Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist das Maß für die gesamte wirtschaftliche Produktion eines Landes und der Indikator, der seit Jahrzehnten unser Bild von Wohlstand und Fortschritt prägt. Doch ist dieser Maßstab, der ursprünglich zur Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes entwickelt wurde, tatsächlich geeignet, um den Zustand und die Qualität unserer Gesellschaft zu messen? Die Fixierung auf das BIP als Hauptindikator für Wohlstand und Erfolg ist aus vielerlei Gründen problematisch – und es wird Zeit, dies kritisch zu hinterfragen.
Beginnen wir mit einem simplen, aber aufschlussreichen Beispiel: Zwei Öltanker, einer erreicht sein Ziel ohne Zwischenfälle, der andere hat einen Unfall, erleidet ein Leck und verliert daraufhin einen Teil seiner Ladung auf offener See. Die Ökosysteme leiden, die Crew ist traumatisiert – und das BIP „profitiert“ dennoch von der Katastrophe. Kosten für Reinigung, Bergung und die Förderung von Ersatzöl werden in die Wirtschaftsleistung einberechnet und lassen das BIP wachsen, obwohl gesellschaftlich kein Mehrwert entsteht. Im Gegenteil: Die Folgen sind langfristig schädlich für Umwelt und Menschen, doch in der Logik des BIPs tragen sie positiv zur „Leistung“ des Landes bei.
Gleichzeitig gibt es zentrale Tätigkeiten, die im BIP nicht abgebildet werden, obwohl sie essenziell für unser Wohlbefinden sind. Dazu zählen vor allem unbezahlte Care-Arbeiten wie Kinderbetreuung, Haushaltsführung oder das Unterstützen von Angehörigen. Diese Leistungen bleiben in unserer Wirtschaftsstatistik unsichtbar, obwohl sie einen enormen gesellschaftlichen Wert haben. Die Folgen sind weitreichend, denn das, was nicht gemessen wird, findet in der politischen Entscheidungsfindung oft wenig Beachtung.
Dass das BIP nur einen Teil des gesellschaftlichen Wohlstands erfasst, war übrigens schon dem „Vater“ des BIPs, Simon Kuznets, bewusst. Bereits in den 1930er Jahren warnte er davor, das BIP als Maßstab für das Wohlbefinden einer Gesellschaft zu verwenden (Felix Dorn, 2022). Doch seine Warnungen wurden ignoriert – und so wurde das BIP zum Inbegriff des Fortschritts, obwohl es viele wesentliche Aspekte des Lebens außer Acht lässt. Die Kritik am BIP ist also keineswegs neu: Bereits 1974 zeigte der Ökonom Richard Easterlin, dass ein höheres BIP ab einer bestimmten Schwelle nicht automatisch zu einem höheren Lebensglück führt – eine Erkenntnis, die als „Easterlin-Paradox“ bekannt wurde (Easterlin, 1974).
Die Faktoren, die das Leben tatsächlich lebenswert machen – soziale Bindungen, eine stabile Gesundheit, eine erfüllende Arbeit – stehen oft in keinem direkten Zusammenhang mit einem höheren BIP (Van Soest et al., 2009). Studien zeigen, dass das Einkommen das Lebensglück nur bis zu einem gewissen Niveau steigert. Ist diese Schwelle erreicht, machen zusätzliche Einkommenszuwächse kaum noch einen Unterschied in der Lebenszufriedenheit. Einkommen ist also besonders dort entscheidend, wo es knapp ist und existenzielle Unsicherheit ausgleicht – nicht jedoch als ultimatives Maß für ein erfülltes Leben.
Die politische Praxis sieht allerdings anders aus: BIP-Wachstum gilt nach wie vor als zentrale Messlatte für den Erfolg einer Regierung. Ein stagnierendes oder rückläufiges BIP wird oft als Alarmzeichen interpretiert, als drohende Krise. Wenn Judith Rakers bei der Tagesschau mit ihrem ernstesten Gesichtsausdruck vor die Kamera tritt, weiß man sofort, dass entweder ein Krieg ausgebrochen oder die Wirtschaft geschrumpft ist.
Die Fixierung auf dieses eine Maß verengt jedoch den Blick: Wir werden immer besser darin, mehr Güter und Dienstleistungen zu produzieren, unabhängig davon, ob wir diese wirklich brauchen oder ob sie unsere Lebensqualität steigern. Doch was bringt uns materieller Reichtum, wenn er auf Kosten unserer Umwelt und unseres sozialen Zusammenhalts geht?
Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz gehört zu den lautesten Kritiker*innen dieser Fokussierung auf das BIP. Unter seiner Leitung analysierte die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission die Defizite des BIPs und legte Alternativen vor, die besser geeignet sind, um gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt zu messen. Sie schlugen vor, auch „weiche“ Faktoren wie Lebenszufriedenheit, soziale Beziehungen und Umweltqualität in die Messungen einzubeziehen. So könnten Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit, zur persönlichen Sicherheit und zur intakten Umwelt einbezogen werden, um ein realistischeres Bild vom Zustand einer Gesellschaft zu erhalten (Stiglitz et al., 2009).
Die Verteidiger*innen des BIP argumentieren, dass sich Wirtschaftswachstum und CO₂-Ausstoß entkoppeln ließen, und somit die Wachstumsmaxime weiterverfolgt werden könne. Doch dies übersieht wesentliche Aspekte. Erstens: Das BIP bleibt ein Indikator, der stark an den Energieverbrauch gekoppelt ist. Ein steigendes BIP bedeutet oft auch mehr CO₂-Ausstoß, besonders in Ländern, die stark auf fossile Brennstoffe angewiesen sind. Zweitens: Selbst ein „grünes“ Wachstum erfordert Ressourcen – sei es für den Bau von Windkraftanlagen, den Abbau seltener Erden oder die Versiegelung von Flächen. Auch erneuerbare Energien haben ökologische Kosten, deshalb ist der bewusste Umgang mit jeder Kilowattstunde Strom sehr wichtig, egal ob erneuerbar oder fossil.
Ein Ansatz ist die Weiterentwicklung des BIPs, sodass unerwünschte Ausgaben in Schäden negativ in die Bilanz eingehen und “Blind Spots” wie z.B. unbezahlte Care-Arbeit positiv einfließen. Mit genau dieser Zielsetzung ging 1989 der “Index of Sustainable Economic Welfare” (ISEW) an den Start. Ausgaben durch negative Ereignisse wie z.B. Unfälle, Kriminalität, Naturkatastrophen werden abgezogen. Ebenso wird die jährliche Umweltzerstörung ermittelt und negativ bilanziert. Die unbezahlte Leistung im Care-Bereich wird geschätzt und positiv berücksichtigt. Insgesamt setzt sich der Indikator aus 20 Komponenten zusammen, die einzeln aufgeschlüsselt werden, was für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit ein großer Pluspunkt ist (Imzuwi, n.d.). Der “Genuine Progress Indicator” (GPI) wurde auf Grundlage des ISEW entwickelt und punktuell für einige Staaten in den USA (Vermont, Maryland, Colorado, Ohio, Utah) berechnet. Hawaii ist der einzige Staat, der die Berechnung des GPI zu seiner jährlichen Routine gemacht hat (Hawaii, n.d.).
Noch vielversprechender ist der Ansatz, für jedes Policy-Feld verschiedene Indikatoren-Sets (Dashboards) zu entwickeln, wobei das BIP nur als ein Indikator von vielen gesehen wird. Außerdem sind die Berücksichtigung von subjektiven Faktoren und des Umweltverbrauchs wesentlich, um von der Messung der reinen “ökonomischen Wohlfahrt” zur Messung des Wohlergehens zu kommen. Der von einem britischen Think-Tank entwickelte „Happy Planet Index“ macht es vor: Er setzt Lebenszufriedenheit ins Verhältnis zum ökologischen Fußabdruck eines Landes und fordert ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen (Lexikon der Nachhaltigkeit, n.d.). Auch eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik hin zu weniger Ressourcenverbrauch und mehr Lebensqualität ist denkbar. Die Frage sollte nicht lauten „Wie können wir immer mehr produzieren?“, sondern „Was brauchen wir für ein gutes Leben – und wie lässt sich dies nachhaltig erreichen?“. Einen Lösungsbaustein auf diesem Weg bietet die Arbeit von Veléz-Henao und Pauliuk. Sie haben untersucht, welche Materialflüsse wir wirklich benötigen, um ein gutes Leben zu führen (Veléz-Henao/Pauliuk, 2023). Die Fokussierung auf Realgrößen statt Finanzkennzahlen kann dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Eine solche Perspektive würde unsere Wirtschaftspolitik auf lange Sicht radikal verändern. Statt jeden Produktivitätsfortschritt in mehr Produktion umzumünzen, könnten wir höhere Produktivität für mehr Freizeit und Lebensqualität nutzen. Eine interessante Arbeit auf diesem Gebiet kommt von Wissenschaftlern von dem IAB. Sie haben berechnet, dass unsere Produktivität im Vergleich zur neolithischen Revolution (die Sesshaftwerdung der Menschen) um den Faktor 90 zugenommen hat. Sprich heute können wir in einer Stunde 90 mal mehr herstellen, als zu der Zeit, in der wir alles per Hand hergestellt haben (Amlinger et al., 2023). Wir würden gut daran tun, diese erhöhte Produktivität in mehr Freizeit zu stecken, denn mehr Freizeit bedeutet weniger Stress, mehr Raum für zwischenmenschliche Beziehungen, Kreativität und persönliche Entwicklung – Aspekte, die unser Lebensglück nachhaltig steigern.
Dass wir das BIP von heute auf morgen in den Ruhestand schicken, wird allerdings nicht gelingen. Es ist in viele politische Kennzahlen eingebunden und muss nach und nach abgelöst werden. Und für manche Zwecke wird es nach wie vor seine Aufgabe erfüllen. Vor allem die Globalisierung macht eine einseitige Aufgabe des Indikators schwierig. Wünschenswert wäre ein international abgestimmtes Vorgehen, um das BIP auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen. Auch haben starke Schwankungen des BIPs durchaus einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit – in der kurzen Frist, nicht in der langen (Easterlin, 2010).
Die Herausforderung bleibt, die Dringlichkeit für eine Abkehr vom BIP als Hauptindikator zu vermitteln. Die Bundesregierung hat bereits die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beauftragt, alternative Messgrößen zu erarbeiten. Die Enquete-Kommission hat 2013 auf 844 Seiten ganz ähnliche Erkenntnisse wie die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission vorgelegt (Deutscher Bundestag, 2013). Doch die Umsetzung dieser Erkenntnisse steht noch aus. Was also tun? Ein gesellschaftlicher Diskurs ist notwendig, der die Frage ins Zentrum stellt, was ein gutes Leben ausmacht und wie eine nachhaltige Wirtschaft dies unterstützen kann. Die Einführung neuer Wohlstandsindikatoren erfordert politische Entschlossenheit und eine breite gesellschaftliche Unterstützung.
Eine vielversprechende Möglichkeit, diesen Wandel zu fördern, ist die Einbeziehung von Bürger*innen: Ein Bürgerrat könnte eine Plattform bieten, um über alternative Wohlstandsindikatoren und ein neues Verständnis von Fortschritt zu diskutieren. Derzeit wird an einem solchen Rat gearbeitet, der pünktlich zur nächsten Regierungsbildung seine Ergebnisse vorlegen soll (New Wohlstand, n.d.).
Wer sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen möchte, ist herzlich zu unserer nächsten Online-Veranstaltung am 19. November eingeladen. Dort diskutieren wir mit dem Filmemacher Martin Oetting, der in seinem Film „Purpose“ Fragen zur Lebenszufriedenheit aufwirft, und dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hermann Ott, der 2013 an der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ beteiligt war. Wir freuen uns auf einen spannenden Austausch und Ihre Fragen!