Arbeit und Transformation, Teil 3: Wie machen wir das Handwerk wieder attraktiv?

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Mit ca. 1 Million Betrieben, über 5,5 Millionen Beschäftigten, ca. 360.000 Auszubildenden und einem Jahresumsatz von 739 Milliarden Euro versteht sich das Handwerk zurecht als Wirtschaftsmacht von nebenan (ZDH, 2023). Trotz dieser beeindruckenden Zahlen steht das Handwerk vor vielfältigen Herausforderungen. Das wahrscheinlich gravierendste Problem ist der grassierende Arbeits- und Fachkräftemangel. Verschaffen Sie sich in unserem Artikel “Zahlen, Zahlen, Zahlen – Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich?” einen genauen Überblick über die aktuelle Situation. Im Folgenden präsentieren wir zunächst problematische Rahmenbedingungen, Probleme und Defizite im Handwerk und diskutieren anschließend mögliche Lösungsansätze. 

Fortschreitende Akademisierung erodiert die Nachwuchsbasis 

Der Trend zum Studium in Deutschland ist ungebrochen. Aktuell sind 2,9 Millionen Menschen in Deutschland an einer Hochschule immatrikuliert, während sich nur 1,2 Millionen in einer Ausbildung befinden. Die Verhältnisse haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Auf der Grafik sieht man, dass sich noch vor ca. 20 Jahren die beiden Lager bei 1,7 Millionen Personen in etwa die Waage gehalten haben. Seitdem ist die Zahl der Auszubildenden stetig gesunken und die der Studierenden stetig gewachsen. 

Entwicklung Der Studierenden Vs Auszubildenden

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Destatis, 2023BIBB Bildungsbericht, 2006; Statista, 2023

Dafür verantwortlich ist u.a. die Abiturquote von 48,4 %. Im historischen Vergleich ist sie hoch, in den letzten 10 Jahren ist sie jedoch nicht mehr merklich gestiegen, sondern oszilliert um 50 % (Destatis, 2022, S. 113). Die Abschaffung der Hauptschule in vielen Bundesländern hat ebenfalls dafür gesorgt, dass die angestammte Basis für den Handwerknachwuchs geschrumpft ist. Mit Blick auf das deutsche Schulsystem gab Hampel schon 2003 zu bedenken:  

“Das dreigliedrige Schulsystem führt zu einer „Versäulung“ beruflicher Erwartungen. Das Handwerk sei, so der Tenor an Realschulen und Gymnasien, etwas für Hauptschüler. Diese Segregation der Berufserwartungen führt dazu, dass selbst Hauptschüler, die an einer Werkrealschule die Mittlere Reife anstreben, vom Handwerk kaum noch gewonnen werden können. Diese fixe Verknüpfung von schulischer und beruflicher Ausbildung wird der Differenziertheit des Arbeitsmarkts kaum noch gerecht. Aus arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten wäre zu überlegen, ob ein hierarchisches Schulsystem, das einseitig kognitive Fähigkeiten entwickelt, dem differenzierteren Arbeitskräftebedarf der Zukunft gerecht wird” (Hampel, et al., 2003, S. 47) 

Und obwohl sich das Handwerk zu großen Teilen aus den eigenen Reihen rekrutiert (der Wunsch eine Ausbildung im Handwerk zu beginnen korreliert stark mit Eltern, die selbst im Handwerk arbeiten) ist auch dieser Mechanismus nicht mehr intakt. Nur 46 % der Handwerker würden den eigenen Kindern empfehlen selbst eine Karriere im Handwerk zu verfolgen (Hampel, et al., 2003, S. 32). An diese Stelle ist in vielen Fällen der Satz getreten “Du sollst es mal besser haben” und drückt aus, dass das Angebot aus Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Ansehen und gesundheitlichen Faktoren nicht mehr als erstrebenswert angesehen wird.  

Eine Ausbildung im Handwerk ist keine Garantie für eine Beschäftigung im Handwerk 

Traditionell bildet das Handwerk über den eigenen Bedarf aus. Und es gab Zeiten, in denen es für die Beschäftigten ein Segen war, dass die Industrie eine Alternative darstellt. In der Zeit von 1995 bis 2005 gab es für Handwerksaufträge eine extrem schwache Konjunktur. In dieser Handwerkskrise haben 1,4 Millionen Menschen das Handwerk verlassen und sind größtenteils im Facility Management (Dienstleistungssektor) oder in der Industrie untergekommen (Haverkamp/Gelzer, 2016, S. 10). Der Markt hat sich aber längst gedreht und das Handwerk ächzt unter der großen Zahl von gut ausgebildeten Fachkräften, die den eigenen Sektor verlässt. Auf der Grafik ist zu sehen, dass 2012 nur 36,5 % der Menschen, die im Handwerk eine Ausbildung absolviert haben, auch tatsächlich im Handwerk arbeiteten.

Prozent Arbeiten Im Handwerk Die Darin Ausgebildet Wurden

Quelle: Haverkamp, 2016, S. 11

Die Gründe sind vielfältig, aber ein ganz entscheidender Faktor sind die Lohnunterschiede zwischen dem Handwerk und der Industrie. Facharbeiter*innen können mit einem Wechsel in die Industrie im Schnitt mit einem 1.000 Euro höheren Gehalt (brutto) rechnen (Frankfurter Rundschau, 2019). 

Für viele Abiturient*innen, die eine Lehre im Handwerk absolvieren, ist es oftmals auch nur eine Durchgangsstation. Die Idee durch ein Studium ein höheres Prestige zu erlangen und mehr Geld zu verdienen, ist auch nicht unbegründet. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass das akkumulierte Lebensarbeitseinkommen nach Abschluss stark differiert. Es ist ersichtlich, dass das Lebensentgelt durch ein Studium im Vergleich zu einer Berufsausbildung um 830.000 Euro steigt. Richtig ist aber ebenfalls, dass eine Aufstiegsfortbildung (Techniker*in, Meister*in) ebenfalls zu deutlich höheren Entgelten führt (Stüber, 2022, S. 5). 

Durchschnittliche Brutto Lebensentgelte Nach Abschluss

Quelle: Stüber, 2022, S. 5 

Handwerker*innen werden mit ihren gesundheitlichen Risiken allein gelassen 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Arbeit im Handwerk mitunter körperlich sehr anstrengend ist. Dagegen spricht grundsätzlich auch nichts und übt auf viele Menschen sogar einen gewissen Reiz aus. Diskussionswürdig wird es erst, wenn Belastungen zu gesundheitlichen Problemen führen. Ein Blick auf die Empirie zeigt, dass es in viele Berufen systematisch zu Überbelastungen kommt. In akademischen Berufen, die größtenteils im Sitzen und im Büro ausgeübt werden, ist der Anteil derer, die aufgrund gesundheitlicher Probleme frühzeitig in den Ruhestand gehen, sehr gering. In der Tabelle ist ersichtlich, dass Physiker*innen z.B. nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 3,62 % eine Erwerbsminderungsrente beziehen.

Liste Der Ungefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Ungefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011

Ganz anders sieht es bei den Gerüstbauer*innen aus. Hier ist es mit einer Erwerbsunfähigkeitsrate von 52,18 % sogar eher die Ausnahme als die Regel, dass ein Beschäftigter den Beruf bis ins Rentenalter ausüben kann. Auch bei den Dachdecker*innen, Estrichleger*innen, Fliesenleger*innen, Zimmerer*innen und den Maurer*innen ist die Lage prekär. 

Liste Der Gefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Gefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011 

Diese systematische körperliche Überlastung wirkt auch abschreckend auf junge Menschen, die sich mit ihren Zukunftsoptionen auseinandersetzen. In einer Studie aus dem Jahr 2003 gaben viele Auszubildende im Handwerk an, dass ihnen der Blick in die Zukunft Sorge bereite, weil sie nicht wüssten, ob sie in der Lage wären, den angestrebten Beruf bis zur Rente ausüben zu können (Hampel et al., 2003, S. 40). 

Ein Grund für den körperlichen Verschleiß sind die Zwangshaltungen, in denen Handwerker*innen je nach Gewerk einen nennenswerten Teil ihrer Arbeitszeit verharren. Die Abbildung zeigt, dass Maurer*innen im Akkord bis zu 40 % ihrer Arbeitszeit in einer solchen Zwangshaltung verbringen. Es handelt sich hierbei um Durchschnittswerte. Je nachdem wie der Arbeit auf der Baustelle organisiert ist, können die tatsächlichen Werte auch stark nach oben oder unten abweichen (Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150).

Arbeiten In Zwangshaltungen

Quelle: Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150 

Im Fall der Erwerbsunfähigkeit geht es um die Existenz 

Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit gerät oftmals nicht nur das Selbstbild ins Wanken, sondern ebenso die ökonomische Existenz. Hier zeigt sich die Unfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme, aber auch der Entlohnungsmechanismen, faire Bedingungen für Menschen zu schaffen, die mit der Ausübung ihres Berufs erhebliche Risiken eingehen. Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit springt die staatliche Erwerbsminderungsrente ein. Diese zahlt bis zu 1/3 des letzten Bruttogehalts (LWK Niedersachsen, n.d.). Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente hat nur, wer aus gesundheitlichen Gründen nicht länger als 3 Stunden pro Tag arbeiten kann und zwar nicht nur in dem angestammten Beruf, sondern generell (Deutsche Rentenversicherung, n.d.). In den meisten Fällen ist das nicht gegeben und es kommt zu Abschlägen. Auf der Abbildung sind die Höhen der neu eingetretenen Erwerbminderungsrenten zu sehen. Mit einer durchschnittlichen Höhe von 972 Euro (Männer/West) wird schnell klar, dass die meisten Betroffenen auf das Existenzminimum abrutschen. Mit diesem Betrag ist die Erwerbsminderungsrente zwar nominal höher als das Bürgergeld, aber im Fall des Bürgergeldes werden vom Amt die Kosten für eine angemessene Wohnung übernommen (IAQ, 2022). In Dortmund gilt eine Wohnung mit einer Bruttokaltmiete bis 510 Euro als angemessen (Berliner Morgenpost, 2023). Unter Berücksichtigung dieser Kostenübernahme ist der Unterschied zwischen Bürgergeld und Erwerbsminderungsrente verschwindend gering. 

Durchschnittliche Hoehe Der Erwerbsminderungsrente

Quelle: Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, 2021 

Teilweise ereilt die Betroffenen zusätzlich der Vorwurf, sie hätten nicht ausreichend privat vorgesorgt und seien somit selbst schuld an der Situation. Die Realität ist jedoch, dass es in den oben genannten Risikoberufen schlicht nicht möglich ist, eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen, weil die Prämien im Vergleich zu den gezahlten Löhnen exorbitant hoch sind. 

“Ein kleines Beispiel: Der Versicherungsmakler Matthias Helberg hat errechnet, dass ein Gerüstbauer, der dreißig Jahre alt und kerngesund ist, für seine Berufsunfähigkeitsversicherung zwischen 162 und 417 Euro zahlen müsste. Dachdecker, Maurer und andere Handwerker müssten ähnlich viel Geld auf den Tisch legen. Zum Vergleich: Architekten und Apotheker zahlen im selben Alter und bei gleicher Gesundheit zwischen 33 und 143 Euro” (Nievelstein, 2019). Für diese Berufsgruppen hat die Versicherungsbranche neue Produkte geschaffen, die menschliche Grundfähigkeiten, wie “laufen”, “stehen”, “sehen” versichern. Das klingt erstmal vielversprechend. Jedoch muss auch hier beachtet werden, dass der Versicherungsschutz erst greift, wenn die Person eine solche Grundfunktion gänzlich verloren hat. Selbst nach schweren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sind nach Versicherungsmaßstäben die Grundfunktionen noch partiell erhalten. Gleichzeitig ist an die Ausübung des Berufs aber nicht mehr zu denken. Diese Versicherungsprodukte hören sich in der Theorie also gut an, haben aber in der Praxis aber kaum Relevanz. 

Auch innerhalb des Handwerks bleibt die offene Auseinandersetzung über die gesundheitlichen Risiken die Ausnahme: “Eine proaktive Bearbeitung wird aber nicht angestoßen. Der körperliche Verschleiß ist ein normales und normalisierendes Element der Berufsbiografie, welches einen Exit vor der Regelaltersrente wahrscheinlich macht. Dies verweist auch darauf, dass es i. d. R. nicht zu einer präventiven Bearbeitung kommt – weder individuell noch in den Betrieben” (Blasczyk, 2018). 

Mehr als jeder 4. Ausbildungsvertrag wird aufgelöst 

Ein weiteres Problem ist die Rate der Ausbildungsabbrüche, die seit Jahren auf einem hohen Niveau stagniert. 2019 wurden in Deutschland 26,3 % aller Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst (SWR, 2023). Die Gründe dafür sind sehr vielfältig: finanzielle Gründe (hohe Opportunitätskosten: geringer Ausbildungslohn vs. reguläre Vergütung für ungelernte Kräfte), Probleme mit der Ausbilderin/dem Ausbilder, ausbildungsfremde Tätigkeiten, ungünstige Arbeitszeiten, Überforderung im schulischen Bereich, patriarchale Strukturen in männerdominierten Berufen und geringe Beschäftigungsaussichten (Westdeutscher Handwerkskammertag, 2000; Bessey/Backes-Gellner, 2008). Seit über 20 Jahren wurden in diesem Bereich keine substanziellen Fortschritte gemacht – zumindest nicht in einem Umfang, der die Abbruchquoten deutlich reduziert hätte. 

Wie kann das Handwerk wieder attraktiver werden? Flexible Arbeitszeiten als Lösungsbaustein 

Der Fachkräftemangel hat das Handwerk fest im Griff. Es gibt aber Betriebe, die davon nicht betroffen sind. In einer ZDF-Dokumentation wird die Geschichte einer Malermeisterin präsentiert, die durch den Fachkräftemangel in ihrer Existenz ernsthaft bedroht war. Monatelang blieben ihre Anstrengungen, neue Mitarbeitende zu gewinnen, erfolglos, bis sich dazu entschieden hat, über die Sozialen Medien flexible Arbeitszeiten und eine 4-Tage-Woche anzubieten. Dies bescherte ihr innerhalb von 3 Wochen 50 Bewerbungen. Ein Mitarbeiter bringt die Attraktivität schnell auf den Punkt: Seinen Sohn müsse er jeden Morgen in die Kita bringen. Bei einem strikten Arbeitsanfang um 7 Uhr wie bei seinen vorherigen Arbeitgebern schlicht nicht möglich. In dem aktuellen flexiblen Arbeitszeitmodell hingegen schon (ZDF, 2023). Eine solche Flexibilisierung würde neue Zielgruppen für das Handwerk mobilisieren. Es gibt viele Frauen, für die nur ein Teilzeitmodell in Frage kommt. Fehlt ein solches in den Gewerken, geht ein großer Teil an potenziellen Mitarbeitenden von vornherein verloren. Und auch generell gibt es den Wunsch die Wochenarbeitszeit eher an 32 Stunden auszurichten als an 40 (IWD, 2023). Ein Wunsch, der in einem Bürojob eher erfüllt wird als auf der Baustelle. 

Wir wollen hier keine Augenwischerei betreiben: In dem Büro ist es einfacher auf die Arbeitszeitwünsche der Mitarbeitenden einzugehen. Auf der Baustelle braucht es für viele Tätigkeiten ein Team, das gewisse Fähigkeiten, Erfahrungen und Qualifizierungen mitbringt. Um das sicherzustellen, braucht es also wiederum Arbeit in Form von Koordination. Diese Mehrarbeit kann sich aber lohnen, wenn dafür neue motivierte Mitarbeitende gewonnen und alte erfahrene gehalten werden können. Darüber hinaus kann der Aufwand durch den richtigen Einsatz von digitalen Hilfsmitteln möglichst gering gehalten werden.  

Körperliche Arbeit? Unbedingt! Aber in einem gesunden Maß 

Sich im Beruf physisch zu betätigen ist für viele zunächst einmal ein Attraktivitätsfaktor, solange die physische Arbeit keine Überlastung für den Körper darstellt. Um die körperliche Arbeit in einem gesunden Maß zu halten, sind verschiedene Lösungsansätze denkbar: 

Die Frage, welche Aufträge angenommen werden und in welcher Reihenfolge, sollte neben ökonomischen Überlegungen auch ergonomische beachten. Wenn z.B. bekannt ist, dass Großbaustellen für Mitarbeitenden im Malerbereich besonders anstrengend sind, weil es auch das Streichen von großen Deckenbereichen (das Deckenstreichen ist mit einer Zwangshaltung des Nackens verbunden) mit einschließt, könnte es sinnvoll sein nach einer intensiven Phase mit einer Großbaustelle, Aufträge abzuarbeiten, die aus dem kleinteiligen privaten Bereich kommen, die körperlich weniger intensiv und in der Regel abwechslungsreicher sind (Blasczyk, 2018). 

Auch sollte darauf geachtet werden, dass Arbeiten, die eine Zwangshaltung erfordern, möglichst gut unter den Beschäftigen aufgeteilt werden. Heute dominiert der Gedanke, dass die Person, die die Aufgabe in Zwangshaltung am besten kann, komplett übernimmt. Aus einer kurzfristigen Perspektive erscheint das für den Betrieb auch sinnvoll, weil er Arbeitszeit spart. Auf lange Sicht kann eine solche Einstellung aber zu hohen Kosten führen, wenn Berufskrankheiten oder Krankenstand die Folge sind.

Mit dem Handwerk in Berührung kommen – Durch Solarcamps 

Bei einem Solarcamp kommen Quereinsteiger*innen und junge Menschen ganz niedrigschwellig mit dem Handwerk in Berührung. Ziel ist es die Teilnehmenden an die Aufdach-PV-Montage heranzuführen inklusive der elektrotechnischen Sicherheitsschulung und dem Kennenlernen der dazugehörigen Werkzeuge (Schlagbohrer, Flex, Fuchsschwanz, Kreissäge, etc.). In der ersten Woche werden diese theoretischen und praktischen Kenntnisse innerhalb des Solarcamps mit Hilfe von Übungsdächern vermittelt. Die praktische Schulung übernehmen erfahrene Handwerksbetriebe. In der zweiten Woche haben die Teilnehmenden dann die Chance, die erlernten Kenntnisse direkt auf der Baustelle bei kooperierenden Handwerksbetrieben anzuwenden. Diese Exposition gibt die Möglichkeit, die eigenen handwerklichen Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Aus Untersuchungen wissen wir, dass eine positive Selbsteinschätzung der eigenen handwerklichen Fähigkeiten einer der stärksten Prädikatoren für eine Karriere im Handwerk ist (Mischler, 2017). Die Ergebnisse des Solarcamps in Freiburg sind vielversprechend: Es wurden direkt im Nachgang einige Arbeitsverträge zwischen den Teilnehmenden und den Handwerksbetrieben geschlossen. In Kürze wird hier eine dezidierte Analyse über das Solarcamp Freiburg 2023 verlinkt werden. 
Transparenzhinweis: Der Autor hat an der Organisation des Solarcamp Freiburg 2023 ehrenamtlich mitgewirkt. 

Die Finanzen müssen stimmen – dazu gehört auch die Absicherung 

Wie eingangs erwähnt, gibt es zwischen vergleichbaren Tätigkeiten im Handwerk und in der Industrie gewaltige Lohnunterschiede: So gibt es für die gleiche Qualifikation in der Industrie im Schnitt 1.000 Euro mehr. Diese Schieflage muss dringend abgebaut werden. Zunächst um die Flucht aus dem Handwerk einzudämmen, perspektivisch aber auch um einen attraktiven Übergang von vom Strukturwandel betroffenen Industrien zu ermöglichen. Allein in der Automobilindustrie drohen 300.000 Arbeitsplätze bis 2040 wegzufallen (BMWK, 2020). Ein Weg zu besseren Löhnen sind flächendeckende Tarifverträge. In einer Analyse zeigt die IG Metall, dass im Kfz-Handwerk die Löhne in tarifgebundenen Betrieben im Schnitt 533 Euro höher sind als in nicht tarifgebundenen (IG Metall, 2023). Damit würde auch ein Lohndumping unterbunden werden und Betriebe müssten keine Angst haben, dass sie durch attraktive Gehälter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Dies wird keine leichte Aufgabe sein – gerade in kultureller Hinsicht, weil viele Betriebsinhaber*innen immer noch der Meinung sind, alles könne informell und familiär geregelt werden und sie noch “jeden Gewerkschafter” vom Hof gejagt haben. Hier bedarf es einer sensiblen, aber dennoch zielgerichteten Bemühung der Gewerkschaften, um bei den Betrieben Vertrauen aufzubauen und letzten Endes wirksame Tarifverträge mit den Innungen abzuschließen. 

Auch müssen wir jetzt ehrlich darüber reden, dass ein Job auf der Baustelle nicht genauso lange ausgeübt werden kann wie ein Bürojob. Dies muss sich auch in den Bedingungen der Rentenversicherung widerspiegeln. Aktuell gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz, sprich die Rentenversicherung ist blind gegenüber der ausgeübten Tätigkeit. Das Einzige, was interessiert, sind die Beitragsjahre und der durchschnittliche Bruttolohn. In der aktuellen Interpretation macht der Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch eine Sache falsch: Büro- und Baustellenarbeit sind nicht das gleiche und sollten daher auch nicht gleich behandelt werden. Eine Lösungsmöglichkeit wäre ein Gewichtungsfaktor von z.B. 1.25 für jedes Beitragsjahr, das auf der Baustelle erbracht wird. Dann könnten Handwerker*innen in diesem Bereich bereits nach 36 Jahren mit vollen Ansprüchen in die Rente gehen anstatt nach 45. 

Des Weiteren muss sich die Absicherung im Fall einer Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit deutlich verbessern. Handwerker*innen setzen sich tagtäglich besonderen körperlichen Herausforderungen und Risiken aus und werden im Unfall- oder Krankheitsfall von der Gesellschaft im Stich gelassen, wie oben anhand der verschwindend geringen Höhen der Erwerbsminderungsrenten gezeigt wurde. Hier müssen Lösungen gefunden werden wie z.B. eine staatliche Berufsunfähigkeitsversicherung, die honoriert, dass sich Menschen für eine gesellschaftliche relevante aber auch (empirische belegt) risikobehaftete Arbeit entschieden haben.

Vom Büro auf die Baustelle 

Vom Strukturwandel sind nicht nur Industriezweige betroffen, sondern zunehmend auch der Dienstleistungssektor. Ursächlich hierfür sind vor allem die rasanten Fortschritte im Bereich der Generativen Künstlichen Intelligenz (GKI), z.B. bekannt geworden in der Anwendung “ChatGPT” von Open AI. Im Gegensatz zu früheren Formen der Automatisierung sind die Programme heutzutage in der Lage natürliche Sprache sehr gut zu verstehen und können darüber hinaus Sprache erzeugen – und das auf einem sehr hohen Niveau. Es gibt Untersuchungen aus den USA, die zu dem Schluss kommen, dass in den nächsten Jahren 7 % der Arbeitsplätze durch GKI ersetzt werden könnten (Briggs/Kodnani, 2023). Davon werden vor allem Tätigkeitsfelder betroffen sind, bei denen die Verarbeitung und die Erzeugung von natürlicher Sprache einen großen Teil der Arbeit ausmachen, wie z.B. in der Verwaltung, in Kanzleien (Rechtsanwaltsgehilf*innen), in Callcentern und im Marketing. Darüber hinaus kommt es in vielen Fällen nicht zu einer kompletten Ersetzung der Arbeitskraft, sondern teilweise zu einer deutlich erhöhten Produktivität. Aber auch diese wird sich gesamtwirtschaftlich betrachtet früher oder später in Form von Arbeitsplatzabbau äußern. Auf der folgenden Grafik sind auf der X-Achse Berufsfelder nach ihrem Substitutionspotenzial durch GKI angeordnet und auf der Y-Achse der Prozentanteil an Tätigkeiten, der durch GKI übernommen werden kann. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass 30 % der heutigen Arbeit potenziell von GKI übernommen werden könnte. 

Workshare Substituable By Gai

Quelle: Briggs/Kodnani, Goldman Sachs, 2023, S. 6 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie dieses potenzielle Arbeitskräfteangebot für das Handwerk gewonnen werden kann. Keine leichte Aufgabe, denn unsere Gesellschaft (inklusive der Behörden) kennen und unterstützen bislang nur den umgekehrten Weg, sprich von der Baustelle ins Büro. Kosten für eine Umschulung werden nämlich nur übernommen, wenn der Beruf aufgrund von Krankheit oder körperlichen Einschränkungen nicht mehr ausgeübt werden kann. Wenn man sich heutzutage auf den (digitalen) Strukturwandel vorbereiten und z.B. auf die eigene kaufmännische Ausbildung eine handwerkliche obendrauf setzen möchte, werden die Kosten für diese Maßnahme von der Agentur für Arbeit nicht übernommen. Hier müsste ein neues Rollverständnis für die Agentur für Arbeit greifen: Weg von der Verwalterin, die sich um Menschen kümmert bzw. diese vermittelt, sobald sie in Arbeitslosigkeit gefallen sind, hin zu Gestalterin, die sich proaktiv darum bemüht, dass Beschäftigte in strukturgefährdeten Sektoren frühzeitig eine Umschulung im handwerklichen Bereich beginnen und damit ein zweites Standbein und eine gewisse Resilienz aufbauen. Das würde wesentlich zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen. Wenn nämlich technologische Umbrüche potenziell zu einem Arbeitsplatzverlust ohne Perspektive führen, schürt das Ängste, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv gefährden.  

Kombinierte Arbeit und altersgerechte Arbeitsmodelle 

Heute gilt auf dem Arbeitsmarkt das Dogma: Büro oder Baustelle. Die Kombination Büro und Baustelle findet heute weder in der Praxis noch in der Debatte Beachtung, obwohl beide Prägungen in ihrer Reinform erhebliche gesundheitliche Risiken mit sich bringen. In einer groß angelegten US-amerikanischen Studie wurde für Männer, die täglich mehr als 6 Stunden sitzen ein 20 % erhöhtes Sterberisiko observiert (Patel, 2010). Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schäden am Bewegungsapparat, aber auch psychische Verstimmungen werden durch langes Sitzen begünstigt (MDR, 2022). Die gesundheitlichen Risiken durch zu viel körperliche Arbeit wurden weiter oben erörtert. Ideal wären daher Arbeitsverhältnisse, die körperliche und kognitive Betätigungen kombinieren. Da dies innerhalb eines Betriebs nicht immer ermöglicht werden kann, sollte vermehrt über betriebsübergreifende Kooperationen nachgedacht werden, die eine Kombination aus körperlicher und geistiger Arbeit ermöglichen. Perspektivisch würde dies auch erlauben, dass der Anteil an körperlicher Arbeit an die Leistungsfähigkeit des Angestellten angepasst ist und sich mit zunehmendem Alter verschiebt. Um diesen Gedanken frühzeitig gerade im akademischen Umfeld zu setzen, sollten Handwerksbetriebe vermehrt auf Universitäten und Fachhochschulen zugehen und dort zumindest Nebenjobs anbieten. Laut der 22. Sozialerhebung gehen 63 % der Studierenden einer Erwerbstätigkeit mit durchschnittlich 15,1 Stunden pro Woche nach (Kroher et al., 2023). Das macht bei 2,9 Millionen eingeschriebenen Studierenden ein Potenzial von 689.000 Vollzeitäquivalenten (VZÄ). Auf der Abbildung ist zu sehen, nach welchen Kriterien der wöchentliche Erwerbsaufwand variiert.

Erwerbsaufwand Der Studierenden In Sektoren

Quelle: 22. Sozialerhebung, Kroher et al., 2023, S. 90 

689.000 VZÄ sind ein nicht zu vernachlässigender produktiver Input, bei dem aber eingeschränkt werden muss, dass dieser vor allem in Ballungszentren zur Verfügung steht und natürlich auch zu einem großen Anteil von den Hochschulen selbst in Anspruch genommen wird. Neben einer besseren Verteilung der physischen Arbeit hätten kombinierte Arbeitsverhältnisse auch den Vorteil, dass die Anerkennung von handwerklichen Berufen steigt. Wer selbst einmal bei 40 Grad ein Dach eingedeckt oder eine PV-Anlage installiert hat, wird auf Handwerk*innen nicht mehr herab, sondern viel eher zu ihnen heraufschauen. 

Insbesondere für ältere Arbeitnehmer*innen im handwerklichen Bereich sollten Teilzeitmodelle ein selbstverständliches Angebot werden (Buschfeld, 2013, S. 142). Dies erlaubt die Leistungsreserven optimal zu nutzen und ein frühzeitiges Ausscheiden in den Ruhestand zu verhindern. Auch sollte vermehrt darüber nachgedacht werden, Tandems aus älteren und jüngeren Mitarbeiter*innen zu bilden. Dies würde erlauben, dass der junge Mitarbeiter tendenziell die körperlich anstrengenden Tätigkeiten übernimmt, während die ältere Mitarbeiterin ihren Erfahrungsschatz an die nächste Generation vermitteln kann (Naegele/Frerichs, 2018). 

Fazit 

Die hier präsentierten Ansätze zur Abmilderung des Arbeitskräftemangels im Handwerk nehmen für sich nicht in Anspruch eine spruchreife Lösung für dieses äußerst komplexe und zentrale Problem zu sein. Vielmehr sollen sie Ausgangspunkte für weitere Diskussionen sein. Insbesondere sind die Ansprüche, Gegebenheiten und Zukunftsperspektiven in den einzelnen Gewerken hoch unterschiedlich. Hier bedarf es also auch eines intensiven Austauschs mit den entsprechenden Praktiker*innen (auf Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite), um zu guten, nachhaltigen und praxisnahen Lösungen zu kommen. Eines steht fest: Wir müssen jetzt an einen Tisch kommen, um das Handwerk auch für bislang atypische Zielgruppen attraktiv zu machen. Denn bis 2035 könnten bis zu 770.000 Beschäftigte in den klimarelevanten Gewerken fehlen (Blazejczak/Edler, 2021). Wenn wir es nicht schaffen, diese Fachkräftelücke sukzessive zu schließen, werden wir unsere Klimaschutzziele mit Gewissheit verfehlen (BMWK, 2022). Entscheidend wird dabei sein, dass nicht wie in den vergangenen 20 Jahren nur mit leeren Worthülsen um sich geschmissen wird. Denn wenn wir tatsächlich Menschen vom Büro auf die Baustelle locken wollen, müssen sich die Bedingungen und das Ansehen dieser Arbeit drastisch verändern. 

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