Zum anderen kann sich die Kommune entscheiden, auf Regelungen der TA Lärm zu verzichten – natürlich muss der Grundsatz gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse weiterhin eingehalten werden, aber auch hier ergeben sich neue Freiheiten.
Durch die Neufassung des § 31 Absatz 3 bekommen die Gemeinden die Möglichkeit, von Festsetzungen im Bebauungsplan in erforderlichem Umfang abzuweichen. Das heißt, auf ein Planänderungsverfahren bzw. eine Neuaufstellung kann verzichtet werden. Diese Regelung ist zeitlich nicht befristet.
Für den nicht beplanten Innenbereich kommt eine ähnliche Regelung. Dort ist bis dato das Einfügungsgebot maßgeblich. Das heißt, dass anhand von vier Faktoren geprüft wird, ob sich ein (Um)Bauprojekt in die nähere Umgebung einfügt.
Durch den neuen Absatz 3b im § 34 darf die Kommune von dem Einfügungsgebot abweichen. Öffentliche und nachbarliche Belange müssen weiterhin gewahrt werden.
Kommen wir nun zum Kernstück der Novelle: der Experimentierklausel § 246e (manchmal wird auch nur dieser Paragraph als Bauturbo bezeichnet). Mit diesem Instrument wird die Gemeinde ermächtigt, auf (fast) alle Regelungen aus dem Bauplanungsrecht zu verzichten. Der Anwendungsbereich ist nicht auf den Innenbereich beschränkt. Er wird über den räumlichen Zusammenhang mit den bebauten Ortsteilen definiert. In der Begründung wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber diesen räumlichen Zusammenhang bis zu einer Entfernung von 100 m als gegeben ansieht. Neben Wohngebäuden können auf dieser Grundlage auch soziale Infrastrukturen (Kitas, Schulen) geschaffen werden. Die Effekte dieser Experimentierklausel werden vom Bauministerium beobachtet und spätestens 2029 evaluiert. So kann über den Verbleib entschieden werden – denn die Gültigkeit ist zunächst auf 2030 begrenzt.
Weiterhin werden zwei befristete Paragraphen um 5 Jahre verlängert:
§ 201a regelt die Ausweisung von angespannten Wohnungsmärkten. Die Länder können ihre Kommunen nun bis 2031 ermächtigen, gewisse Instrumente zur Bekämpfung der Wohnungsnot wie z.B. Vorkaufsrechte und Baugebote anzuwenden.
Ebenfalls verlängert wird der § 250. Dieser besagt, dass in angespannten Wohnungsmärkte Mietwohnungen nicht in Eigentumswohnungen umgewandelt werden dürfen. Dies schützt Mieter*innen z.B. vor Eigenbedarfskündigungen.
Einordnung
Die vorliegende Gesetzesnovelle kann mit Fug und Recht als der größte Eingriff in das Bauplanungsrecht seit Einführung des Baugesetzbuchs im Jahr 1960 bezeichnet werden. Schauen wir zunächst auf die Risiken, die sich aus den Änderungen ergeben.
Risiken
Seit der erste Entwurf des Gesetzes vor 1,5 Jahren veröffentlicht wurde, herrscht unter Umweltverbänden eine große Skepsis. Und auch die Bauernverbände sehen in dem Bauturbo eine große Gefahr.
Um die Flächenproblematik besser zu verstehen, braucht es einige Hintergrundinformationen: Deutschland hatte sich ursprünglich bis 2020 vorgenommen, den Flächenverbrauch auf 30 ha pro Tag zu begrenzen. Da dies nicht gelungen ist, wurde das Ziel kurzerhand auf 2030 verschoben. Aktuell stehen wir bei einem täglichen Verbrauch von 52 ha. Und obwohl dieses Ziel auf der Bundesebene angesiedelt ist, gibt es keinerlei Bundes-Governance, um dieses Ziel zu erreichen. Die Entscheidung zur Flächeninanspruchnahme wird vor Ort in den Kommunen getroffen.
Ein großer Teil des Flächenkonsums ist auf den Wohnungsbau zurückzuführen. Das hört sich zunächst sinnvoll an, aber eine Studie von Empirica legt nahe, dass 40% der Neubauten in Gegenden mit übersättigtem Markt stattfinden (Empirica, 2024).
Der große Flächenverbrauch geht zu Lasten der Biodiversität in Deutschland und der landwirtschaftlichen Erzeugungsflächen. Gerade in turbulenten Zeiten, in denen selbst Lebensmittel zurückgehalten werden, um geopolitische Ziele zu erreichen, ist eine große und starke heimische Landwirtschaft ein Faktor, um wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit zu bewahren. Die Landwirt*innen stehen ohnehin schon unter Druck. Mit dem Bauturbo wird nun jedwede landwirtschaftliche Fläche im räumlichen Zusammenhang mit einem Ortsteil zum Spekulationsobjekt. Es braucht nur die Zustimmung der Gemeinde, und aus landwirtschaftlicher Fläche wird Bauland.
Umwelt- und Bauernverbände sind sich einig, dass die aktuelle Ausgestaltung des Gesetzes eine Gefahr für eine geordnete städtebauliche Entwicklung der Kommunen in Deutschland ist. Es gibt keinerlei Vorgaben, die sicherstellen würden, dass der Außenbereich nur in absolut notwendigen Fällen angefasst wird.
Vielmehr ist es so, dass sich der Bauturbo in Richtung unkontrollierter Zersiedelung entwickelt hat. In früheren Versionen wurde die Anwendung des § 246e auf Gebiete mit angespanntem Wohnungsmarkt und auf Gebäude mit mindestens 6 Wohneinheiten beschränkt. In den letzten Wochen hat sich die Union in den Verhandlungen mit der SPD jedoch durchgesetzt und diese Sicherheitsmechanismen abgeschüttelt.
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der § 246e in 35% der Fälle im Außenbereich angewandt wird, begründet aber nicht wieso. Da viele (Um)Bauten im Innenbereich jedoch auf Grundlage der §§ 31 Abs. 3 und § 34 Abs. 3b realisiert werden könnten, ist es wahrscheinlich, dass der §246e vornehmlich im Außenbereich zur Anwendung kommt und dort zu einer unkontrollierten Zersiedlung der Landschaft führen könnte. Dort ist eben auch der größte Beschleunigungseffekt zu erwarten: Die Aufstellung eines neuen Bebauungsplans dauert in der Regel 1,5 – 2 Jahre – bei komplexen Vorhaben oder Personalmangel mitunter erheblich länger.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier vor allem ein Umstand zum Tragen kommt: Die Vorgängerregierung hat ein Wohnungsbauziel von 400.000 deklariert und damit eine Metrik geschaffen, an der die Opposition, die Öffentlichkeit, die Bürger*innen, die Bauindustrie, aber auch die Politik selbst ihre Leistung gemessen hat. Auch wenn die aktuelle Regierung kein offizielles Wohnungsbauziel festgelegt hat, scheint es so, als hätte sie sich das Ziel gesetzt zumindest besser (im Hinblick auf die Messzahl) zu performen als die Vorgängerregierung, also mehr Wohnungen zu bauen. Da in der Berichterstattung immer die Neubauzahl für Gesamtdeutschland kursiert, ist es der Regierung anscheinend egal wo Wohnraum entsteht. Hauptsache es wird mehr genehmigt und fertiggestellt als unter der Vorgängerregierung.
Auch das Thema Mauschelei und Korruption muss gewürdigt werden. Im Rahmen des konventionellen Bauplanungsprozess wird die Öffentlichkeit recht früh und umfassend über Neubaugebiete informiert. Dies kann durch die Neuregelungen komplett entfallen. Dies können aggressive Investor*innen oder auch Menschen mit Seilschaften in der Verwaltung für sich nutzen. Bevor sich eine BI (Bürgerinitiative) mit einem berechtigten stadtentwicklungstechnischen Anliegen formiert, kann schon eine wirksame Baugenehmigung ausgestellt sein. Zwar wird beim Bauturbo immer die Zustimmung der Gemeinde vorausgesetzt. Es liegt aber nicht in der gesetzgeberischen Kompetenz des Bundes, dies näher zu regeln. Ob bei einem Antrag nach §246 e immer der Gemeinderat eingebunden wird, oder ob das Baudezernat selbst entscheidet, hängt von den entsprechenden Landesverordnungen ab. Eine obligatorische Zustimmung des Gemeinderats wäre wünschenswert, um bei diesen wichtigen Entscheidungen ein Mindestmaß an Stadtgespräch, politischer Kontrolle und Partizipation zu gewährleisten – gerade, weil die Frage nach Bauland im Außenbereich keine rein juristische ist, sondern viele Facetten der Stadtgesellschaft tangiert.
Ein anderes Risiko liegt in der Art der Nachverdichtung. Die Aufstockung von Gebäuden ist grundsätzlich eine sehr gute und ressourcenschonende Art und Weise, zusätzlichen Wohnraum in angespannten Märkten zu schaffen. Gleichwohl erlaubt der Bauturbo auch eine flächenintensive Nachverdichtung, wie z.B. ein Bauen in zweiter Reihe oder die Bebauung des Gartens. Hier ist es wichtig die Gefahren von Starkregenereignissen nicht aus den Augen zu verlieren. Im Innenbereich ist jede unversiegelte Fläche wertvoll, um die Auswirkungen von Extremwetterereignissen abzuschwächen. Natürlich kann es auch in „grünen“ Stadtteilen zu Überschwemmungen kommen, aber auch dort gilt: Je mehr Sickerfläche besteht, desto geringer ist die Wucht und desto schneller können die Wassermassen auch wieder versickern. Weiterhin gewinnt durch die fortschreitende Erderwärmung das Thema Stadtklima an Bedeutung. Grünflächen sind ein ganz wichtiger Faktor, um erträgliche Temperaturen zu gewährleisten. Zum einen gewährleisten sie eine gute Durchlüftung. Zum anderen erzeugen Grünflächen Kaltluft und reduzieren die Umgebungstemperatur durch Schattenwurf und Verdunstungskälte. Ein Bauturbo, der die Versieglung von städtischen Grünflächen begünstigt, kann eine ernsthafte Gefahr für die Lebensqualität und Zukunftstauglichkeit unserer Städte darstellen.
Chancen
Neben diesen Risiken bietet die Novelle des BauGB auch viele Handlungspotenziale. Positiv ausgedrückt: Die Kommunen können die nächsten Jahre nutzen, um ihre Städte grundlegend umzubauen.
Fangen wir bei den Lockerungen im Bereich der TA Lärm an. Es ist aus stadtentwicklungstechnischer Perspektive wünschenswert, dass Gewerbe und Wohnen näher aneinander heranrücken. Das Idealbild der Stadt der kurzen Wege kann so besser verfolgt werden. Bis dato waren die Regelungen aus der TA Lärm sehr stringent. Wurden Grenzwerte für bestimmte Gebietstypen überschritten, war die Planung von Wohnanlagen ausgeschlossen. Planer*innen haben jetzt die Möglichkeit auf die Herausforderung Lärm flexibler zu reagieren. Es muss nicht immer die Schallquelle gedämpft werden. Die Planer*innen können auch auf dem Weg der Ausbreitung Maßnahmen ergreifen oder direkt beim schutzwürdigen Wohnobjekt – letzteres ist besonders relevant für die heranrückende Wohnbebauung. Verständlicherweise ist ein bestehender Gewerbebetrieb eher nicht bereit, Geld für die neuen Nachbar*innen auszugeben. Solange die Grundsätze des gesunden Arbeitens und Wohnens gewährleistet sind, kann ein flexibler Umgang mit dem Thema Lärm neue Potenziale in den Städten zugänglich machen. Wenn über die Lärmbelastung Transparenz besteht, können Zuziehende auch selbst entscheiden, ob sie diese Situation eingehen möchten. Für Berufstätige kann das Wohnen auch direkt über einem schallemittierenden Betrieb attraktiv sein. Wenn man tagsüber ohnehin unterwegs ist und erst nach Hause kommt, sobald die lärmintensiven Prozesse vorbei sind, kann auch ein Gewebegebiet ein geeigneter Rückzugsort sein.
Vorgaben aus dem Bebauungsplan können Nachverdichtungsaktivitäten und Neukonfigurationen von bestehendem Wohnraum verunmöglichen. Nehmen wir das Beispiel der Einfamilienhäuser. Ein signifikanter Anteil der Einfamilienhausbesitzer*innen würde sich gerne verkleinern. Das geht z.B., indem eine Wohneinheit abgetrennt wird. In manchen Bebauungsplänen ist aber die Höchstzahl der Wohneinheiten pro Grundstück vorgegeben; für Eigenheimbesitzer*innen, die sich verkleinern möchten, ein absoluter Hemmschuh. Ein anderes Anliegen kann die Aufstockung von Wohngebäuden sein, um dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Oft ist dies bauphysikalisch kein Problem. Der deutsche Gebäudebestand hat im Schnitt Traglastreserven von 1,3 zusätzlichen Stockwerken, jedoch begrenzen die Bebauungspläne in vielen Fällen die Anzahl dieser (Der dichte Bau, n.d.).
Der neue § 31 Abs. 3 erlaubt der Gemeinde, flexibel von Vorgaben aus dem Bebauungsplan abzuweichen. Dabei können sich Beschlüsse auf ganze Straßenzüge erstrecken.
Beim unbeplanten Innenbereich ist, wie weiter oben geschildert, das Einfügungsgebot maßgebend. Konkret ist es dadurch nicht möglich, in einem Einfamilienhausgebiet ein Mehrfamilienhaus zu errichten, obwohl dies absolut zielgerichtet sein kann – wenn darin z.B. kleine, barrierefreie Wohneinheiten als Alternativen im Alter geschaffen werden. Im urbanen Umfeld kann die Umnutzung von Garagen ebenfalls sehr vorteilhaft sein. Wird der Platz nicht mehr für einen Pkw gebraucht, kann dort durch eine Überbauung geteilte Infrastruktur entstehen (Veranstaltungsräume, Gästezimmer) oder zusätzlicher Wohnraum. Genau solche Initiativen wurden bis jetzt aber durch den § 34 ausgebremst. Mit dem neuen § 34 Absatz 3b kann die Gemeinde ab jetzt das volle Potenzial von Garagenhinterhöfen ausschöpfen und auch in einförmigen Siedlungsabschnitten wertvolle Komplementärbauten realisieren.
Weiterhin ist das Bauplanungsrecht strikt bei dem Verbot von Wohnraum in Gewerbegebieten. Es gibt zwar Ausnahmen für Werkswohnungen: Der Hausmeister darf z.B. über der Betriebshalle wohnen, aber die Anwendungsfälle sind sehr beschränkt. Der §246 e erlaubt von Regelungen des BauGB in erforderlichem Maß abzuweichen: Wohnraum in Gewerbegebieten ist damit grundsätzlich möglich. Das ist insbesondere dort interessant, wo Brachen entstanden sind, weil Industrien sich verlagert haben oder gar ganz verschwunden sind. Der Umbau und die Umnutzung von gewerblichen Gebäuden sind damit kein Problem mehr – vorausgesetzt die Gemeinde erachtet es als wünschenswerten Entwicklungsschritt.
Verbesserungsansätze
Abschließend wollen wir auf Entwicklungspfade eingehen, die die Handlungspotenziale durch das Gesetz erhalten, dabei aber die nicht gewünschten Effekte reduzieren.
Der einfachste Ansatz wäre die Beschränkung des § 246 e auf den Innenbereich. Damit hätte die Gesellschaft die Gewissheit, dass keine weiteren landwirtschaftlichen Flächen im Außenbereich im Schnellverfahren versiegelt werden.
Alternativ wäre es denkbar, die Anwendung des § 246e an Voraussetzungen zu knüpfen. Die Kommunen sollten verpflichtet werden, zunächst alle Reserven im Bestand zu quantifizieren. Für Gesamtdeutschland kommt ein Forscherteam zu dem Ergebnis, das in unserem Bestand 330.000 Wohneinheiten pro Jahr schlummern (BBSR, 2023). Relevant ist aber welche Potenziale vor Ort existieren – Wohnungsmärkte sind hoch regionalisiert. Erst wenn klar ist, dass alle Potenziale aus Aufstockungen auf Wohngebäuden, Aufstockungen auf Nichtwohngebäuden, Aktivierung von Leerstand, Teilung von Einfamilienhäusern/großen Wohnungen, Umnutzung von Büroflächen, Umbau von Industriebrachen, Gemeinschaftliches Wohnen nicht ausreichen, um den prognostizierten Bevölkerungsanstieg zu kompensieren, sollte die Kommune auf den Außenbereich zugreifen.
Ebenfalls sollten die Erleichterungen im Innenbereich (§§ 31, 34) nur für Projekte zum Tragen kommen, die sparsam mit den innenstädtischen Flächen umgehen. Also für Projekte, die mit der bereits versiegelten Fläche zurechtkommen bzw. nicht im nennenswerten Umfang erhöhen (geringe Anteile für Außentreppen oder Aufzüge sind natürlich sinnvoll und stellen keine wesentliche Versieglung dar). Dies würde die Entwicklung von bereits versiegelten Flächen priorisieren. Die Potenziale, die z.B. über Parkplätzen von Supermärkten bzw. Baumärkten herrschen, sind erheblich. Dies würde einerseits die Ausbaudynamik unterstützen, gleichzeitig aber gewährleisten, dass städtebauliche Grundsätze sicher eingehalten werden.
Fazit
Im Kern ist der vorliegende Gesetzentwurf eine erhebliche Kompetenzverlagerung von der Bundesebene auf die kommunale. Wie wir gesehen haben, kann das in vielen Fällen zu einem wünschenswerten Umbauturbo führen. Andererseits besteht die Gefahr, dass in den nächsten Jahren insbesondere an den Siedlungsrändern Baulasten entstehen, die in den kommenden Jahren erhebliche volkswirtschaftliche Kosten verursachen – ohne das dadurch die Wohnungsnot gelindert wird. Die Kommunen sollten schnellstmöglich einen Umgang mit dem Werkzeug finden, um die Vorteile zu nutzen und die Nachteile weitestgehend auszuschließen. Dies kann mit entsprechenden Grundsatzbeschlüssen gelingen. Weil wir hier potenziell über einen Umbauturbo sprechen, sollten die Kommunen jetzt auch früh und offensiv mit den Bürger*innen in den Dialog treten. Denn jeder Stadtumbau – auch wenn er dringend benötigten Wohnraum schafft – ist zunächst eine Veränderung, für die die Betroffenen gewonnen werden müssen. Aber mit der richtigen Kommunikation und einer Strategie, die alle städtebaulichen Ziele berücksichtigt, ist ein nachhaltiger und breit getragener Stadtumbau möglich.
Hier finden Sie den Gesetzentwurf, der am 18.06. vom Kabinett verabschiedet wurde: https://klimaschutz-im-bundestag.de/wp-content/uploads/2025/06/Bauturbo-vom-Kabinett-beschlossen-Stand-18.06.2025.pdf
Seit Donnerstag 18 Uhr (13.3.) verhandeln 16 Arbeitsgruppen über die Inhalte einer nächsten möglichen Regierung aus Union und SPD. Mit einem offenen Brief hat sich Klimaschutz im Bundestag e.V. an die Arbeitsgruppe 4 „Verkehr und Infrastruktur, Bauen und Wohnen“ gewandt.
Darin wird gefordert, dass ein Prüfauftrag für regionale Potenzialanalysen für Wohnraum im Bestand in den Koalitionsvertrag aufgenommen wird. In einer Studie im Auftrag des BBSR wird für das gesamte Bundesgebiet eine Reserve von 330.000 WE jährlich angegeben, diese Information ist für die Kommunen aber noch nicht operationalisierbar, heißt sie kann bei den täglichen Entscheidungen für oder gegen Versieglung und Flächenverbrauch nicht berücksichtigt werden. Für die Kommunen ist es entscheidend zu wissen, wie viel zusätzlicher Wohnraum ohne Flächenverbrauch vor Ort geschaffen werden kann – das gilt in besonderer Weise für Gegenden mit angespanntem Wohnungsmarkt.
Der Bund sollte die Kommunen mit standardidisierten Verfahren und Fördermitteln unterstützen regionale bzw. lokale Wohnraumpotenzialanalysen durchzuführen. Dies wäre ein großer Schritt in Richtung Flächenneutralität. Denn wenn in der Analyse herauskommt, dass durch Aufstockungen auf Wohn- bzw. Nichtwohngebäuden, Aktivierung von Leerständen, Teilungen von großen Wohnungen (inkl. Häusern), Ingangsetzung von Umzugsketten genügend Wohneinheiten für den prognostizierten Bevölkerungszuwachs geschaffen werden können, könnten Gemeinderäte in Zukunft auf einer fundierten Wissensbasis über Neubaugebiete beraten.
Wir als Gesellschaft hätten dadurch viel gewonnen. Biotope und Wälder könnten dann öfter geschützt werden. Auch die Landwirtschaft würde massiv profitieren: Die meisten Betriebe sind zwischen 20-50 ha groß. Der Flächenverbrauch liegt in Deutschland bei rund 52 ha täglich. Das heißt rein rechnerisch wird jeden Tag ein mittelgroßer landwirtschaftlicher Betrieb verdrängt. Das bedroht die Existenzgrundlage der Landwirt*innen und unser aller Lebensgrundlage, weil die regionale Lebensmittelversorgung damit zusehends erschwert wird.
Für eine systematische und nachhaltige Siedlungsentwicklung ist die Kenntnis über die versieglungsfreien Wohnraumpotenziale unerlässlich. Klicken Sie hier, um den Brief an Ina Scharrenbach (CDU, Bauministerin in NRW), Klara Geywitz (SPD, amtierende Bundesbauministerin) und Ulrich Lange (CSU, Bundestagsabgeordneter) zu lesen.
Die Diskussion fokussierte sich auf Wohnraumsuffizienz, soziale Wohnpolitik und Rekommunalisierung. Caren Lay, Bundestagsabgeordnete der Linken, und Dr. Anke Frieling, CDU-Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, beleuchteten diese Themen aus unterschiedlichen politischen Perspektiven, konnten aber auch gemeinsame Positionen identifizieren.
Während Lay eine stärkere Regulierung und staatliche Steuerung forderte, setzte Frieling auf die Einbindung privater Investoren.
Beide Referentinnen erkannten die Notwendigkeit bezahlbaren Wohnraums an und sprachen sich für eine stärkere Nachverdichtung und Bestandssanierung aus.

Berlin, Flensburg, Zürich, Delft, Freiburg, den 11.12.2024. Sechs Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis zeigen, dass die besten Lösungen für die soziale und ökologische Wohnraumversorgung meist abseits vom klassischen Neubau liegen. Gerade vor dem Hintergrund steigender Baukosten und Zinsen, die Neubauprojekte erschweren, gewinnen alternative Lösungskonzepte zunehmend an Bedeutung.
Unter diesem Link finden Sie die aktuelle Version der Broschüre: https://klimaschutz-im-bundestag.de/wohnraumsuffizienz/
“Die Potenziale im Bestand sind enorm: Mit Aufstockungen, Umwandlungen (Büro zu Wohnraum), Aktivierung von Leerstand und Hausteilungen können bis zu 330.000 zusätzlichen Wohneinheiten pro Jahr entstehen. Und diese sind meist kostengünstiger, klimafreundlicher, flächenschonender und schneller als der klassische Neubau”, sagt Philipp George, politischer Referent bei Klimaschutz im Bundestag e. V.
Neben den theoretischen Potenzialen geht die Broschüre aber auch auf die Probleme ein, die bei der Umsetzung von Umbaumaßnahmen im Bestand bestehen. Gerade die rechtlichen Probleme sind vielfältig und betreffen alle Verwaltungs- und Politikebenen – von der kommunalen bis zur Bundesebene.
“Wohnraumsuffizienz bedeutet nicht, dass Neubau verboten wird,” sagt Craig Morris, Geschäftsführer von Klimaschutz im Bundestag e. V. “Vielmehr ist es eine Denkweise, bei der alle Potenziale erhoben werden, bevor zusätzliche Fläche versiegelt wird. Das Konzept zeigt, dass soziale und ökologische Ziele miteinander in Einklang gebracht werden können. Es besteht akuter Handlungsbedarf, da der Wohnungsbereich in Deutschland weder sein Flächen- bzw. Klimaziel einhält, noch seinen sozialen Auftrag erfüllt”.
Die Broschüre präsentiert erfolgreiche Konzepte aus dem In- und Ausland. Sie appelliert an die Politik, den Rechtsrahmen zu modernisieren, und ermutigt Wohnungseigentümer*innen, neue Wege zu gehen, um ihre Immobilie optimal zu nutzen. Die Broschüre hat nicht den Anspruch, eine abschließende Antwort darauf zu geben, wie die optimale Politik im Wohnungsbereich aussieht, sondern möchte Impulse für die öffentliche Debatte liefern.
Neben der Broschüre bemüht sich der Verein auch mit Online-Formaten, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik im Bereich Wohnraumsuffizienz zu fördern. Das nächste Webinar befasst sich mit der Eigentumsfrage und Rekommunalisierungs-Möglichkeiten. Neben einer CDU-Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft werden auch eine Bundestagsabgeordnete und eine Forscherin der University Greenwich (UK) teilnehmen. Für weitere und laufende Informationen besuche Sie bitte: https://klimaschutz-im-bundestag.de/wohnraumsuffizienz/
“Klimaschutz im Bundestag e.V.” ist ein gemeinnütziger und unabhängiger Verein und setzt sich mit seinen knapp 900 Mitgliedern (Kommunen, Unternehmen, Haushalte) für praxisorientierte Lösungsvorschläge im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation ein.
Pressekontakt
Philipp George
Politischer Referent
philipp.george@klimaschutz-im-bundestag.de
+49 (0)761 45 89 32 77
Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist das Maß für die gesamte wirtschaftliche Produktion eines Landes und der Indikator, der seit Jahrzehnten unser Bild von Wohlstand und Fortschritt prägt. Doch ist dieser Maßstab, der ursprünglich zur Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes entwickelt wurde, tatsächlich geeignet, um den Zustand und die Qualität unserer Gesellschaft zu messen? Die Fixierung auf das BIP als Hauptindikator für Wohlstand und Erfolg ist aus vielerlei Gründen problematisch – und es wird Zeit, dies kritisch zu hinterfragen.
Beginnen wir mit einem simplen, aber aufschlussreichen Beispiel: Zwei Öltanker, einer erreicht sein Ziel ohne Zwischenfälle, der andere hat einen Unfall, erleidet ein Leck und verliert daraufhin einen Teil seiner Ladung auf offener See. Die Ökosysteme leiden, die Crew ist traumatisiert – und das BIP „profitiert“ dennoch von der Katastrophe. Kosten für Reinigung, Bergung und die Förderung von Ersatzöl werden in die Wirtschaftsleistung einberechnet und lassen das BIP wachsen, obwohl gesellschaftlich kein Mehrwert entsteht. Im Gegenteil: Die Folgen sind langfristig schädlich für Umwelt und Menschen, doch in der Logik des BIPs tragen sie positiv zur „Leistung“ des Landes bei.
Gleichzeitig gibt es zentrale Tätigkeiten, die im BIP nicht abgebildet werden, obwohl sie essenziell für unser Wohlbefinden sind. Dazu zählen vor allem unbezahlte Care-Arbeiten wie Kinderbetreuung, Haushaltsführung oder das Unterstützen von Angehörigen. Diese Leistungen bleiben in unserer Wirtschaftsstatistik unsichtbar, obwohl sie einen enormen gesellschaftlichen Wert haben. Die Folgen sind weitreichend, denn das, was nicht gemessen wird, findet in der politischen Entscheidungsfindung oft wenig Beachtung.
Dass das BIP nur einen Teil des gesellschaftlichen Wohlstands erfasst, war übrigens schon dem „Vater“ des BIPs, Simon Kuznets, bewusst. Bereits in den 1930er Jahren warnte er davor, das BIP als Maßstab für das Wohlbefinden einer Gesellschaft zu verwenden (Felix Dorn, 2022). Doch seine Warnungen wurden ignoriert – und so wurde das BIP zum Inbegriff des Fortschritts, obwohl es viele wesentliche Aspekte des Lebens außer Acht lässt. Die Kritik am BIP ist also keineswegs neu: Bereits 1974 zeigte der Ökonom Richard Easterlin, dass ein höheres BIP ab einer bestimmten Schwelle nicht automatisch zu einem höheren Lebensglück führt – eine Erkenntnis, die als „Easterlin-Paradox“ bekannt wurde (Easterlin, 1974).
Die Faktoren, die das Leben tatsächlich lebenswert machen – soziale Bindungen, eine stabile Gesundheit, eine erfüllende Arbeit – stehen oft in keinem direkten Zusammenhang mit einem höheren BIP (Van Soest et al., 2009). Studien zeigen, dass das Einkommen das Lebensglück nur bis zu einem gewissen Niveau steigert. Ist diese Schwelle erreicht, machen zusätzliche Einkommenszuwächse kaum noch einen Unterschied in der Lebenszufriedenheit. Einkommen ist also besonders dort entscheidend, wo es knapp ist und existenzielle Unsicherheit ausgleicht – nicht jedoch als ultimatives Maß für ein erfülltes Leben.
Die politische Praxis sieht allerdings anders aus: BIP-Wachstum gilt nach wie vor als zentrale Messlatte für den Erfolg einer Regierung. Ein stagnierendes oder rückläufiges BIP wird oft als Alarmzeichen interpretiert, als drohende Krise. Wenn Judith Rakers bei der Tagesschau mit ihrem ernstesten Gesichtsausdruck vor die Kamera tritt, weiß man sofort, dass entweder ein Krieg ausgebrochen oder die Wirtschaft geschrumpft ist.
Die Fixierung auf dieses eine Maß verengt jedoch den Blick: Wir werden immer besser darin, mehr Güter und Dienstleistungen zu produzieren, unabhängig davon, ob wir diese wirklich brauchen oder ob sie unsere Lebensqualität steigern. Doch was bringt uns materieller Reichtum, wenn er auf Kosten unserer Umwelt und unseres sozialen Zusammenhalts geht?
Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz gehört zu den lautesten Kritiker*innen dieser Fokussierung auf das BIP. Unter seiner Leitung analysierte die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission die Defizite des BIPs und legte Alternativen vor, die besser geeignet sind, um gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt zu messen. Sie schlugen vor, auch „weiche“ Faktoren wie Lebenszufriedenheit, soziale Beziehungen und Umweltqualität in die Messungen einzubeziehen. So könnten Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit, zur persönlichen Sicherheit und zur intakten Umwelt einbezogen werden, um ein realistischeres Bild vom Zustand einer Gesellschaft zu erhalten (Stiglitz et al., 2009).
Die Verteidiger*innen des BIP argumentieren, dass sich Wirtschaftswachstum und CO₂-Ausstoß entkoppeln ließen, und somit die Wachstumsmaxime weiterverfolgt werden könne. Doch dies übersieht wesentliche Aspekte. Erstens: Das BIP bleibt ein Indikator, der stark an den Energieverbrauch gekoppelt ist. Ein steigendes BIP bedeutet oft auch mehr CO₂-Ausstoß, besonders in Ländern, die stark auf fossile Brennstoffe angewiesen sind. Zweitens: Selbst ein „grünes“ Wachstum erfordert Ressourcen – sei es für den Bau von Windkraftanlagen, den Abbau seltener Erden oder die Versiegelung von Flächen. Auch erneuerbare Energien haben ökologische Kosten, deshalb ist der bewusste Umgang mit jeder Kilowattstunde Strom sehr wichtig, egal ob erneuerbar oder fossil.
Ein Ansatz ist die Weiterentwicklung des BIPs, sodass unerwünschte Ausgaben in Schäden negativ in die Bilanz eingehen und “Blind Spots” wie z.B. unbezahlte Care-Arbeit positiv einfließen. Mit genau dieser Zielsetzung ging 1989 der “Index of Sustainable Economic Welfare” (ISEW) an den Start. Ausgaben durch negative Ereignisse wie z.B. Unfälle, Kriminalität, Naturkatastrophen werden abgezogen. Ebenso wird die jährliche Umweltzerstörung ermittelt und negativ bilanziert. Die unbezahlte Leistung im Care-Bereich wird geschätzt und positiv berücksichtigt. Insgesamt setzt sich der Indikator aus 20 Komponenten zusammen, die einzeln aufgeschlüsselt werden, was für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit ein großer Pluspunkt ist (Imzuwi, n.d.). Der “Genuine Progress Indicator” (GPI) wurde auf Grundlage des ISEW entwickelt und punktuell für einige Staaten in den USA (Vermont, Maryland, Colorado, Ohio, Utah) berechnet. Hawaii ist der einzige Staat, der die Berechnung des GPI zu seiner jährlichen Routine gemacht hat (Hawaii, n.d.).
Noch vielversprechender ist der Ansatz, für jedes Policy-Feld verschiedene Indikatoren-Sets (Dashboards) zu entwickeln, wobei das BIP nur als ein Indikator von vielen gesehen wird. Außerdem sind die Berücksichtigung von subjektiven Faktoren und des Umweltverbrauchs wesentlich, um von der Messung der reinen “ökonomischen Wohlfahrt” zur Messung des Wohlergehens zu kommen. Der von einem britischen Think-Tank entwickelte „Happy Planet Index“ macht es vor: Er setzt Lebenszufriedenheit ins Verhältnis zum ökologischen Fußabdruck eines Landes und fordert ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen (Lexikon der Nachhaltigkeit, n.d.). Auch eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu weniger Ressourcenverbrauch und mehr Lebensqualität ist denkbar. Die Frage sollte nicht lauten „Wie können wir immer mehr produzieren?“, sondern „Was brauchen wir für ein gutes Leben – und wie lässt sich dies nachhaltig erreichen?“. Einen Lösungsbaustein auf diesem Weg bietet die Arbeit von Veléz-Henao und Pauliuk. Sie haben untersucht, welche Materialflüsse wir wirklich benötigen, um ein gutes Leben zu führen (Veléz-Henao/Pauliuk, 2023). Die Fokussierung auf Realgrößen statt Finanzkennzahlen kann dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Eine solche Perspektive würde unsere Wirtschaftspolitik auf lange Sicht radikal verändern. Statt jeden Produktivitätsfortschritt in mehr Produktion umzumünzen, könnten wir höhere Produktivität für mehr Freizeit und Lebensqualität nutzen. Eine interessante Arbeit auf diesem Gebiet kommt von Wissenschaftlern von dem IAB. Sie haben berechnet, dass unsere Produktivität im Vergleich zur neolithischen Revolution (die Sesshaftwerdung der Menschen) um den Faktor 90 zugenommen hat. Sprich heute können wir in einer Stunde 90 mal mehr herstellen, als zu der Zeit, in der wir alles per Hand hergestellt haben (Amlinger et al., 2023). Wir würden gut daran tun, diese erhöhte Produktivität in mehr Freizeit zu stecken, denn mehr Freizeit bedeutet weniger Stress, mehr Raum für zwischenmenschliche Beziehungen, Kreativität und persönliche Entwicklung – Aspekte, die unser Lebensglück nachhaltig steigern.
Dass wir das BIP von heute auf morgen in den Ruhestand schicken, wird allerdings nicht gelingen. Es ist in viele politische Kennzahlen eingebunden und muss nach und nach abgelöst werden. Und für manche Zwecke wird es nach wie vor seine Aufgabe erfüllen. Vor allem die Globalisierung macht eine einseitige Aufgabe des Indikators schwierig. Wünschenswert wäre ein international abgestimmtes Vorgehen, um das BIP auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen. Auch haben starke Schwankungen des BIPs durchaus einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit – in der kurzen Frist, nicht in der langen (Easterlin, 2010).
Die Herausforderung bleibt, die Dringlichkeit für eine Abkehr vom BIP als Hauptindikator zu vermitteln. Die Bundesregierung hat bereits die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beauftragt, alternative Messgrößen zu erarbeiten. Die Enquete-Kommission hat 2013 auf 844 Seiten ganz ähnliche Erkenntnisse wie die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission vorgelegt (Deutscher Bundestag, 2013). Doch die Umsetzung dieser Erkenntnisse steht noch aus. Was also tun? Ein gesellschaftlicher Diskurs ist notwendig, der die Frage ins Zentrum stellt, was ein gutes Leben ausmacht und wie eine nachhaltige Wirtschaft dies unterstützen kann. Die Einführung neuer Wohlstandsindikatoren erfordert politische Entschlossenheit und eine breite gesellschaftliche Unterstützung.
Eine vielversprechende Möglichkeit, diesen Wandel zu fördern, ist die Einbeziehung von Bürger*innen: Ein Bürgerrat könnte eine Plattform bieten, um über alternative Wohlstandsindikatoren und ein neues Verständnis von Fortschritt zu diskutieren. Derzeit wird an einem solchen Rat gearbeitet, der pünktlich zur nächsten Regierungsbildung seine Ergebnisse vorlegen soll (New Wohlstand, n.d.).
Wer sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen möchte, ist herzlich zu unserer nächsten Online-Veranstaltung am 19. November eingeladen. Dort diskutieren wir mit dem Filmemacher Martin Oetting, der in seinem Film „Purpose“ Fragen zur Lebenszufriedenheit aufwirft, und dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hermann Ott, der 2013 an der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beteiligt war. Wir freuen uns auf einen spannenden Austausch und Ihre Fragen!