2035 oder 2050? Ohne schnell wirksamere Maßnahmen sind alle Ziele nichts

Spaltet die Diskussion um das Klimaziel die Umweltbewegung? Was bedeutet es, die Erdüberhitzung auf 1,5°Celsius zu begrenzen? Reicht „grünes Wachstum“ allein aus? Wie lässt sich ein Klima-Lockdown noch verhindern? Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln? Und was müssen Regierung und Gesellschaft beitragen?

Ein Beitrag von Ulf Sieberg

Zwei Studien kamen im Oktober heraus, die im Ziel unterschiedlicher nicht hätten sein können. Während die Fridays for Future mit einer Machbarkeitsstudie finanziert von der GLS Bank aufzeigten, dass Deutschland bereits bis 2035 klimaneutral werden kann, um die Chance einer Begrenzung der Erdüberhitzung auf 1,5° Celsius aufrecht zu erhalten, warben die Agora-Think Tanks und die Stiftung Klimaneutralität für ein klimaneutrales Deutschland bis 2050. Michael Bauchmüller beschrieb letztere Studie in der Süddeutschen Zeitung so: „Die Wohnfläche pro Kopf darf weiter steigen, die Mobilität ist nicht eingeschränkt, aktuelle Ernährungstrends werden fortgeschrieben & die Industrie bleibt im Land.“ Alles soll also so weitergehen wie bisher, nur in „Grün“. Verfolgte man die Pressekonferenz von Patrick Graichen, Christian Hochfeldt undRainer Baake in der staatstragenden Bundespressekonferenz, konnte man den Eindruck gewinnen, da laufen sich drei Herren für zukünftige Staatssekretärsposten in einer Schwarz-Grünen Koalition warm. Da will man niemandem wehtun: Weder der Sache, noch den Wählenden und erst recht nicht den möglichen Regierungsparteien. Aber ist das auch glaubwürdig? Eher nicht.

Exponentielles Wachstum stoppen und Trend umkehren

Denn trotz ALLER bisherigen Bemühungen der Klimakrise zu begegnen: Es herrscht exponentielles Wachstum. Nicht nur das Corona-Virus steigt exponentiell, auch die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre. Im Jahr 2019 lag der Wert erstmals in der Geschichte der Menschheit bei 415 Parts per Million (ppm). Zwar bedeutet der Anstieg nicht automatisch auch einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur. Noch nicht, denn wehe dem, wenn. Das Problem ist, wir könnten es erst kurz vor Einsetzen der Vollkatastrophe bemerken, weil dass das Wesen exponentieller Wachstumskurven ist (vgl. Christian Stöcker im Spiegel), wie wir an Corona gerade leidvoll erfahren. So oder so bewegt sich die Entwicklung aber schon jetzt nicht im verbleibenden CO2-Budget. Der Weltklimarat IPCC hat 2018 das verbleibende globale CO₂-Budget für unterschiedliche Klimaziele veröffentlicht. Wenn wir die Erdüberhitzung auf 1,5°C begrenzen wollen, dürfen wir nur noch knapp 500 Milliarden Tonnen CO2 ausstoßen. Aktuell stößt die Menschheit jährlich fast 45 Milliarden Tonnen aus. Wie diese verteilt werden, sagt das Paris-Abkommen nicht. Möglich wäre die Verteilung nach dem gleichen Emissionsrecht für jeden Menschen, nach der historischen Verantwortung, der gleichen prozentualen Minderung in allen Ländern oder nach dem Jeder-was-er-kann-Prinzip. Im Paris-Abkommen herrscht genau dieses „Klingelbeutelprinzip“. Am plausibelsten wären die beiden ersten Prinzipien. Wie Stefan Rahmsdorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zusammenfasst. (Weiterführende Quellen zu den Aussagen in den beiden Links)

Die Größe der Aufgabe: 10 Jahre Corona-Lockdown

Vor diesem Hintergrund reicht das Ziel des EU Green Deal von mindestens 55% Emissionsreduktion bis 2030 nicht aus. Deswegen sollte laut Studie der „Staatssekretärsanwärterrunde“ das Ziel auch auf mindestens 65% geschraubt werden. Zudem will die EU „negative Emissionen“ durch die Aufnahme von CO2 in Senken, d.h. in Wäldern, Mooren & Co. anrechnen. Diese aber, in diesem Jahr gut sichtbar, werden zunehmend durch von Hitzeperioden und Dürren ausgelösten Bränden zu CO2-Quellen. Wer zulange mit der Emissionsreduktion zaudert, weil er die Klimakrise verharmlost oder niemandem wehtun möchte, muss zu einem späteren Zeitpunkt noch disruptiver die Emissionen senken. Brigitte Knopf vom Mercator Research on Global Common and Climate Change beschrieb das auf einer Veranstaltung des CO2 Abgabe e.V. im Juni so: „Zehn Jahre Corona-Lockdown, und wir haben die Klimaziele erreicht.“ Andersherum kann, wer anfangs die Emissionen nicht gradlinig, sondern schneller reduziert, den Zeitpunkt der vollständigen Emissionsreduktion nach hinten schieben, zu dem netto null erreicht wird. [Wir hatten dazu im Juli 2019 auf dem Cover unserer CO2-Vermeidungsstudie die passende Graphik abgebildet, die von diversen Akteuren adaptiert wurde ( vgl. SRU 2020; PIK 2020; www.showyourbudgets.org)]. Ein erst schnelles und entschlossenes Handeln wäre allemal beruhigender, weil man dann wüsste, dass man sich auf dem richtigen Pfad befände, um dann den letzten Rest später zu schaffen. Und da kommen die Studien auch wieder zusammen und sagen, was alle schon wissen: Wir müssen schneller in der Emissionsreduktion werden, sonst verspielt die Politik ihr Zeitfenster zum Handeln und viele ihrer Handlungsmöglichkeiten! Die Folge: Die Natur würde uns durch die Kippelemente im Klimasystem einen Klima-Lockdown aufzwingen. Die Politik wäre nur noch Krisen-Reakteur.

Verhindert „grünes Wirtschaften“ den Klima-Lockdown?

Das Weiter-wie-bisher-nur-grün-Prinzip zeigte sich in der „Staatssektretärsanwärterrunde“ auch beim Wirtschaftswachstum. Satte 1,7 Prozent Wachstum soll die Klimaneutralität 2050 jährlich bringen. Angesichts der Corona-Krise ein goldenes, aber vergiftetes Versprechen. Denn auch exponentielles Wirtschaftswachstum gemessen mit dem Bruttoinlandsprodukt ­ sorgt dafür, dass sich die Größe einer Volkswirtschaft in zirka 40 Jahren verdoppelt. Doch selbst wenn sich mit einem Teil des Wachstums die CO2-Emissionen tatsächlich auf netto null drücken ließen, ginge damit ein exponentiell gestiegener Ressourcenverbrauch einher. Eine kluge Person hat einmal gesagt: „Der Sozialismus scheiterte an der Mangelwirtschaft, der Kapitalismus scheitert am Ressourcenverbrauch.“ Was die deutsche Ikone der Fridays-Bewegung Luisa Neubauer zu der Frage veranlasst, dass es noch etwas anderes geben müsse zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die inhaltsfreie Werttheorie des Kapitalismus jedenfalls ist nicht in Stein gemeißelt. Waren und Dienstleistungen sind nicht per se gut. Preise dürfen nicht mit Werten gleichgesetzt werden. Auch wenn große Teile der Wirtschaft und der Politik, vor allem in der doch der „Schöpfung“ so am Herzen liegenden Unionsparteien, den Eindruck erwecken, Wirtschaftswachstum, BIP und Angebot und Nachfrage sind keine objektiven und schon gar keine verfassungsmäßigen Gesetzmäßigkeiten! Wirtschaft, die uns weiter in die Klima- und Artenkrise treibt, hat abgewirtschaftet.

Vom Wissen zum Handeln: Alles Psychologie?

Mit der Erzählung vom „grünen Wachstum“ soll die Gesellschaft mit auf den Weg der Transformation genommen werden. Denn „wir leben viel habitualisierter, als wir denken“ (Armin Nassehi, Soziologe). Wir wissen zwar viel, aber handeln nicht nach diesem Wissen. Die psychologischen Gründe sind vielfältig: Individuelle persönliche Erfahrungen, ihre Wertvorstellung, die (politische) Identität, persönliche Einschätzungen sowie die Wahrnehmung der Folgen des eigenen Handelns. Da ist es bequem, wenn uns jemand erzählt, es könne alles so bleiben, wie es ist. Wenn dann damit auch noch die Klimakrise gelöst wird, wunderbar. Zumindest sollte es den meisten Menschen leichter fallen, bei der Transformation mitzumachen. Doch ist dies vor dem Hintergrund der Größe der Aufgabe auch realistisch? In Zeiten, in denen „Kinder die neuen Realisten sind“ und „in Krisen Erfolg eine Falle ist“ (Harald Welzer, Soziologe), Erwachsene aber dem Alles-soll-so-bleiben-wie-es-ist-nur-in-Grün-anhängen, kann der Mut zur Veränderung gar nicht groß genug sein. Die Zukunft kommt schneller als mancher denkt. Wie sie aussieht, entscheiden wir. Bevor also ambitionierte Ziele aufgegeben werden, sollte erst einmal alles dafür getan werden, sie zu erreichen. Denn Ziele sind das eine, aber ohne schnell wirksamere Maßnahmen sind alle Ziele nichts. Spätestens nach der Bundestagswahl 2021 braucht es ein 100-Tage-Sofortprogramm mit Maßnahmen, die schnell wirken.

Weiterführende Informationen und Maßnahmen:

Was wir aus Corona für die Transformation lernen können?

Was wir aus Corona für die Transformation lernen können?
Wir müssen mehr auf die Praktikabilität statt auf kognitive Überzeugung setzen

Eine soziologische Perspektive auf die Parallelen zwischen der Corona- und Klimakrise von Dr. Armin Nassehi

Aus welchen Erfahrungen können wir aus der Corona-Krise für die Klimakrise lernen?

Das Menschliches Verhalten ist stark habitualisiert.

Es gibt kaum etwas, was die Menschen weniger lernen können als das Verlernen. Besonders die (Hochschul-)gebildeten Menschen tun sich hier schwer. Sie haben gelernt, dass Handlungen auf rational begründbaren Handlungsplänen basieren. Doch das ist in der Realität oft nicht der Fall. Wir leben viel habitualisierter, als wir denken.

Nachdem die Corona-Maßnahmen gelockert wurden, zum Beispiel, sind die Menschen wieder zum alten Verhalten zurückgegangen.

Auch unsere Lösungsperspektiven sind weiterhin ähnlich wie zuvor. Wir glauben immer noch, dass die moderne Welt z.B. durch Konsumreduzierung und anderen bekannten Instrumenten gerettet werden kann.

Und diese Einsicht, dass wir stark habitualisiert agieren und unsere Gewohnheiten schwer ändern, müssen wir im Kopf behalten. Denn für die Transformation müssen wir unsere Alltagspraktiken ändern.

 

Und wie funktioniert das? Wie gestalten wir den Alltag transformationstauglich?  

Dafür müssen wir uns einmal anschauen, wie Produkte und Dienstleistungen Plausibilität in unserem Alltag bekommen. Sie überzeugen stets nur durch ihre Alltagstauglichkeit und Praktikabilität.

Wie können wir uns das vorstellen?

Nehmen wir zum Beispiel unsere Smartphone-Nutzung. Die ständige Nutzung ist nicht auf kognitiven Bewegungsgründe oder rationale Begründungen zurückzuführen. Vielmehr kritisieren wir unser Verhalten sogar. Die Praktiken, die diese Geräte ermöglichen, haben sich einfach im Alltag bewährt. Was wir uns fragen müssen: Wie bekommen wir die Widersprüchlichkeiten moderner Alltagssituationen in die Diskussion um die ökologische Transformation?

Wir werden Alltagspraktiken nicht ändern, wenn wir nur auf kognitive Überzeugung setzen, sondern erst, wenn wir praktikable Lösungen finden, die sich im Alltag bewähren.

Wir sind Gefangene in unserem eigenen Milieu, wenn wir weiter über Begründungen gehen, wir müssen stärker über Praktiken gehen.

In wieweit lässt sich die Corona-Krise also als Chance begreifen?

Die Corona-Krise ist in soweit als Chance zu sehen, als dass wir manche Routinen neu bewerten müssen. Denn wir waren und sind gezwungen, alte Routinen zu verändern (z.B. Digitalisierung in der Bildung).

Die beste Transformation ist die, die man zwar stark merkt, aber zu der man sich nicht normativ entscheiden muss, weil sie praktisch funktioniert.

Die Originalbeiträge von Dr. Nassehi auf unserer Energietage-Veranstaltung finden Sie hier:
Block 1: Corona-und Klimakrise verzahnen
Block 3: Was brauchen Mittelstand & Industrie, um klimaneutral produzieren zu können?

Die Krise für eine sozialökologische Transformation nutzen

Einige Unternehmen werden trotz staatlicher Kredite und Auffangmaßnahmen die Krise nicht überleben. Einige der europäischen und globalen Lieferketten werden angepasst und umgebaut werden müssen. Ein wirksamer einheitlicher CO2-Preis, der unnötige Transportwege vermeidet, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Es spricht vieles dafür, dass Deutschland gute Voraussetzungen (vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit, hohes Niveau realen und gefühlten Wohlstands, hohe soziale Absicherung) hat, um sich relativ schnell zu erholen. Neben einer neuen Corona-Welle mit erneutem Lock-Down ist es vor allem die Klimakrise eine für alle Länder noch viel größere Herausforderung. Ernten vernichtende Heuschreckenschwärme in Afrika, die globale Regenwaldvernichtung oder Dürren in Europa lassen sich allenfalls kurzfristig verdrängen. Deutschland hat wie nur wenige Länder die Möglichkeiten und die Verpflichtung nun für eine grundlegende Veränderung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zu sorgen (siehe auch unsere Veranstaltung „Corona- & Klimakrise verzahnen“ auf den Digitalen Energietagen am 4. Juni u.a. mit dem Soziologen Prof. Armin Nassehi von der LMU München).

Unsere Vorschläge: Steuern als machtvolles Lenkungsinstrument neu entdecken statt sie als bloße Belastung zu diffamieren. Umweltschädliche Subventionen abschaffen statt neue Abwrackprämien für Benziner und Diesel zu fordern. Kurzfristige konjunkturelle Impulse sind für eine erfolgreiche sozialökologische Transformation zu nutzen. Wohlstand braucht andere Messinstrumente als das Bruttoinlandsprodukt, und Wachstum kann angesichts der Klimakrise nur noch grünes Wachstum sein. Wenn die Pandemie zumindest zu Beginn den Verantwortlichen parteiübergreifendes Handeln abverlangte, so gilt dies um so mehr für die Klimakrise. Die Liste der Sachverständigen in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses des Bundestages (siehe unter Terminen in unserem Newsletter) zum „Neustart für die Wirtschaft“ lässt allerdings befürchten, dass die Fraktionen im Deutschen Bundestag auch weiterhin in Grabenkämpfen verharren. Vielversprechender sind da die Ansätze der Agora Energiewende, eines Gutachtens im Auftrag des BMU, des Rates für nachhaltige Entwicklung, der „Umweltweisen“ oder des Wissenschaftlichen Beirats für globale Umweltveränderungen. Und auch die Europäische Union plant mit ihrem „Green Deal“ einen Neustart.

Lesen Sie zu diesem Thema auch unseren Beitrag vom April: „Grüne“ Wege aus der Krise.