Ein Blick auf die Klimabewegung 2023

2023 musste die Klimabewegung gegen eine Klimapolitik ankämpfen, die geprägt war von einer fehlenden positiven Zukunftsvision und regierungsinternem Streit. Es brauchte einen Spagat zwischen der steigenden Dringlichkeit von konsequenten Klimaschutzmaßnahmen und dem Organisieren von Mehrheiten in einer verunsicherten Gesellschaft, die tief in multiplen Krisen steckt.
Die verschiedenen Bewegungen haben dabei unterschiedliche Ansätze verfolgt.

Mit welchen Rahmenbedingungen musste die Bewegung umgehen?

Seit ca. zwei Jahren portraitieren sich die meisten politischen und  gesellschaftlichen Akteur*in als Klimaschützer*in. Das ist zwar ein Erfolg, aber konsequente Maßnahmen werden trotzdem nicht entschieden. Das sorgt für Frust in der Bewegung. Nach unzähligen Stunden der ehrenamtlichen Arbeit stünde jetzt die tatsächliche Umsetzung an. Hier regt sich jedoch Widerstand: Verschiedene Personen und Organisationen realisieren, dass Klimaschutz spürbare Veränderung und Transformation gesellschaftliche Anstrengung bedeutet. Dieser Widerstand ist nicht unauflösbar, stellt aber eine Herausforderung dar.

2023 war eine Zeit der multiplen Krisen und eines angespannten gesellschaftlichen Klimas – Eindrücke aus der Meinungsforschung. Die gemeinnützige Organisation „More in Common“ hat im Sommer die gesellschaftliche Stimmung erfasst. Die Ergebnisse: Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass wir in einem ungerechten und egoistischen Land leben1. Es besteht der Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft: v.a. zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen mit verschiedenen Meinungen zum Klimaschutz und zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte1. Gleichzeitig wird die Regierung von vielen als undemokratisch, ungerecht, inkompetent und wirkungslos empfunden1.
Die dominierenden politischen Probleme sind steigende Lebenshaltungskosten und Mietpreise1.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Klimabewegung: Große soziale Sorgen, ein geringes Zusammenhalts- und Selbstwirksamkeitsgefühl und der Wunsch der Hälfte der Gesellschaft, dass alles „zum Gewohnten“ zurückkehrt1. Nicht die besten Voraussetzungen also für eine gesamtgesellschaftliche Transformation.

Wie hat die Klimabewegung 2023 versucht, Wandel zu bewirken? – Ein paar Beispiele

Tendenz zu mehr zentralisierten Aktionen
Dass seit der Pandemie weniger Personen als noch 2019 an Demonstrationen fürs Klima teilnehmen, hat dafür gesorgt, dass der Fokus mehr auf einzelnen symbolischen oder großen Aktionen liegt, als auf stetigen Protesten in der Fläche. Auch die letzte Generation rief im Herbst zum ersten Mal zur zentralen Massenbesetzung in Berlin auf (das erwartete exponentielle Wachstum blieb jedoch aus). Statt wie zuvor ein ernstes wurde dort ein fröhlicheres Aktionsbild geprägt. Das wurde unter anderen aus den Niederlanden inspiriert: Nachdem Aktivist*innen von Extinction Rebellion dort über einen Monat lang eine Autobahn bei Den Haag blockierten, beschloss die Regierung, fossile Subventionen abzubauen2.

Symbolische Orte
Dass symbolische Orte für Klimaproteste genutzt werden, ist nicht neu. Es lässt sich einfacher zu einem konkreten, greifbaren Thema mobilisieren, als zu zunächst abstrakt wirkenden Forderungen nach, z.B., einem Klimageld. Im Januar 2023 wurde das besonders sichtbar: Die Massendemonstration und die Aktionen zivilen Ungehorsams in und um Lützerath haben für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Auch die Blockaden bei der Internationalen Auto-Ausstellung in München, begleitet von 4500 Polizist*innen3, hatten symbolische Wirkkraft.

Kriminalisierung von Klimaprotesten
Die Ergebnisse eines Reports vom Green Legal Impact e.V.4 bestätigen, was viele Aktivist*innen beklagen: „Die Klimabewegung gerät auch in Deutschland zunehmend unter Druck. Staatliche Institutionen und ein verschärfter öffentlicher Diskurs beschränken die Handlungsmöglichkeiten von Aktivist*innen“. Das passiert in unterschiedlichsten Formen: Praxis von Versammlungs- & Polizeibehörden (restriktive Auflagen, Schmerzgriffe, Präventivgewahrsam) und harte Strafverfolgung (Ziel: Abschreckung durch vernachlässigte Verhältnismäßigkeitserwägungen).  Ein Beispiel: der vor Gericht gescheiterte Versuch, die Letzte Generation als extremistisch einzustufen5. Eine ausgereifte Antwort darauf scheint die Bewegung noch nicht zu haben – bisher wurde lediglich medial darauf aufmerksam gemacht, wobei das Interesse und die Empörung über die Zeit abgenommen haben.

Größerer Fokus auf die Umsetzungsebene
Um dafür zu sorgen, dass trotz langsamer politischer Fortschritte Klimaschutzmaßnahmen durchgeführt werden, fokussieren sich einige Akteur*innen mehr auf konkrete Umsetzungsprojekte. Zwei Beispiele:

  • In manchen Bereichen des Klimaschutzes mangelt es nicht an Wissen oder der Akzeptanz, sondern lediglich an den nötigen Arbeitskräften (z.B. Sanierung oder PV-Installation). Hier haben die 4 Solarcamps (in Freiburg, Kassel, Berlin und Lüneburg) letztes Jahr angesetzt: In je zwei Wochen konnten Interessierte in die PV-Installation schnuppern. Das Ergebnis: Einige haben sich im Anschluss für einen (Neben-)Job im Klimahandwerk entschieden. Eine detailliertere Auswertung des Camps bei Freiburg hat unser Kollege Philipp George hier veröffentlicht.

  • Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Initiative PlanB 2030 in Berlin: Nach dem knapp gescheiterten Volksentscheid für eine frühere Klimaneutralität nehmen einige Bürger*innen die Maßnahmen selbst in die Hand. Mit Nachbarschaftsevents und vielen anderen Formaten werden Bürger*innen ermutigt und unterstützt, z.B. Balkonsolarkraftwerke selbst anzubringen und anzumelden.

Neue Kooperationspartner*innen
Ein wichtiger Ansatz von Fridays for Future ist es, in der Breite der Gesellschaft verankert zu sein. Mit der Kampagne „wir fahren zusammen“ setzen sie sich für eine sozial gerechte Verkehrswende ein: In Kooperation mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di unterstützen sie die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in deren Tarifverhandlungen. Im März 2023 brachte Fridays for Future mit diesem Thema an 240 Orten über 220 000 Demonstrant*innen auf die Straße. Dazu kamen gut 60 000 Beschäftigte, die am selben Tag für bessere Löhne streikten. Seit Herbst haben schon über 60 000 Personen die gemeinsame Petition unterschrieben.

Ausblick

Auch 2024 wird ein turbulentes Jahr für die Klimabewegung: Schon jetzt wurden Protestwellen aus der Landwirtschaft und gegen Rechts laut, die auch von der Klimabewegung unterstützt wurden. Die letzte Generation hat Massenproteste am 03. Februar in Berlin und einen Strategiewechsel angekündigt, und Fridays for Future wird am 01. März gemeinsam mit Beschäftigten deutschlandweite Großdemonstrationen für eine sozial gerechte Verkehrswende veranstalten. Außerdem stehen Kommunalwahlen, Landtagswahlen und die Europawahl an, bei denen es für die Bewegung darum gehen wird, wieder einen Klimawahlkampf zu prägen, bei dem es nicht um das „ob“, sondern um das „wie“ des Klimaschutzes und konkrete Maßnahmen geht.

Konversion statt Kündigung: Florenzer Arbeiter kämpfen mit der Klimabewegung für eine nachhaltige Fabrik

Seit über zwei Jahren wehren sich die Beschäftigten des Zulieferwerks von der Firma GKN gegen eine plötzliche Kündigung und setzen sich zusammen mit der Klimabewegung für eine Konversion des Werkes ein. Was dahintersteckt, ein paar Eindrücke von meinem Besuch dort über Silvester und was es jetzt auch aus Deutschland braucht, findest Du in diesem Artikel.  

Die damaligen 422 Beschäftigten des GKN-Werks bei Florenz haben bis Juli 2021 Achswellen produziert. Dann kam übers Wochenende die plötzliche Kündigung aller Beschäftigten. Die fuhren am nächsten Montag jedoch trotzdem zur Fabrik und starteten eine unbefristete Betriebsversammlung, quasi eine legale Form der Fabrikbesetzung. Diese läuft seitdem ununterbrochen und immerhin 185 der ursprünglichen Beschäftigten sind noch dabei. Vor Gericht gewannen sie gegen ihren Arbeitgeber, da die kurzfristigen Kündigungen unrechtmäßig waren. 

Florenz, 31. Dezember 2023 in der „Bar“, dem sozialen Mittelpunkt der Fabrik: Die Kollegen (inzwischen sind es tatsächlich nur noch Männer) hatten zur Silvesterfeier eingeladen und zur Verteidigung der Fabrik aufgerufen, denn sie sollten zum 01.01.24 erneut gekündigt werden. Wenige Tage zuvor kam jedoch die gute Nachricht: 

Das Gericht hat wieder dem Fabrikkollektiv rechtgegeben und die Kündigungen sowie die Räumung des Fabrikgeländes so verhindert. Die Begründung: Weder die Stadt noch der Arbeitgeber haben einen vernünftigen Plan zur Reindustrialisierung vorgelegt. Im Gegensatz zu den Beschäftigten.  

Zurück in der Bar: Diego kommt rein und grüßt mit einer Geste einen der GKN-Beschäftigten, der wie so oft in der in der Ecke neben einem Heizstrahler sitzt, kaum spricht und anscheinend schwer hört. Diego ist Lehrer aus dem Norden Italiens und einer der wenigen vor Ort, der gut Englisch spricht. Noch am Abend zuvor haben wir lange mit ihm diskutiert, wie wir mehr Menschen für sozial-ökologische Projekte gewinnen können – etwas, was dem colletivo di Fabrica schon erstaunlich gut gelungen ist: 

Im September nach der Kündigung rief das Fabrikkollektiv zusammen mit Unterstützer*innen zur Demonstration in Florenz auf und rund 40 000 Personen kamen – darunter Arbeiter*innen, Klimaaktivist*innen, kirchliche Akteure und viele weitere Organisationen und Einzelpersonen.  

An der Theke der Bar steht neben einigen Kollegen und Unterstützer*innen auch die Florentiner Stadträtin Antonella Bundu, die den Kampf schon lange aktiv unterstützt und ein bekanntes Gesicht und regelmäßiger Gast auf dem Fabriksgelände ist. Sie hat uns später am Mittag mit dem Auto mit in die Stadt genommen und dabei von den verschiedenen Herausforderungen der Stadtpolitik und rund um die Fabrik erzählt. Sobald die Genossenschaft gegründet ist und ökologische Produkte produziert werden, will sie ihr Amt als Stadträtin niederlegen, um in der Fabrik zu arbeiten. 

Das Kollektiv hat nämlich gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und der Klimabewegung einen Plan zur Konversion der Fabrik ausgearbeitet: Als Genossenschaft wollen sie Lastenräder und Photovoltaikmodule zusammenbauen. So können die Arbeitsplätze erhalten werden und gleichzeitig entsteht die erste sozial integrierte Fabrik Italiens mit einer ökologisch sinnvollen Produktion. 

Die Stimmung in der Bar ist gut und kurze Zeit später kommt Dario, der Betriebsrat, aus seinem Büro in die Bar und die Aufbauarbeiten für die Veranstaltung am Abend beginnen. Mit für deutsche Verhältnisse wenig Plan und viel Diskussion bauen wir Pavillons und Ausschanktische auf. 140 Helfer*innen haben sich für den Tag gemeldet, die meisten jedoch erst für verschiedene Schichten am Abend. Trotz des leichten Chaos merkt man, dass die Kollegen und regelmäßige Unterstützer*innen viel gemeinsam durchgemacht haben. Man kennt sich und verlässt sich aufeinander.  

Diesen Zusammenhalt werden die Kollegen weiterhin brauchen, denn dieser Kampf ist noch nicht vorbei: da es jetzt keinen Lohn mehr gibt, muss das „colletivo“ möglichst schnell das nötige Kleingeld zusammenbekommen, mit dem sie als Genossenschaft das Fabrikgelände und die Geräte kaufen können: Insgesamt sind das über 20 Millionen Euro, um mit der Produktion starten zu können. Zum Glück gibt es verschiedene öffentliche und genossenschaftsbankliche Töpfe, mit denen dieses Ziel erreichbar wird. Trotzdem braucht es ein gewisses Eigenkapital: Eine Million Euro sammelt das Projekt noch bis Juni 2024 über Genossenschaftsanteile, die Bürger*innen, Vereine, Arbeitnehmer*innen und solidarische Gruppen für je 100€ erwerben können. Ab fünf Anteilen wird man zum Genossenschaftsmitglied und erhält Stimmrecht in den Versammlungen. Es wird es eine Möglichkeit geben, von Deutschland aus online an den Versammlungen teilzunehmen. 

All das scheint angesichts der wachsenden internationalen Unterstützung sehr erreichbar. Entsprechend ausgelassen, aber auch kämpferisch war die Party am Abend und die Demonstration um Mitternacht an Silvester. Es wurde durchgehend gesungen – vor allem „occupiamola“ („Lasst sie uns besetzen“) – ein Lied, das einer der Beschäftigten, Snupo, nun schon in etlichen Versionen mit den vielen Instrumenten, die er spielt, aufgenommen hat und von dem es bald auch eine deutsche Version geben wird.  

Damit das Fabrikkollektiv und die Genossenschaftsgründung von diesem beispielhaften sozial-ökologischen Projekt erfolgreich sein können, braucht es jetzt viel Unterstützung. Teile die Geschichte der Beschäftigten und, falls möglich, kaufe Genossenschaftsanteile.  
Weitere Informationen: https://www.insorgiamo.org/germany 


Kontext des Beitrags: Die Autorin Greta Waltenberg ist Mitarbeiterin bei Klimaschutz im Bundestag e.V. und setzt sich ehrenamtlich unter anderem für eine stärkere Kooperation zwischen Gewerkschaften und Klimabewegung ein. Im Dezember hat sie das Werk bei Florenz das erste Mal besucht, hatte aber schon vorher Kontakt zu der dortigen Bewegung. Jetzt unterstützt sie die deutsche Kampagne und wird selbstverständlich auch selber Genossenschaftsmitglied.

Bildquelle: https://insorgiamo.org/germany

Arbeit und Transformation, Teil 4: Mit dem Handwerk in Berührung kommen – Eine Analyse des Solarcamps Freiburg 2023 

Titelbild: Credits: Laurin Budnik 

Hinweis: Sofern nicht anders angegeben stammen die Fotos vom Solarcamp Freiburg 

Vom 21. August bis zum 1. September diesen Jahres hat am Nimburger Baggersee erstmalig das Solarcamp Freiburg stattgefunden. Über 50 Teilnehmende hatten in der einwöchigen Ausbildungsphase die Möglichkeit, Grundkenntnisse im Bereich der Aufdach-PV-Montage zu erwerben. Das ehrenamtlich getragene Projekt wurde dabei von lokalen Handwerksbetrieben unterstützt, um eine hohe Ausbildungsqualität zu gewährleisten. In diesem Artikel werden die Zielstellung, das Konzept und die Ergebnisse aus der Umfrage unter den Teilnehmenden vorgestellt. 

Ziele des Solarcamps Freiburg 2023 – Begeisterung für das Handwerk wecken und auf Missstände aufmerksam machen 

Das Solarcamp möchte den Teilnehmenden die Möglichkeit bieten, in einem geschützten Raum unter professioneller Anleitung erste Erfahrungen im Bereich des Handwerks zu sammeln. Diese Erfahrungen sollen im besten Fall dazu führen, dass die Teilnehmenden daraufhin eine Karriere im Klimahandwerk verfolgen.  
Neben dieser offensichtlichen – aber auch sehr wichtigen – Zielstellung versteht sich das Solarcamp auch als eine Initiative mit politischen und gesellschaftskritischen Botschaften und Forderungen. Dazu gehört in erster Linie die Kritik an der Bundesregierung, die zu wenig für den Kampf gegen den eskalierenden Fachkräftemangel im Klimahandwerk unternimmt. Laut Studien könnte sich der Fachkräftemangel in diesem Bereich bis 2035 auf 750.000 Arbeitskräfte vergrößern (Blazejczak/Edler, 2021). Ein Mangel an Beschäftigten in diesem Bereich ist eine ernsthafte Bedrohung für die selbstgesteckten Klimaziele der Bundesregierung. Für den Gebäudebereich wurde gezeigt, dass durch ein zu geringes Fachkräfteangebot die Reduktionsziele deutlich verfehlt werden könnten (Thamling et al., 2023). Um diesem drohenden Kollaps entgegenzuwirken, müsste die Bundesregierung sofort Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Arbeitsbedingungen und Löhne im Klimahandwerk attraktiver zu machen.  

Auch setzt sich das Klimacamp Freiburg dafür ein, dass sich die gesellschaftliche Anerkennung der Handwerksberufe maßgeblich verbessert. Aus diversen Studien ist bekannt, dass körperliche Arbeit im Vergleich zu geistiger Arbeit in Deutschland immer noch abgewertet wird: “Dies gilt umso mehr, als nach Ansicht von Berufsbildungsfachleuten die Überzeugungen von der vermeintlichen Nachrangigkeit der beruflichen Bildung gegenüber der Hochschulausbildung und von der vermeintlichen Minderwertigkeit von Berufen mit überwiegend körperlicher Arbeit in der Gesellschaft weiterhin stark verankert sind” (Mischler et al., 2018). 

Ein ganz besonderes Anliegen für das Solarcamp ist die Öffnung des Klimahandwerks für unterrepräsentierte Personengruppen, insbesondere für Frauen und INTA* (inter, non-binary, trans, agender). 

An dieser Stelle ist es auch wichtig zu betonen, was sich das Solarcamp Freiburg nicht als Ziel setzt: Innerhalb von einer Woche Fachkräfte ausbilden. Vielmehr ist es die Möglichkeit, Einblick in ein zukunftsorientiertes Handwerk zu erhalten. Aus einer bisher unveröffentlichten Umfrage der Energieagentur Regio Freiburg, wissen wir, dass PV-Installationsbetriebe nicht ausschließlich ausgebildete Fachkräfte, sondern auch ungelernte Hilfskräfte suchen. In diesem Bereich kann das Solarcamp dazu beitragen, die Lücke ein wenig zu schließen. 

Hintergrund 

Das erste Solarcamp hat 2022 in Braunschweig stattgefunden, damals noch unter dem Namen “Energiecamp” (Fridays for Future Braunschweig, n.d.). Freiburg hat das Grundkonzept mit geringfügigen Modifikationen von Braunschweig übernommen.  

Neben Freiburg haben dieses Jahr auch in Kassel (Hessenschau, 2023), Berlin (Tagesspiegel, 2023) und Lüneburg (Landeszeitung, 2023) Solarcamps stattgefunden. Unterstützt werden die lokalen Gruppen von der Bundesebene “Solarcamp for Future”. Sie bietet Vernetzungsmöglichkeiten an, damit der Wissenstransfer zwischen den Städten problemlos funktioniert. Die Bundesebene hat darüber hinaus ein Handbuch entworfen, in dem die wichtigsten Fragen für die Organisation, Planung und Durchführung eines Solarcamps adressiert werden. Ziel ist es, möglichst viele Gruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu motivieren, in der eigenen Stadt ein Solarcamp auf die Beine zu stellen. 

Ferner wurde bei der Organisation des Solarcamps Freiburg 2023 Wert daraufgelegt, dass die Teilnahme nicht von den finanziellen Mitteln der Teilnehmenden abhängt. So wurde zur besseren Planbarkeit zwar ein Schutzbetrag von 60 Euro erhoben, dieser konnte aber mit Verweis auf eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten ohne weitere Nachfragen komplett aufgehoben worden. Diese Möglichkeit wurde auch in 11 Fällen in Anspruch genommen. Die 60 Euro pro Person hätten die Gesamtkosten nicht ansatzweise gedeckt. Um einen in finanzieller Hinsicht barrierefreien Zugang zu ermöglichen, hat das Organisationsteam großen Wert daraufgelegt, dass Camp mit Hilfe von Netzwerkpartner*innen (JobRad, EWS, FFF, Patagonia) zu finanzieren. 

Inhalte 

Das Programm ist in eine einwöchige Ausbildungsphase vor Ort im Solarcamp und eine einwöchige Praxisphase im Betrieb (Praktikum) aufgegliedert. Wobei die Praktikumsphase optional ist und nicht von allen Teilnehmenden in Anspruch genommen wird. 

In der Ausbildungsphase werden folgende theoretische Inhalte angerissen: 

  • Funktionsweise der Komponenten einer PV-Anlage 
  • Sicherer Umgang mit elektrotechnischen Anlagen 
  • Planung von PV-Anlagen 
  • Energiewende und PV-Branche im Überblick 

Für den sicheren Umgang mit elektrotechnischen Anlagen wird ein ganzer Tag investiert. Nach dem theoretischen Input am Morgen folgt am Nachmittag eine kurze Prüfung zur Elektrotechnisch unterwiesenen Person (EuP). Diese Prüfung ist Voraussetzung, um einfache Tätigkeiten an elektrotechnischen Anlagen unter Aufsicht durchführen zu dürfen. 

Theorie Quelle Solarcamp

Neben der theoretischen Inhalte gibt es auch eine praktische Einführung in die Aufdach-Montage von Solaranlagen. Hier dürfen die Personen folgende Schritte unter professioneller Anleitung selbst durchführen: 

  • Einzeichnung des Installationsfelds 
  • Setzen der Dachhaken 
  • Bearbeitung der Ziegel (flexen bzw. ausklinken der Ziegel) 
  • Befestigung der Montageprofile 
  • Anklemmung und Verkabelung der PV-Module 
Ziegel Flexen

Um den Lerneffekt zu vergrößern, wird der Installationsvorgang an unterschiedlichen Dachtypen wiederholt, sprich an Dachflächen mit anderen Eindeckungen (Beton-, Tonziegel, Frankfurter Pfanne, Biberschwanz, Trapezblech) und mit verschiedenen Neigungen. Dafür wurden von einer Freiburger Berufsschule zwei Übungsdächer gezimmert, die das Erlernen der verschiedenen Installationstechniken in sicherer Höhe ermöglichen. Zentral ist die Möglichkeit für die Teilnehmenden, alle relevanten Werkzeuge und Maschinen für die Aufdach-PV selbst zu bedienen. Dies geschieht natürlich erst nach einer Einweisung, unter Aufsicht von ausgebildeten Fachkräften und ausgestattet mit der notwendigen Persönlichen Schutzausrüstung (PSA). 

Uebungsdaecher Quelle Solarcamp

Darüber hinaus wurde der Freiburger Ausbildungskanon um einen Workshop im Bereich der Balkon-Montage erweitert, in dem einerseits das fachgerechte Montieren von PV-Modulen an Fassaden bzw. Balkonen und andererseits das Upcycling von ausrangierten Aufdach-Modulen vermittelt wurde. Dieser Workshop wurde von dem bundesweit tätigen Verein BalkonSolar durchgeführt. 

In der zweiten Woche hatten die Teilnehmenden dann die Möglichkeit praktische Erfahrungen bei einem Betrieb im Rahmen eines Praktikums zu sammeln. Je nach Betrieb sind die Möglichkeiten zur Mitarbeit unterschiedlich. Aber es wird angestrebt, dass die Teilnehmenden aktiv in den Montageprozess eingebunden werden und so ihre Kenntnisse vertiefen und erweitern können.  

Umfrage / Zusammensetzung der Teilnehmenden 

Die Umfrage unter den Teilnehmenden wurde gemeinsam mit einem Forscher der TU Berlin konzipiert. Die Antworten der beiden Kohorten werden hier aggregiert betrachtet. Insgesamt haben sich 45 Teilnehmende an der Umfrage beteiligt (N = 45). Alle folgenden Darstellungen und Zahlen basieren (wenn nicht anders angegeben) auf dieser nicht repräsentativen Umfrage. 

In Freiburg wurde besonderer Wert daraufgelegt, dass unterrepräsentierte Gruppen die Möglichkeit bekommen, am Solarcamp teilzunehmen. Es wurde intern eine harte 50%-FINTA*-Quote vereinbart. Hätte es für diese Quote nicht genügend Bewerbungen gegeben, wäre das Camp konsequenterweise abgesagt worden. 

Grund für diese strikte Haltung sind die geringen Zahlen an Frauen und INTA*, die in diesem Bereich tätig sind. Auf der folgenden Grafik wird deutlich, dass der Anteil in den einschlägigen Berufen des Klimahandwerks extrem gering ist. 

Frauenanteil Neu Abgeschlossen Ausbildungsvertraege 2022 Im Klimahandwerk

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Destatis, 2023 (xlsx); BIBB, 2022 

Damit dieser nicht zufriedenstellende Status-Quo nicht reproduziert wird, wurde ein besonderes Augenmerk daraufgelegt, diese Zielgruppe mit der Ausschreibung anzusprechen. 

Wie auf der Grafik erkennbar, wurde die FINTA*-Mindestquote mit einem FINTA*-Anteil von 56 % sogar leicht übertroffen. 

Gender

Die meisten Teilnehmenden haben als Hauptbeschäftigung “Studium” (44 %) angegeben. Der hohe Wert erklärt sich teilweise daraus, dass der Großteil des Organisationsteams ebenfalls studiert. Da es sich um die erste Ausgabe des Solarcamps in Freiburg handelte, gab es keine finanziellen Mittel, um große Werbekampagnen zu starten. Gleichzeitig ist es ein ganz natürlicher Effekt, dass viele Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld des Organisationsteams auf das Angebot aufmerksam geworden sind.

Hauptbeschaeftigung

Der Altersdurchschnitt der Teilnehmenden betrug 31,7 Jahre. Die größte Gruppe stellten mit 42 % die 20-29 Jährigen, was mit dem hohen Anteil an Studierenden koinzidiert. Aber immerhin 11 % der Teilnehmenden waren bereits 50 oder älter.

Altersverteilung

Auf der folgenden Grafik ist zu sehen, mit welchen Bildungsvoraussetzungen die Teilnehmenden ins Camp gekommen sind. Die Antwortmöglichkeiten “kein Abschluss”, “Hauptschulabschluss” bzw. “Mittlere Reife” wurden jeweils null mal gewählt. Die Gruppe mit akademischem Abschluss dominiert das Teilnehmendenfeld mit 45 %. Die Menschen mit Abitur bilden mit 36 % die 2. größte Gruppe. Das Organisationsteam des Solarcamps ist sich dieser Unausgewogenheit bewusst. Für die nächste Ausgabe des Solarcamps soll verstärkt an Haupt-, Werkreal- und Realschulen geworben werden.

Hoechster Abschluss

Arbeitszeitpräferenzen 

Die Teilnehmenden wurden weiterhin gefragt, wie viele Stunden pro Woche sie in einer idealen Welt arbeiten würden. Mit 28 Stunden liegt die Zeitpräferenz unter dem Schnitt aller Arbeitnehmer*innen, die nach neusten Erhebungen etwa 32 Stunden pro Woche arbeiten möchten (IAB, 2023). Die Differenz kann teilweise mit einer geringfügig anderen Fragestellung erklärt werden. Während bei der Erhebung des IAB die Arbeitnehmer*innen nach ihrer Wunscharbeitszeit unter gegeben Bedingungen gefragt werden, wurden die Camp-Teilnehmenden nach ihrer Wunscharbeitszeit in einer idealen Welt gefragt. In dieser wäre es natürlich auch denkbar, dass durch ein höheres Lohnniveau mit einer geringeren Anzahl an Stunden ein ausreichendes Einkommen erwirtschaftet werden kann.

Ideale Arbeitszeit

Ebenfalls wurde gefragt, wie viele Stunden idealerweise davon pro Woche in einem handwerklichen Betätigungsfeld geleistet werden sollten. Die erstaunliche Antwort: Ca. 20 Stunden pro Woche. Das entspricht einem Anteil von 71 %. Das ist erstaunlich, weil ein Großteil der Teilnehmenden durch Bürojob oder Studium aktuell einer überwiegend sitzenden Tätigkeit nachgeht.

Ideale Arbeitszeit Handwerklich

Auffällig ist der hohe Anteil in der Kategorie “11-20 Stunden”. Daraus lässt sich ableiten, dass der Wunsch einer Arbeit im Handwerk in Teilzeit nachzugehen sehr ausgeprägt ist. Dem steht gegenüber, dass im handwerklichen Bereich aktuell allenfalls kaufmännische Beschäftigte Teilzeitmodelle in Anspruch nehmen können. Wie auf der Grafik ersichtlich ist dieses Arbeitsmodell im gewerblich-technischen Bereich quasi nicht existent (Zoch, 2009).

Arbeitsmodelle Baugewerbe

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Zoch, 2009, S. 52 

Gründe nicht ins Handwerk zu gehen

Gruende Gegen Das Handwerk Ueber Mittelwert

Für das Organisationsteam war es auch von Interesse, warum die Teilnehmenden des Solarcamps, die ja schon durch die Teilnahme eine gewisse Affinität oder zumindest Aufgeschlossenheit und Neugierde für das Handwerk zeigen, noch nicht im Handwerk tätig sind.  Die Ergebnisse der Freiburger Umfrage decken sich größtenteils mit den Angaben in der Literatur. 

Dem Kriterium “Arbeitsbedingungen” attribuieren die Befragten die höchste Relevanz. Darunter fallen üblicherweise starre und lange Arbeitszeiten, Überstunden, körperliche Überlastung, schlechte Kommunikationskultur, geringe Aufstiegschancen, wenig Möglichkeiten zur Weiterbildung, schwierige Vorgesetzte, wenig Mitbestimmung. 

Für 53 % der Teilnehmenden hat die Aussage “Es war immer klar, dass ich studiere” eine (hohe) Relevanz. Daraus geht hervor, dass die elterliche Prägung bzw. elterliche Meinung und das soziale Umfeld einen großen Einfluss auf die Berufswahl haben. Wenn die eigenen Eltern Akademiker*innen sind, die Eltern zumindest unterbewusst vermitteln, dass ein Studium mehr wert ist als eine Ausbildung und ein Großteil der Freund*innen ebenfalls studieren will, setzen sich viele junge Menschen gar nicht mit der Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung auseinander (Hampel et al., 2003). Der extrem hohe Wert von 53 % erklärt sich auch durch die Teilnehmenden-Struktur, die überdurchschnittlich viele Studierende und Akademiker*innen aufweist. 

“Angst vor männerdominierten Strukturen” erreicht ebenfalls einen hohen Wert. In der Literatur erscheinen sinnverwandte Items unter dem Namen “Arbeitskultur” und werden dort auch als zentrales Merkmal für die Arbeitsplatzattraktivität und Weiterempfehlungsbereitschaft identifiziert (Radermacher, 2022). Bei diesem Kriterium hat das Gender einen signifikanten Einfluss auf die Beantwortungsmuster. Werden nur FINTA*-Personen befragt, erreicht das Kriterium sogar den höchsten Rang in der Fragen-Batterie “Gründe gegen das Handwerk”. Das zeigt, dass Betriebe, die aufrichtig daran interessiert sind, Frauen als Beschäftigte zu gewinnen, dafür sorgen müssen, dass der Arbeitsplatz ein sicherer und diskriminierungsfreier Raum ist. 

Angst Vor Maennerdominierten Strukturen

Abschreckend ist auch das vergleichsweise geringe Lohnniveau im Handwerk. Fachkräfte können bei einem Wechsel in die Industrie im Schnitt 1000 Euro pro Monat mehr verdienen (Frankfurter Rundschau, 2019). Dies ist einer der Gründe, warum 2006 nur 36,5 % der Menschen, die im Handwerk eine Ausbildung absolviert haben, auch immer noch in diesem Sektor arbeiten (Haverkamp et al., 2016). Das Lohnniveau spielt auch in einem ganz anderen Kontext eine wichtige Rolle: Arbeitszeiten flexibel einzuteilen ist ein Privileg und hat viel mit der Höhe des Stundenlohns zu tun. Ist in einer Branche der Lohn so gering, dass es bei einer 40-Stunden-Woche gerade so reicht, sind flexible Arbeitsmodelle mit reduzierter Arbeitszeit ein leeres Versprechen, weil die Beschäftigten diese aus ökonomischen Gründen nicht in Anspruch nehmen können. 

Auch wird die Aussage “Mir ist die Ausbildung zu lang” in vielen Fällen von den Befragten unterstützt. Hier muss aber beachtet werden, dass die meisten Befragten schon mitten im Studium oder bereits berufstätig sind und somit als Quereinsteiger*innen ihren Weg ins Handwerk finden würden und nicht durch eine sogenannte Erstausbildung. Bei einer Befragung von Schüler*innen würde die Bewertung vermutlich ganz anders ausfallen, weil der Karriereweg über ein Studium in der Regel länger dauert. Die Quereinsteiger*innen sehen also die 3-jährige-Berufsausbildung als zu lang an, was auch verständlich ist, weil eine berufstätige Person dann 3 Jahre lang mit einem sehr geringen Ausbildungsgehalt zurechtkommen und in der Berufsschule allgemeine Fächer belegen müssten, deren Inhalt unter Umständen schon bekannt sind und nichts mit der fachspezifischen Ausbildung zu tun haben. Dieses Problem ist von verschiedenen Akteur*innen erkannt worden. Das große Unternehmen Enpal hat eine Akademie ins Leben gerufen, um den eigenen Arbeitskräftemangel zu lösen (PV Magazine, 2022). Dort werden Menschen für die DC- (Gleichstrom, Dachmontage) und AC-Installation (Wechselstrom, Anschluss an Hauselektrik) ausgebildet. Die Schulungen dauern nach Angaben des Unternehmens 2 Wochen. Die Schulung ist primär kostenfrei und erst danach klärt sich, wer übernommen wird und wer nicht (agrajo, 2022). Das Modell von Enpal wird durchaus kontrovers diskutiert. Gewerkschaften sehen die Kurzschulungen eher kritisch, weil die Gefahr besteht, dass Arbeitskräfte zu spezifisch auf Enpal eigene Lösungen trainiert werden und dann z.B. nicht so einfach ihren Arbeitsplatz wechseln können, wie es mit einer vollen und staatlich anerkannten Berufsausbildung der Fall wäre (DHZ, 2023).   

Ein weiteres Modell, um die Ausbildungszeiten zu verkürzen, sind die noch recht unbekannten Teilqualifizierungen. Dabei werden die Inhalte einer Berufsausbildung (z.B. Elektriker*in) in 5-7 Module (Teilqualifizierungen) unterteilt und können dann in einem Zeitraum von 3-4 Monaten absolviert werden. Schon nach dem ersten Modul kann der Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingen und es gibt die Option die weiteren 4-6 Module nach und nach zu absolvieren und im Anschluss zu einer sogenannten Externenprüfung bei der Handwerkskammer zugelassen zu werden, um einen vollwertigen Berufsabschluss zu erwerben (Arbeitgeberinitiative Teilqualifizierung, n.d.). Diese Thematik werden wir aber in einem separaten Artikel ausführlich behandeln. 

Interesse an anderen Berufen des Klimahandwerks 

Grundsätzlich besteht bei den Teilnehmenden auch ein Interesse an anderen Klimahandwerksberufen. 74 % könnten sich vorstellen an einem Wärmepumpen-Camp teilzunehmen. Ob ein solches Camp mit vergleichbarem finanziellem, personellem und zeitlichem Aufwand oder überhaupt umsetzbar wäre, kann das Organisationsteam des Solarcamps Freiburg aber nicht einschätzen.

Bereitschaft Teilnahme Waermepumpen Camp

Veränderung der Wahrnehmung des Handwerks durch das Solarcamp 

Nach Selbsteinschätzung der Teilnehmenden hat sich deren Einstellung zum Handwerk in den meisten Fällen verbessert. Auch dies ist erstaunlich, weil durch die Ausschreibung insbesondere Menschen angesprochen wurden, die schon ein Interesse und sehr wahrscheinlich eine positive Einstellung zum Handwerk hatten. Dass sich die Einstellung zum Handwerk dennoch weiter verbessert hat, hat sicher etwas mit dem direkten Kontakt zu den Ausbildern zu tun, die von den meisten Teilnehmenden als sehr freundlich und kompetent wahrgenommen worden sind. Außerdem spielt es in den meisten Fällen wahrscheinlich auch eine Rolle, dass die Teilnehmenden sich bewusst geworden sind, dass sie selbst die Fähigkeiten mitbringen, um im Handwerk (beruflich) aktiv zu werden.

Einstellung Handwerk Positiv Beeinflusst

Ambitionen für das Solarcamp 2024 

Neben vielen Dingen, die bei der ersten Freiburger Ausgabe gelungen sind, gibt es natürlich auch Aspekte, die bei folgenden Auflagen noch verbessert werden können. 

Die praktische Ausbildung wurde nur von Männern durchgeführt. Hier ist der Anspruch beim nächsten Camp zumindest eine Frau als praktische Ausbilderin zu gewinnen. Natürlich ist das kein Selbstläufer, weil die Zahl der Monteurinnen extrem gering ist. Nichtsdestotrotz lohnt es sich hier, extra viel Arbeit zu investieren, weil weibliche Vorbilder eine wichtige Rolle dabei spielen, den Schritt ins Handwerk als ganz natürliche und gewöhnliche Karriereoption für Frauen zu etablieren. 

Ziel ist es außerdem beim nächsten Mal mehr Schüler*innen zu erreichen. Da in der ersten Auflage alles sehr kurzfristig organisiert wurde, darunter auch die Ausschreibung, war es schwierig die Schüler*innen in den Abschlussjahren noch über ihre Lehrer*innen zu erreichen. Der Fokus wird auch beim nächsten Mal nicht ausschließlich auf dieser jungen Zielgruppe liegen, aber sie ist eine wertvolle Ergänzung und bietet für die Betriebe die attraktive Möglichkeit mögliche Kandidat*innen für freie Ausbildungsplätze kennenzulernen. 

Weitere Aktivitäten 

Auch ist das Solarcamp Freiburg 2023 ein Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. So hat das Organisationsteam beschlossen, sich auch weiterhin für soziale Gerechtigkeit und die Energiewende einzusetzen. Aktuell wird ein Projekt vorangetrieben bei dem in einem Freiburger Brennpunktviertel ein Gebäudekomplex komplett mit Balkon-PV-Anlagen ausgestattet werden soll. Dies wird für die Bewohnenden komplett kostenfrei geschehen. Ziel ist es, Menschen für die Energiewende zu begeistern und einkommensschwache Haushalte bei den Stromkosten zu entlasten. Schlüssel zum Erfolg bei diesem Projekt ist die gute und ausführliche Kommunikation mit den Bewohnenden im Vorfeld. Es soll niemandem etwas aufgedrückt werden, was sie oder er nicht will. Gleichzeitig wird mit der Aktion auch eine politische Botschaft verbunden: Die aktuelle Förderpraxis für Balkonkraftwerke in Freiburg geschieht mit der Gießkanne und berücksichtigt keinerlei soziale Kriterien. Hier wird die Gruppe um das Solarcamp Freiburg in Zukunft auch Vorschläge unterbreiten, wie die öffentlichen Mittel noch zielgerichteter eingesetzt werden können.

Weingarten

Dieses oder ein anderes Gebäude in Freiburg Weingarten könnte im Rahmen des Projekts komplett mit Balkon-PV ausgerüstet werden. Quelle: Solarcamp Freiburg 

Grenzen des Solarcamps 

Auch wenn das Solarcamp eine gute Möglichkeit ist, Menschen mit dem Handwerk in Berührung zu bringen, muss gleichzeitig konstatiert werden, dass die Attraktivität des Klimahandwerks allein durch das Camp nicht steigt. Die vielfältigen Probleme, die in den Betrieben und Gewerken des Klimahandwerks in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen (geringe Entlohnung, wenig Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, patriarchale Strukturen, schlechte Absicherung im Krankheitsfall, geringes Ansehen, körperlicher Verschleiß) werden durch das Solarcamp nicht verbessert (George, 2023). Hier bedarf es weitergehender Initiativen, die sich intensiv mit diesen Missständen auseinandersetzen und konkrete Lösungsansätze entwickeln. Gleichzeitig ist es möglich, dass durch das Solarcamp neue Zielgruppen ihren Weg nach und nach in das Klimahandwerk finden und es dadurch langfristig mitprägen und verändern. 

It’s a match 

Als Erfolg ist hervorzuheben, dass in einigen Fällen das Solarcamp Betrieb und Arbeitnehmer*in zusammengebracht hat. Nach aktueller Kenntnislage des Organisationsteams wurden im Nachgang des Solarcamps 5 Arbeitsverträge unterschrieben. Diese Zahl kann aber noch nach oben korrigiert werden: Ende des Jahres findet eine erneute Umfrage unter den Teilnehmenden statt, bei der auch spezifisch gefragt wird, ob inzwischen ein (Neben)Job in der PV-Branche begonnen wurde. Gleichzeitig kann auf diese Zahl aber auch kritisch geblickt werden. Denn unter den Teilnehmenden war der Wunsch, einen Neben- bzw. Hilfsjob in der PV-Montage nach dem Solarcamp aufzunehmen, besonders groß (67 %). Hier besteht also noch ein großes Passungsproblem zwischen Menschen auf der Arbeitnehmer*innenseite, die an zeitlich flexiblen Einsatzmöglichkeiten interessiert sind und Betrieben, die weiterhin vor allem nach Vollzeitkräften suchen. Wie hier in Zukunft eine bessere Passung erreicht werden kann, werden wir in einem dezidierten Projekt untersuchen. 

Nebenjob Als Monagehilfskraft

Podiumsdiskussion 

Zum Abschluss des Solarcamps wurde eine Podiumsdiskussion zwischen Vertreter*innen der Agentur für Arbeit, des Handwerks, der Politik und des Solarcamps organisiert. Dabei wurde vom Handwerk der Wunsch nach einem neuen Berufsbild (Solateur*in) geäußert, das Inhalte aus der Dachdecker*in- und der Elektriker*in-Ausbildung in sich vereint, dabei aber auf relevante Aspekte begrenzt und mit 2 Jahren deutlich kürzer ist als die Ausbildungsberufe, die heute für eine Tätigkeit in der PV-Installation vorbereiten.  

Auch wurde die Rolle der Politik thematisiert. Aus Sicht des Solarcamps es ist die Aufgabe der Politik eine langfristige Strategie zum Aufbau von Handwerkskapazitäten zu erarbeiten. Einzelne kleine Handwerksbetriebe sind nicht in der Lage diese Rolle zu übernehmen. Die Politik müsste hier aufgrund der eigenen Ziele im Bereich der energetischen Sanierung und des Ausbaus der Erneuerbaren Energien den Arbeitskräftebedarf prognostizieren und diesen mit dem voraussichtlichen Angebot vergleichen. Sollte es bei dieser Betrachtung zu einer Lücke kommen (was bei den meisten Kommunen der Fall sein dürfte) müssen Schritte eingeleitet werden, um die Ausbildungs- und Umschulungskapazitäten entsprechend zu erhöhen und durch geeignete Maßnahmen die Attraktivität des Handwerks so weit zu erhöhen, dass sich eine ausreichend große Zahl an Menschen für dieses Arbeitsfeld begeistert.

Podiumsdiskussion

Fazit 

Während bei den Teilnehmenden die selbstgesteckte FINTA*-Quote erfüllt wurde, sah es auf der Ausbilder*innen-Seite noch sehr unausgewogen aus. Im Camp 2023 haben nur männliche Ausbilder die praktischen Teile angeleitet. Da ist für nächstes Jahr noch Luft nach oben.  

Das Solarcamp hat über seine Durchführungszeit im August/September hinaus Wirksamkeit entfaltet, z.B. indem einzelne Teilnehmende bei den Partnerbetrieben einen Job gefunden haben. Die Missstände im Handwerk konnten durch das Solarcamp natürlich nicht behoben werden, noch wurde der Arbeitskräftemangel gelöst, aber und das ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt: Es wurden viele wertvolle Verbindungen zwischen ganz unterschiedlichen Netzwerkakteur*innen geknüpft, die sich nun bei der großen Aufgabe, die Arbeitsbedingungen im Handwerk attraktiver zu gestalten, gegenseitig unterstützen können. Sehr wichtig waren auch die Nachgespräche mit den lokalen Handwerksbetrieben. Diese waren insgesamt sehr zufrieden mit der Kooperation und sind bei der Ausgabe im nächsten Jahr gerne wieder mit dabei.

Gruppenfoto Woche 1

Transparenzhinweis: Der Autor hat selbst ehrenamtlich bei der Planung und Durchführung des Solarcamps Freiburg 2023 mitgewirkt. 

Gemeinschaftliche Eigenversorgung in Kundenanlagen und nach dem geplanten §42b Energiewirtschaftsgesetz

Diskussionsbeitrag von
Jörg Lange, Klimaschutz im Bundestag e.V. und
Fabian Sprenger, Vauban Hausverwaltung GmbH & Co. KG

im Dezember auch erschienen als Beitrag in VDIVaktuell 08/23, Seite 46 ff.

Die Abgabe bzw. der Verkauf von Strom im räumlichen Zusammen­hang (auch Mieterstrom genannt) ist aufgrund hoher bürokratischer Hürden noch immer sehr aufwändig und wird von Hausverwaltungen bis­lang kaum umgesetzt.

Im Folgenden wird die gelebte Praxis einiger gemeinschaftlicher Eigenstromkonzepte im Rahmen einer Kundenanlage verglichen mit der von der Bundesregierung vorgelegten Regelung des §42b im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) im Rahmen des Solarpaket I[1]. Am Ende bleiben einige Fragen zu den Regelungen im §42b EnWG aus Sicht der Autoren offen.

Als Kundenanlagen werden kundeneigene Energieanlagen be­zeich­net, die mittels einer Summenmessung an ein öffentliches Energienetz angeschlossen sind und der Abgabe von Energie an Letztverbraucher dienen (§ 3 Nr. 24a oder b EnWG) (vgl. Abbildung 1).

Ziel des neuen Modells nach §42b EnWG ist es, „dass Strom aus solarer Strahlungsenergie ohne großen Bürokratieaufwand von Ver­mieterinnen und Vermietern oder einem Dritten für die Mietparteien innerhalb eines Gebäudes bereitgestellt werden kann. Die Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen müssen sich dabei hinter dem­selben Netzverknüpfungspunkt befinden, das heißt, es darf keine Durch­leitung durch ein Netz erfolgen.

Bisher gelebte gemeinschaftliche Konzepte zur Nutzung von Strom im Rahmen einer Kundenanlage sollen mit dem §42b EnWG weder erschwert oder gar verhindert werden, so die Versicherung von Politik und Verwaltung. In der Begründung des Gesetzesentwurfs heißt es hierzu nur „Die Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung steht als eigen­ständiges Modell neben dem Mieterstrom gemäß § 42a EnWG.

Im Falle der Lieferung von Strom über das öffentliche Netz gilt die Rechts­lage bisher als eindeutig. Der Stromliefernde wird rechtlich zum Energieversorger (EVU) und hat eine Vielzahl an Pflichten zu erfüllen (z.B. Anmeldepflicht bei Übertragungsnetz­betreiber, Verteilnetzbe­treiber, BNetzA; Pflicht zu Vollstromliefer­verträgen; Stromkenn­zeichnung; jährliche Strom­mengen an Über­tragungs­netz­betreiber melden; Meldepflicht Mieter­stromzuschlag BNetzA; Mess­stellen­be­triebs­pflichten, Kunden­manage­ment­pflichten; Rechnungs­stellungs­pflichten; Stromsteuer­be­freiungen; …). Diese Pflichten können von einem „normalen“ Anlagenbetreiber (Privatpersonen, Industrie- und Handwerksbetrieb, Wohnungseigentümergemeinschaften) über die Hausverwaltung in den meisten Fällen nicht geleistet werden und erfordern einen entsprechend versierten Dienstleister.

1 Gelebte Praxis der gemeinschaftlichen Eigenversorgung in Kundenanlagen

Bei der Verteilung von Strom z.B. aus Solarstrom vom Dach eines Gebäudes oder des gemeinschaftlichen eingekauften Stroms aus dem öffentlichen Netz (Reststrom­bezug) innerhalb eines gebäude­eigenen Stromnetzes (Kundenanlage) gibt es bisher in der gelebten Praxis die rechtliche Auffassung, dass hierbei keine Stromlieferung vorliegt und die o.g. Pflichten damit wegfallen.

Denn viele der rechtlich mit einer Stromlieferung verbundenen bürokratischen Pflichten sind für die Nutzung und Verteilung von selbst erzeugtem Strom im Rahmen einer Kundenanlage aus ver­sorgungs­technischer Sicht nicht zu rechtfertigen und damit ent­behrlich. Die Stromerzeugung und -nutzung vor Ort könnte genauso betrachtet werden wie eine Energiesparmaßnahme, also z.B. wie die Investition in einen sparsameren Kühlschrank oder in eine LED-Beleuchtung. Auch diese werden ja bislang nicht mit Auflagen, wie z.B. Messeinrichtungen, belegt.

Konzepte und Vertragskonstellationen, die die Kosten aus einer ge­mein­schaftlich betriebenen Solaranlage und/oder gemeinschaftlich aus dem Netz bezogenen Reststrom z.B. über die Hausgeld­ab­rechnung auf die gemessenen Verbräuche der Allgemein- und Wohnungs­stromzähler umlegen, sind seit vielen Jahren gelebte Praxis. In einigen Vertragskonstellationen werden die Investitionskosten sowohl für PV als auch KWK-Anlagen in den Strompreis eingerechnet, ohne dafür eine gesetzliche Grundlage zu haben (Abbildung 2). Zu Beschwerden von Mietenden oder Eigentümer:innen ist es in dieser Zeit in den uns bekannten Fällen nie gekommen, da die Strompreise immer deutlich unter denen der Stromlieferanten bzw. eines Mieterstrommodells lagen.

Vdiv Zählerschema 01

Abbildung 1: Schema/Konzept zur gemeinschaftlichen Gebäude/Eigenversorgung ohne Durchleitung durch das öffentliche Stromnetz. In Kundenanlagen gelebte Praxis ist ein realer Summenzähler mit realen Unterzählern und der jährlichen Umlage von Kosten nach Stromverbrauch gemäß Ablesung Zähler (A-C).

Musterabrechnung

Abbildung 2: Musterabrechnung

2 Neuregelungen des §42b EnWG im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und weiterer energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften zur Steigerung des Ausbaus photovoltaischer Energieerzeugung

Unter der Überschrift „Gemeinschaftliche Ge­bäude­versorgung“ räumt der §42b EnWG Letztverbrauchern die Möglichkeit ein, z.B. Solar­strom der in, an oder auf demselben Gebäude produziert wird zu nutzen, wenn

  1. die Nutzung ohne Durchleitung durch ein Netz erfolgt,
  2. die Strombezugsmengen des Letztverbrauchers viertelstündlich gemessen werden und
    (vgl. Abbildung 3)
  3. er einen Gebäudestromnutzungsvertrag mit dem Betreiber der Gebäudestromanlage abschließt, in dem Betrieb, die Erhaltung und die Wartung der Gebäudestromanlage und der Aufteilungs­schlüssel des Stroms aus der Anlage geregelt werden. Letzterer muss dem Netzbetreiber mitgeteilt werden. Darüberhinaus sind Regelungen über die entgeltliche Gegenleistung für die Nutzung der elektrischen Energie durch den teilnehmenden Letztver­braucher und deren etwaige Höhe in Cent pro Kilowattstunde zu treffen. Die freie Lieferantenwahl darf in dem Gebäude­strom­nutzungs­vertrag nicht eingeschränkt werden.

Die Definition (§3 Nr. 20a EnWG) des im §42b EnWG neu eingeführten Begriffs der Gebäudestromanlage eine Erzeugungsanlage, die aus solarer Strahlungsenergie elektrische Energie erzeugt, die ganz oder teilweise im Rahmen eines Gebäudestrom­­nutzungs­vertrags durch die teilnehmenden Letztverbraucher gemäß § 42b Absatz 1 verbraucht wird“ schränkt dabei die Regelung auf Solarstrom ein.

Nach §42b Abs.6 EnWG kann der Gebäudestromnutzungsvertrag durch einen WEG-Beschluss ersetzt werden, wenn die WEG die Gebäudestromanlage betreibt.

Vdiv Zählerschema 02

Abbildung 3: Schema/Konzept zur gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung ohne Durchleitung durch das öffentliche Stromnetz nach § 42b EnWG. Dabei müssen die Zähler (A-C) intelligente Zähler sein, die für die Verteilung und Kostentragung eine Verrechnung von Viertelstundenwerten erlauben.

Aus Sicht der Autoren bleiben mit dem §42b EnWG folgende Fragen offen:

  • Welchen praktischen Fall genau will der §42b entbürokratisieren?
  • Wenngleich Politik und Verwaltung mit dem §42b EnWG bisher gelebte gemeinschaftliche Konzepte weder erschweren noch verhindern wollen bleibt die Frage, ob das zukünftige Rechtssprechung auch so bestätigt.
  • Die Nutzung virtueller Summenzähler wurde bereits im EnWG § 20 Absatz 1d Satz 2 ermöglicht, werden Sie mit dem §42b nun verbindlich vorgeschrieben und wenn ja für welche Konstellationen?
  • Kann die Regelung nach §42b unabhängig von einem EVU/Dienstleister z.B. durch eine Hausverwaltung umgesetzt werden? Wer nimmt die Saldierung der Zähler vor und wer sammelt die Daten der 15-minütigen Messung?
  • Im §42b (2) 2. ist über den Gebäudestromnutzungsvertrag eine Vereinbarung über entgeltliche Gegenleistung für die Nutzung der elektrischen Energie durch den teilnehmenden Letztver­braucher und deren etwaige Höhe in Cent pro Kilowattstunde zu treffen. Bedeutet dies, dass auch Investitionskosten für die PV-Stromanlage über diesen Vertrag umlegbar sind und wenn ja über welchen Abschreibungszeitraum?
  • Lässt sich das Modell nach §42b in Wohnungs­eigentümerge­mein­schaften aufgrund der beschränkten Vertragslaufzeit (2 Jahre) umsetzen? Ist das daraus entstehende wirtschaftliche Risiko für eine WEG tragbar?
  • Was genau meint §42b (3): „Die freie Lieferantenwahl darf in dem Gebäudestromnutzungsvertrag nicht eingeschränkt werden.“ Ist damit ein gemeinsamer Reststrombezug über den Gebäudestromnutzungsvertrag ausgeschlossen?
  • Wie kann ein WEG-Beschluss nach §42b (6) einen Vertrag zwischen der WEG als Betreiberin der Gebäudestromanlage und Mietern als Letztverbrauchern ersetzen? Wie sind die Mieter dabei einzubinden?
  • Lässt der §42b Raum für eine Entscheidung gegen das Gebäudestrommodell und den damit verbundenen Vorteilen (weniger Pflichten aus der Stromlieferung) gegenüber den Nachteilen (max. 2 Jahre Bindungsfrist)?

3 Vorschlag zu einer zusätzlichen einfachen Regelung über die Betriebskostenverordnung

Die Betriebskosten­verordnung sieht bisher die Umlagefähigkeit von Stromkosten (insbesondere für den Wohnungsstrom) bei gemein­schaftlichen Stromversorgungen nicht ausdrücklich im Katalog von § 2 BetrKV vor. Die Wohnungs­strom­kosten sind nur von Mietenden zu tragen, wenn dies ausdrücklich im Mietvertrag vereinbart ist.

Bisher sieht die Betriebskostenverordnung auch keine Umlage von Investitions- oder Instandhaltungskosten von Stromerzeugungs­anlagen innerhalb einer Kundenanlage vor. Derzeit können Vermietende die Investitionskosten in PV oder KWK-Anlagen gesetzes­­konform nur über eine Mieterhöhung nach §§ 555b, 559 BGB umlegen. Den Mietern würde dadurch der gemeinschaftlich von der Wohnungs­­eigentümer­ge­meinschaft (WEG) oder einem Wohnungs­unternehmen erzeugte Strom zu einem sehr reduzierten Preis berechnet werden müssen. Bei einer PV-Anlage fallen dann aus­schließ­lich die Kosten für Reinigung und Versicherung der PV als Be­triebs­­kosten an, die man in den Strompreis gegenüber den Mietenden aufnehmen könnte. Damit würde der Strom extrem günstig, bei einer 20 kWp-Anlage läge der Strompreis bei ca. 2-3 Ct pro kWh. Dadurch würden Fehlanreize für den Stromverbrauch gesetzt. Zudem wird die Belastung der Mietenden mit den Stromge­stehungs­kosten im Wesentlichen nicht mehr vom Stromverbrauch, sondern über die Miet­erhöhung von der Größe der Wohnung abhängig sein. Mietende mit hohem Stromverbrauch und kleinen Wohnungen werden so von Mietenden mit geringem Stromverbrauch und großen Wohnungen „subventioniert“. Dieses Gerechtigkeitsproblem und das Problem des Fehlanreizes durch den sehr günstigen Strompreis besteht genauso bei selbstnutzenden Eigentümern.

Diese theoretische Möglichkeit der „Umlage“ von Stromer­zeugungs­kosten über eine Mieterhöhung findet damit auch in der Praxis soweit uns bekannt bislang keine Anwendung.

Eine Lösung besteht darin, in der Betriebskostenverordnung eine ge­setzliche Möglichkeit zu schaffen, die Investitions- und Reparatur­kosten für die gemeinschaftliche Eigenstromerzeugungsanlage einer WEG in den Strompreis einzurechnen und über die Betriebskosten abrechnen zu können. Bei einem Strom- oder Wärmecontracting werden diese Kosten auch vom Contractor eingepreist. Auch bei Nah- oder Fern­wärme­lieferungen werden selbstver­ständlich die In­vestitions­kosten des Lieferanten eingepreist, die Kosten sind inner­halb der Betriebs­kosten auch umlegbar.

Der Unterschied liegt allein darin, dass die Investitions- und Re­paratur­kosten nicht bei der WEG, sondern bei einem externen Dritten entstehen, von diesem eingepreist und in Rechnung gestellt werden und sich daraus eine Umlegbarkeit auf die Betriebskosten ergibt.

Contracting-Modelle sind aber für Mietende und selbstnutzende Eigentümer:innen deutlich teurer als die Investition und der Betrieb durch z.B. eine WEG. Die WEG hat keine Gewinnerzielungsabsicht und legt allein die tatsächlich anfallenden Kosten um. Die Gewinnmarge des Contractors oder des externen Lieferanten entfällt.

Sinnvoll wäre es z.B., die Investitionskosten für eine PV-Anlage über 20 Jahre verteilt in die Stromkosten aufnehmen zu können. Eine KWK-Anlage hat in der Regel eine kürzere Nutzungsdauer, hierfür sollte ein entsprechend kürzerer Zeitraum für die Refinanzierung der Investitionskosten möglich sein. Auch sollten für diese Anlagen die Kosten eines Vollwartungsvertrags in den Strompreis eingerechnet werden können.

Eine Gefahr, dass z.B. eine WEG den Mietenden zu hohe Strompreise in Rechnung stellt, sehen wir nicht. Es geht nur um die Verteilung von tatsächlich entstandenen Kosten für Erzeugungsanlagen innerhalb der Kundenanlage und dem Bezug von Reststrom.

Das grundlegende Recht für jeden Endverbrauchenden/Mietenden, den Stromanbieter frei zu wählen, bleibt davon unberührt und hält die WEG davon ab, unwirtschaftlich zu handeln und zu hohe Kosten zu verursachen. In Kundenanlagen wäre aus Sicht der Autoren somit eine Regelung über die Verteilung von Strom und deren Kosten über die Betriebs­kosten­­ver­ordnung eine einfache und transparente Lösung.


[1] Gesetz zur Steigerung des Ausbaus photovoltaischer Energie­erzeugung (https://dserver.bundestag.de/btd/20/086/2008657.pdf)

Arbeit und Transformation, Teil 3: Wie machen wir das Handwerk wieder attraktiv?

Mit ca. 1 Million Betrieben, über 5,5 Millionen Beschäftigten, ca. 360.000 Auszubildenden und einem Jahresumsatz von 739 Milliarden Euro versteht sich das Handwerk zurecht als Wirtschaftsmacht von nebenan (ZDH, 2023). Trotz dieser beeindruckenden Zahlen steht das Handwerk vor vielfältigen Herausforderungen. Das wahrscheinlich gravierendste Problem ist der grassierende Arbeits- und Fachkräftemangel. Verschaffen Sie sich in unserem Artikel “Zahlen, Zahlen, Zahlen – Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich?” einen genauen Überblick über die aktuelle Situation. Im Folgenden präsentieren wir zunächst problematische Rahmenbedingungen, Probleme und Defizite im Handwerk und diskutieren anschließend mögliche Lösungsansätze. 

Fortschreitende Akademisierung erodiert die Nachwuchsbasis 

Der Trend zum Studium in Deutschland ist ungebrochen. Aktuell sind 2,9 Millionen Menschen in Deutschland an einer Hochschule immatrikuliert, während sich nur 1,2 Millionen in einer Ausbildung befinden. Die Verhältnisse haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Auf der Grafik sieht man, dass sich noch vor ca. 20 Jahren die beiden Lager bei 1,7 Millionen Personen in etwa die Waage gehalten haben. Seitdem ist die Zahl der Auszubildenden stetig gesunken und die der Studierenden stetig gewachsen. 

Entwicklung Der Studierenden Vs Auszubildenden

Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Destatis, 2023BIBB Bildungsbericht, 2006; Statista, 2023

Dafür verantwortlich ist u.a. die Abiturquote von 48,4 %. Im historischen Vergleich ist sie hoch, in den letzten 10 Jahren ist sie jedoch nicht mehr merklich gestiegen, sondern oszilliert um 50 % (Destatis, 2022, S. 113). Die Abschaffung der Hauptschule in vielen Bundesländern hat ebenfalls dafür gesorgt, dass die angestammte Basis für den Handwerknachwuchs geschrumpft ist. Mit Blick auf das deutsche Schulsystem gab Hampel schon 2003 zu bedenken:  

“Das dreigliedrige Schulsystem führt zu einer „Versäulung“ beruflicher Erwartungen. Das Handwerk sei, so der Tenor an Realschulen und Gymnasien, etwas für Hauptschüler. Diese Segregation der Berufserwartungen führt dazu, dass selbst Hauptschüler, die an einer Werkrealschule die Mittlere Reife anstreben, vom Handwerk kaum noch gewonnen werden können. Diese fixe Verknüpfung von schulischer und beruflicher Ausbildung wird der Differenziertheit des Arbeitsmarkts kaum noch gerecht. Aus arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten wäre zu überlegen, ob ein hierarchisches Schulsystem, das einseitig kognitive Fähigkeiten entwickelt, dem differenzierteren Arbeitskräftebedarf der Zukunft gerecht wird” (Hampel, et al., 2003, S. 47) 

Und obwohl sich das Handwerk zu großen Teilen aus den eigenen Reihen rekrutiert (der Wunsch eine Ausbildung im Handwerk zu beginnen korreliert stark mit Eltern, die selbst im Handwerk arbeiten) ist auch dieser Mechanismus nicht mehr intakt. Nur 46 % der Handwerker würden den eigenen Kindern empfehlen selbst eine Karriere im Handwerk zu verfolgen (Hampel, et al., 2003, S. 32). An diese Stelle ist in vielen Fällen der Satz getreten “Du sollst es mal besser haben” und drückt aus, dass das Angebot aus Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Ansehen und gesundheitlichen Faktoren nicht mehr als erstrebenswert angesehen wird.  

Eine Ausbildung im Handwerk ist keine Garantie für eine Beschäftigung im Handwerk 

Traditionell bildet das Handwerk über den eigenen Bedarf aus. Und es gab Zeiten, in denen es für die Beschäftigten ein Segen war, dass die Industrie eine Alternative darstellt. In der Zeit von 1995 bis 2005 gab es für Handwerksaufträge eine extrem schwache Konjunktur. In dieser Handwerkskrise haben 1,4 Millionen Menschen das Handwerk verlassen und sind größtenteils im Facility Management (Dienstleistungssektor) oder in der Industrie untergekommen (Haverkamp/Gelzer, 2016, S. 10). Der Markt hat sich aber längst gedreht und das Handwerk ächzt unter der großen Zahl von gut ausgebildeten Fachkräften, die den eigenen Sektor verlässt. Auf der Grafik ist zu sehen, dass 2012 nur 36,5 % der Menschen, die im Handwerk eine Ausbildung absolviert haben, auch tatsächlich im Handwerk arbeiteten.

Prozent Arbeiten Im Handwerk Die Darin Ausgebildet Wurden

Quelle: Haverkamp, 2016, S. 11

Die Gründe sind vielfältig, aber ein ganz entscheidender Faktor sind die Lohnunterschiede zwischen dem Handwerk und der Industrie. Facharbeiter*innen können mit einem Wechsel in die Industrie im Schnitt mit einem 1.000 Euro höheren Gehalt (brutto) rechnen (Frankfurter Rundschau, 2019). 

Für viele Abiturient*innen, die eine Lehre im Handwerk absolvieren, ist es oftmals auch nur eine Durchgangsstation. Die Idee durch ein Studium ein höheres Prestige zu erlangen und mehr Geld zu verdienen, ist auch nicht unbegründet. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ergeben, dass das akkumulierte Lebensarbeitseinkommen nach Abschluss stark differiert. Es ist ersichtlich, dass das Lebensentgelt durch ein Studium im Vergleich zu einer Berufsausbildung um 830.000 Euro steigt. Richtig ist aber ebenfalls, dass eine Aufstiegsfortbildung (Techniker*in, Meister*in) ebenfalls zu deutlich höheren Entgelten führt (Stüber, 2022, S. 5). 

Durchschnittliche Brutto Lebensentgelte Nach Abschluss

Quelle: Stüber, 2022, S. 5 

Handwerker*innen werden mit ihren gesundheitlichen Risiken allein gelassen 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Arbeit im Handwerk mitunter körperlich sehr anstrengend ist. Dagegen spricht grundsätzlich auch nichts und übt auf viele Menschen sogar einen gewissen Reiz aus. Diskussionswürdig wird es erst, wenn Belastungen zu gesundheitlichen Problemen führen. Ein Blick auf die Empirie zeigt, dass es in viele Berufen systematisch zu Überbelastungen kommt. In akademischen Berufen, die größtenteils im Sitzen und im Büro ausgeübt werden, ist der Anteil derer, die aufgrund gesundheitlicher Probleme frühzeitig in den Ruhestand gehen, sehr gering. In der Tabelle ist ersichtlich, dass Physiker*innen z.B. nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 3,62 % eine Erwerbsminderungsrente beziehen.

Liste Der Ungefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Ungefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011

Ganz anders sieht es bei den Gerüstbauer*innen aus. Hier ist es mit einer Erwerbsunfähigkeitsrate von 52,18 % sogar eher die Ausnahme als die Regel, dass ein Beschäftigter den Beruf bis ins Rentenalter ausüben kann. Auch bei den Dachdecker*innen, Estrichleger*innen, Fliesenleger*innen, Zimmerer*innen und den Maurer*innen ist die Lage prekär. 

Liste Der Gefaehrlichsten Berufe

Quelle: Darstellung Statista “Gefährlichste Berufe”, Daten: map-report 781-783, 2011 

Diese systematische körperliche Überlastung wirkt auch abschreckend auf junge Menschen, die sich mit ihren Zukunftsoptionen auseinandersetzen. In einer Studie aus dem Jahr 2003 gaben viele Auszubildende im Handwerk an, dass ihnen der Blick in die Zukunft Sorge bereite, weil sie nicht wüssten, ob sie in der Lage wären, den angestrebten Beruf bis zur Rente ausüben zu können (Hampel et al., 2003, S. 40). 

Ein Grund für den körperlichen Verschleiß sind die Zwangshaltungen, in denen Handwerker*innen je nach Gewerk einen nennenswerten Teil ihrer Arbeitszeit verharren. Die Abbildung zeigt, dass Maurer*innen im Akkord bis zu 40 % ihrer Arbeitszeit in einer solchen Zwangshaltung verbringen. Es handelt sich hierbei um Durchschnittswerte. Je nachdem wie der Arbeit auf der Baustelle organisiert ist, können die tatsächlichen Werte auch stark nach oben oder unten abweichen (Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150).

Arbeiten In Zwangshaltungen

Quelle: Handwerkskammer Hamburg, 2001, S. 150 

Im Fall der Erwerbsunfähigkeit geht es um die Existenz 

Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit gerät oftmals nicht nur das Selbstbild ins Wanken, sondern ebenso die ökonomische Existenz. Hier zeigt sich die Unfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme, aber auch der Entlohnungsmechanismen, faire Bedingungen für Menschen zu schaffen, die mit der Ausübung ihres Berufs erhebliche Risiken eingehen. Im Fall einer Erwerbsunfähigkeit springt die staatliche Erwerbsminderungsrente ein. Diese zahlt bis zu 1/3 des letzten Bruttogehalts (LWK Niedersachsen, n.d.). Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente hat nur, wer aus gesundheitlichen Gründen nicht länger als 3 Stunden pro Tag arbeiten kann und zwar nicht nur in dem angestammten Beruf, sondern generell (Deutsche Rentenversicherung, n.d.). In den meisten Fällen ist das nicht gegeben und es kommt zu Abschlägen. Auf der Abbildung sind die Höhen der neu eingetretenen Erwerbminderungsrenten zu sehen. Mit einer durchschnittlichen Höhe von 972 Euro (Männer/West) wird schnell klar, dass die meisten Betroffenen auf das Existenzminimum abrutschen. Mit diesem Betrag ist die Erwerbsminderungsrente zwar nominal höher als das Bürgergeld, aber im Fall des Bürgergeldes werden vom Amt die Kosten für eine angemessene Wohnung übernommen (IAQ, 2022). In Dortmund gilt eine Wohnung mit einer Bruttokaltmiete bis 510 Euro als angemessen (Berliner Morgenpost, 2023). Unter Berücksichtigung dieser Kostenübernahme ist der Unterschied zwischen Bürgergeld und Erwerbsminderungsrente verschwindend gering. 

Durchschnittliche Hoehe Der Erwerbsminderungsrente

Quelle: Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, 2021 

Teilweise ereilt die Betroffenen zusätzlich der Vorwurf, sie hätten nicht ausreichend privat vorgesorgt und seien somit selbst schuld an der Situation. Die Realität ist jedoch, dass es in den oben genannten Risikoberufen schlicht nicht möglich ist, eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen, weil die Prämien im Vergleich zu den gezahlten Löhnen exorbitant hoch sind. 

“Ein kleines Beispiel: Der Versicherungsmakler Matthias Helberg hat errechnet, dass ein Gerüstbauer, der dreißig Jahre alt und kerngesund ist, für seine Berufsunfähigkeitsversicherung zwischen 162 und 417 Euro zahlen müsste. Dachdecker, Maurer und andere Handwerker müssten ähnlich viel Geld auf den Tisch legen. Zum Vergleich: Architekten und Apotheker zahlen im selben Alter und bei gleicher Gesundheit zwischen 33 und 143 Euro” (Nievelstein, 2019). Für diese Berufsgruppen hat die Versicherungsbranche neue Produkte geschaffen, die menschliche Grundfähigkeiten, wie “laufen”, “stehen”, “sehen” versichern. Das klingt erstmal vielversprechend. Jedoch muss auch hier beachtet werden, dass der Versicherungsschutz erst greift, wenn die Person eine solche Grundfunktion gänzlich verloren hat. Selbst nach schweren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sind nach Versicherungsmaßstäben die Grundfunktionen noch partiell erhalten. Gleichzeitig ist an die Ausübung des Berufs aber nicht mehr zu denken. Diese Versicherungsprodukte hören sich in der Theorie also gut an, haben aber in der Praxis aber kaum Relevanz. 

Auch innerhalb des Handwerks bleibt die offene Auseinandersetzung über die gesundheitlichen Risiken die Ausnahme: “Eine proaktive Bearbeitung wird aber nicht angestoßen. Der körperliche Verschleiß ist ein normales und normalisierendes Element der Berufsbiografie, welches einen Exit vor der Regelaltersrente wahrscheinlich macht. Dies verweist auch darauf, dass es i. d. R. nicht zu einer präventiven Bearbeitung kommt – weder individuell noch in den Betrieben” (Blasczyk, 2018). 

Mehr als jeder 4. Ausbildungsvertrag wird aufgelöst 

Ein weiteres Problem ist die Rate der Ausbildungsabbrüche, die seit Jahren auf einem hohen Niveau stagniert. 2019 wurden in Deutschland 26,3 % aller Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst (SWR, 2023). Die Gründe dafür sind sehr vielfältig: finanzielle Gründe (hohe Opportunitätskosten: geringer Ausbildungslohn vs. reguläre Vergütung für ungelernte Kräfte), Probleme mit der Ausbilderin/dem Ausbilder, ausbildungsfremde Tätigkeiten, ungünstige Arbeitszeiten, Überforderung im schulischen Bereich, patriarchale Strukturen in männerdominierten Berufen und geringe Beschäftigungsaussichten (Westdeutscher Handwerkskammertag, 2000; Bessey/Backes-Gellner, 2008). Seit über 20 Jahren wurden in diesem Bereich keine substanziellen Fortschritte gemacht – zumindest nicht in einem Umfang, der die Abbruchquoten deutlich reduziert hätte. 

Wie kann das Handwerk wieder attraktiver werden? Flexible Arbeitszeiten als Lösungsbaustein 

Der Fachkräftemangel hat das Handwerk fest im Griff. Es gibt aber Betriebe, die davon nicht betroffen sind. In einer ZDF-Dokumentation wird die Geschichte einer Malermeisterin präsentiert, die durch den Fachkräftemangel in ihrer Existenz ernsthaft bedroht war. Monatelang blieben ihre Anstrengungen, neue Mitarbeitende zu gewinnen, erfolglos, bis sich dazu entschieden hat, über die Sozialen Medien flexible Arbeitszeiten und eine 4-Tage-Woche anzubieten. Dies bescherte ihr innerhalb von 3 Wochen 50 Bewerbungen. Ein Mitarbeiter bringt die Attraktivität schnell auf den Punkt: Seinen Sohn müsse er jeden Morgen in die Kita bringen. Bei einem strikten Arbeitsanfang um 7 Uhr wie bei seinen vorherigen Arbeitgebern schlicht nicht möglich. In dem aktuellen flexiblen Arbeitszeitmodell hingegen schon (ZDF, 2023). Eine solche Flexibilisierung würde neue Zielgruppen für das Handwerk mobilisieren. Es gibt viele Frauen, für die nur ein Teilzeitmodell in Frage kommt. Fehlt ein solches in den Gewerken, geht ein großer Teil an potenziellen Mitarbeitenden von vornherein verloren. Und auch generell gibt es den Wunsch die Wochenarbeitszeit eher an 32 Stunden auszurichten als an 40 (IWD, 2023). Ein Wunsch, der in einem Bürojob eher erfüllt wird als auf der Baustelle. 

Wir wollen hier keine Augenwischerei betreiben: In dem Büro ist es einfacher auf die Arbeitszeitwünsche der Mitarbeitenden einzugehen. Auf der Baustelle braucht es für viele Tätigkeiten ein Team, das gewisse Fähigkeiten, Erfahrungen und Qualifizierungen mitbringt. Um das sicherzustellen, braucht es also wiederum Arbeit in Form von Koordination. Diese Mehrarbeit kann sich aber lohnen, wenn dafür neue motivierte Mitarbeitende gewonnen und alte erfahrene gehalten werden können. Darüber hinaus kann der Aufwand durch den richtigen Einsatz von digitalen Hilfsmitteln möglichst gering gehalten werden.  

Körperliche Arbeit? Unbedingt! Aber in einem gesunden Maß 

Sich im Beruf physisch zu betätigen ist für viele zunächst einmal ein Attraktivitätsfaktor, solange die physische Arbeit keine Überlastung für den Körper darstellt. Um die körperliche Arbeit in einem gesunden Maß zu halten, sind verschiedene Lösungsansätze denkbar: 

Die Frage, welche Aufträge angenommen werden und in welcher Reihenfolge, sollte neben ökonomischen Überlegungen auch ergonomische beachten. Wenn z.B. bekannt ist, dass Großbaustellen für Mitarbeitenden im Malerbereich besonders anstrengend sind, weil es auch das Streichen von großen Deckenbereichen (das Deckenstreichen ist mit einer Zwangshaltung des Nackens verbunden) mit einschließt, könnte es sinnvoll sein nach einer intensiven Phase mit einer Großbaustelle, Aufträge abzuarbeiten, die aus dem kleinteiligen privaten Bereich kommen, die körperlich weniger intensiv und in der Regel abwechslungsreicher sind (Blasczyk, 2018). 

Auch sollte darauf geachtet werden, dass Arbeiten, die eine Zwangshaltung erfordern, möglichst gut unter den Beschäftigen aufgeteilt werden. Heute dominiert der Gedanke, dass die Person, die die Aufgabe in Zwangshaltung am besten kann, komplett übernimmt. Aus einer kurzfristigen Perspektive erscheint das für den Betrieb auch sinnvoll, weil er Arbeitszeit spart. Auf lange Sicht kann eine solche Einstellung aber zu hohen Kosten führen, wenn Berufskrankheiten oder Krankenstand die Folge sind.

Mit dem Handwerk in Berührung kommen – Durch Solarcamps 

Bei einem Solarcamp kommen Quereinsteiger*innen und junge Menschen ganz niedrigschwellig mit dem Handwerk in Berührung. Ziel ist es die Teilnehmenden an die Aufdach-PV-Montage heranzuführen inklusive der elektrotechnischen Sicherheitsschulung und dem Kennenlernen der dazugehörigen Werkzeuge (Schlagbohrer, Flex, Fuchsschwanz, Kreissäge, etc.). In der ersten Woche werden diese theoretischen und praktischen Kenntnisse innerhalb des Solarcamps mit Hilfe von Übungsdächern vermittelt. Die praktische Schulung übernehmen erfahrene Handwerksbetriebe. In der zweiten Woche haben die Teilnehmenden dann die Chance, die erlernten Kenntnisse direkt auf der Baustelle bei kooperierenden Handwerksbetrieben anzuwenden. Diese Exposition gibt die Möglichkeit, die eigenen handwerklichen Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Aus Untersuchungen wissen wir, dass eine positive Selbsteinschätzung der eigenen handwerklichen Fähigkeiten einer der stärksten Prädikatoren für eine Karriere im Handwerk ist (Mischler, 2017). Die Ergebnisse des Solarcamps in Freiburg sind vielversprechend: Es wurden direkt im Nachgang einige Arbeitsverträge zwischen den Teilnehmenden und den Handwerksbetrieben geschlossen. In Kürze wird hier eine dezidierte Analyse über das Solarcamp Freiburg 2023 verlinkt werden. 
Transparenzhinweis: Der Autor hat an der Organisation des Solarcamp Freiburg 2023 ehrenamtlich mitgewirkt. 

Die Finanzen müssen stimmen – dazu gehört auch die Absicherung 

Wie eingangs erwähnt, gibt es zwischen vergleichbaren Tätigkeiten im Handwerk und in der Industrie gewaltige Lohnunterschiede: So gibt es für die gleiche Qualifikation in der Industrie im Schnitt 1.000 Euro mehr. Diese Schieflage muss dringend abgebaut werden. Zunächst um die Flucht aus dem Handwerk einzudämmen, perspektivisch aber auch um einen attraktiven Übergang von vom Strukturwandel betroffenen Industrien zu ermöglichen. Allein in der Automobilindustrie drohen 300.000 Arbeitsplätze bis 2040 wegzufallen (BMWK, 2020). Ein Weg zu besseren Löhnen sind flächendeckende Tarifverträge. In einer Analyse zeigt die IG Metall, dass im Kfz-Handwerk die Löhne in tarifgebundenen Betrieben im Schnitt 533 Euro höher sind als in nicht tarifgebundenen (IG Metall, 2023). Damit würde auch ein Lohndumping unterbunden werden und Betriebe müssten keine Angst haben, dass sie durch attraktive Gehälter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Dies wird keine leichte Aufgabe sein – gerade in kultureller Hinsicht, weil viele Betriebsinhaber*innen immer noch der Meinung sind, alles könne informell und familiär geregelt werden und sie noch “jeden Gewerkschafter” vom Hof gejagt haben. Hier bedarf es einer sensiblen, aber dennoch zielgerichteten Bemühung der Gewerkschaften, um bei den Betrieben Vertrauen aufzubauen und letzten Endes wirksame Tarifverträge mit den Innungen abzuschließen. 

Auch müssen wir jetzt ehrlich darüber reden, dass ein Job auf der Baustelle nicht genauso lange ausgeübt werden kann wie ein Bürojob. Dies muss sich auch in den Bedingungen der Rentenversicherung widerspiegeln. Aktuell gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz, sprich die Rentenversicherung ist blind gegenüber der ausgeübten Tätigkeit. Das Einzige, was interessiert, sind die Beitragsjahre und der durchschnittliche Bruttolohn. In der aktuellen Interpretation macht der Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch eine Sache falsch: Büro- und Baustellenarbeit sind nicht das gleiche und sollten daher auch nicht gleich behandelt werden. Eine Lösungsmöglichkeit wäre ein Gewichtungsfaktor von z.B. 1.25 für jedes Beitragsjahr, das auf der Baustelle erbracht wird. Dann könnten Handwerker*innen in diesem Bereich bereits nach 36 Jahren mit vollen Ansprüchen in die Rente gehen anstatt nach 45. 

Des Weiteren muss sich die Absicherung im Fall einer Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit deutlich verbessern. Handwerker*innen setzen sich tagtäglich besonderen körperlichen Herausforderungen und Risiken aus und werden im Unfall- oder Krankheitsfall von der Gesellschaft im Stich gelassen, wie oben anhand der verschwindend geringen Höhen der Erwerbsminderungsrenten gezeigt wurde. Hier müssen Lösungen gefunden werden wie z.B. eine staatliche Berufsunfähigkeitsversicherung, die honoriert, dass sich Menschen für eine gesellschaftliche relevante aber auch (empirische belegt) risikobehaftete Arbeit entschieden haben.

Vom Büro auf die Baustelle 

Vom Strukturwandel sind nicht nur Industriezweige betroffen, sondern zunehmend auch der Dienstleistungssektor. Ursächlich hierfür sind vor allem die rasanten Fortschritte im Bereich der Generativen Künstlichen Intelligenz (GKI), z.B. bekannt geworden in der Anwendung “ChatGPT” von Open AI. Im Gegensatz zu früheren Formen der Automatisierung sind die Programme heutzutage in der Lage natürliche Sprache sehr gut zu verstehen und können darüber hinaus Sprache erzeugen – und das auf einem sehr hohen Niveau. Es gibt Untersuchungen aus den USA, die zu dem Schluss kommen, dass in den nächsten Jahren 7 % der Arbeitsplätze durch GKI ersetzt werden könnten (Briggs/Kodnani, 2023). Davon werden vor allem Tätigkeitsfelder betroffen sind, bei denen die Verarbeitung und die Erzeugung von natürlicher Sprache einen großen Teil der Arbeit ausmachen, wie z.B. in der Verwaltung, in Kanzleien (Rechtsanwaltsgehilf*innen), in Callcentern und im Marketing. Darüber hinaus kommt es in vielen Fällen nicht zu einer kompletten Ersetzung der Arbeitskraft, sondern teilweise zu einer deutlich erhöhten Produktivität. Aber auch diese wird sich gesamtwirtschaftlich betrachtet früher oder später in Form von Arbeitsplatzabbau äußern. Auf der folgenden Grafik sind auf der X-Achse Berufsfelder nach ihrem Substitutionspotenzial durch GKI angeordnet und auf der Y-Achse der Prozentanteil an Tätigkeiten, der durch GKI übernommen werden kann. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass 30 % der heutigen Arbeit potenziell von GKI übernommen werden könnte. 

Workshare Substituable By Gai

Quelle: Briggs/Kodnani, Goldman Sachs, 2023, S. 6 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie dieses potenzielle Arbeitskräfteangebot für das Handwerk gewonnen werden kann. Keine leichte Aufgabe, denn unsere Gesellschaft (inklusive der Behörden) kennen und unterstützen bislang nur den umgekehrten Weg, sprich von der Baustelle ins Büro. Kosten für eine Umschulung werden nämlich nur übernommen, wenn der Beruf aufgrund von Krankheit oder körperlichen Einschränkungen nicht mehr ausgeübt werden kann. Wenn man sich heutzutage auf den (digitalen) Strukturwandel vorbereiten und z.B. auf die eigene kaufmännische Ausbildung eine handwerkliche obendrauf setzen möchte, werden die Kosten für diese Maßnahme von der Agentur für Arbeit nicht übernommen. Hier müsste ein neues Rollverständnis für die Agentur für Arbeit greifen: Weg von der Verwalterin, die sich um Menschen kümmert bzw. diese vermittelt, sobald sie in Arbeitslosigkeit gefallen sind, hin zu Gestalterin, die sich proaktiv darum bemüht, dass Beschäftigte in strukturgefährdeten Sektoren frühzeitig eine Umschulung im handwerklichen Bereich beginnen und damit ein zweites Standbein und eine gewisse Resilienz aufbauen. Das würde wesentlich zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen. Wenn nämlich technologische Umbrüche potenziell zu einem Arbeitsplatzverlust ohne Perspektive führen, schürt das Ängste, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv gefährden.  

Kombinierte Arbeit und altersgerechte Arbeitsmodelle 

Heute gilt auf dem Arbeitsmarkt das Dogma: Büro oder Baustelle. Die Kombination Büro und Baustelle findet heute weder in der Praxis noch in der Debatte Beachtung, obwohl beide Prägungen in ihrer Reinform erhebliche gesundheitliche Risiken mit sich bringen. In einer groß angelegten US-amerikanischen Studie wurde für Männer, die täglich mehr als 6 Stunden sitzen ein 20 % erhöhtes Sterberisiko observiert (Patel, 2010). Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schäden am Bewegungsapparat, aber auch psychische Verstimmungen werden durch langes Sitzen begünstigt (MDR, 2022). Die gesundheitlichen Risiken durch zu viel körperliche Arbeit wurden weiter oben erörtert. Ideal wären daher Arbeitsverhältnisse, die körperliche und kognitive Betätigungen kombinieren. Da dies innerhalb eines Betriebs nicht immer ermöglicht werden kann, sollte vermehrt über betriebsübergreifende Kooperationen nachgedacht werden, die eine Kombination aus körperlicher und geistiger Arbeit ermöglichen. Perspektivisch würde dies auch erlauben, dass der Anteil an körperlicher Arbeit an die Leistungsfähigkeit des Angestellten angepasst ist und sich mit zunehmendem Alter verschiebt. Um diesen Gedanken frühzeitig gerade im akademischen Umfeld zu setzen, sollten Handwerksbetriebe vermehrt auf Universitäten und Fachhochschulen zugehen und dort zumindest Nebenjobs anbieten. Laut der 22. Sozialerhebung gehen 63 % der Studierenden einer Erwerbstätigkeit mit durchschnittlich 15,1 Stunden pro Woche nach (Kroher et al., 2023). Das macht bei 2,9 Millionen eingeschriebenen Studierenden ein Potenzial von 689.000 Vollzeitäquivalenten (VZÄ). Auf der Abbildung ist zu sehen, nach welchen Kriterien der wöchentliche Erwerbsaufwand variiert.

Erwerbsaufwand Der Studierenden In Sektoren

Quelle: 22. Sozialerhebung, Kroher et al., 2023, S. 90 

689.000 VZÄ sind ein nicht zu vernachlässigender produktiver Input, bei dem aber eingeschränkt werden muss, dass dieser vor allem in Ballungszentren zur Verfügung steht und natürlich auch zu einem großen Anteil von den Hochschulen selbst in Anspruch genommen wird. Neben einer besseren Verteilung der physischen Arbeit hätten kombinierte Arbeitsverhältnisse auch den Vorteil, dass die Anerkennung von handwerklichen Berufen steigt. Wer selbst einmal bei 40 Grad ein Dach eingedeckt oder eine PV-Anlage installiert hat, wird auf Handwerk*innen nicht mehr herab, sondern viel eher zu ihnen heraufschauen. 

Insbesondere für ältere Arbeitnehmer*innen im handwerklichen Bereich sollten Teilzeitmodelle ein selbstverständliches Angebot werden (Buschfeld, 2013, S. 142). Dies erlaubt die Leistungsreserven optimal zu nutzen und ein frühzeitiges Ausscheiden in den Ruhestand zu verhindern. Auch sollte vermehrt darüber nachgedacht werden, Tandems aus älteren und jüngeren Mitarbeiter*innen zu bilden. Dies würde erlauben, dass der junge Mitarbeiter tendenziell die körperlich anstrengenden Tätigkeiten übernimmt, während die ältere Mitarbeiterin ihren Erfahrungsschatz an die nächste Generation vermitteln kann (Naegele/Frerichs, 2018). 

Fazit 

Die hier präsentierten Ansätze zur Abmilderung des Arbeitskräftemangels im Handwerk nehmen für sich nicht in Anspruch eine spruchreife Lösung für dieses äußerst komplexe und zentrale Problem zu sein. Vielmehr sollen sie Ausgangspunkte für weitere Diskussionen sein. Insbesondere sind die Ansprüche, Gegebenheiten und Zukunftsperspektiven in den einzelnen Gewerken hoch unterschiedlich. Hier bedarf es also auch eines intensiven Austauschs mit den entsprechenden Praktiker*innen (auf Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite), um zu guten, nachhaltigen und praxisnahen Lösungen zu kommen. Eines steht fest: Wir müssen jetzt an einen Tisch kommen, um das Handwerk auch für bislang atypische Zielgruppen attraktiv zu machen. Denn bis 2035 könnten bis zu 770.000 Beschäftigte in den klimarelevanten Gewerken fehlen (Blazejczak/Edler, 2021). Wenn wir es nicht schaffen, diese Fachkräftelücke sukzessive zu schließen, werden wir unsere Klimaschutzziele mit Gewissheit verfehlen (BMWK, 2022). Entscheidend wird dabei sein, dass nicht wie in den vergangenen 20 Jahren nur mit leeren Worthülsen um sich geschmissen wird. Denn wenn wir tatsächlich Menschen vom Büro auf die Baustelle locken wollen, müssen sich die Bedingungen und das Ansehen dieser Arbeit drastisch verändern. 

Schlupflöcher im GEG-Entwurf aufgedeckt

Pressemitteilung vom 29.8.2023 (hier als pdf)

Wir meinen, dass in der Reform des Gebäudeenergiegesetzes (GEG)…

  • Wärmepumpen unbedingt Effizienzvorgaben brauchen,
  • sich die Definition von unvermeidbarer Abwärme im GEG nicht von der Definition im Wärmeplanungsgesetz unterscheiden darf,
  • die Standardlösung Hybridheizung das 65% EE Kriterium nicht erfüllt.

Aus Sicht des KiB erfordert die Wärmewende überzeugende Lösungen, die am Ende wirklich funktionieren, breite Akzeptanz genießen und uns auf dem Weg in Richtung Klimaschutz voranbringen. Die nachfolgenden Verbesserungsvorschläge können dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme und Mitglied im Expertenrat für Klimafragen führt aus: „Wir vermuten, dass die angenommene Treibhausgasminderung im Gebäudesektor geringer ausfallen dürfte als im Gutachten errechnet. Dafür ist vor allem die erwartbare, wesentlich geänderte Ausgestaltung des GEG verantwortlich.“  (aus Pressemitteilung vom 22.8.2023)

Laut der Gutachten des Expertenrat für Klimafragen bleibt für den Gebäudesektor eine kumulierte Lücke von 35 Millionen Tonnen CO2-Äq bis zum Jahr 2030.

Noch besteht die Chance zu wichtigen Korrekturen zur Verbesserung der Klimaschutzwirkung des GEG

Der KiB e.V. geht davon aus, dass insbesondere die für die erste Sitzungswoche nach der Sommerpause geplante Verabschiedung der Reform des Gebäudeenergiegesetzes aus Gründen einiger Widersprüche und nicht ausreichender Wirkung für den Klimaschutz bereits in kurzer Zeit wieder auf der Tagesordnung im Deutschen Bundestag stehen wird.

Die folgenden kleinen Korrekturen könnten die Klimaschutzwirkung aber bereits im aktuellen Entwurf noch deutlich verbessern.

Aus Sicht des KiB e.V. müssen dazu alle im Gesetz bislang ausformulierten Standard Erfüllungsoptionen (§71 c-h) die Vorgabe des Gesetzes 65% Erneuerbare Wärme nachweislich erreichen.

§71c: Monovalenter Betrieb von Wärmepumpen inkl. Heizstab.

Der 65%ige erneuerbare Wärmeanteil einer Wärmepumpe muss bei einer Anlage nach §71 c im aktuellen Entwurf weder rechnerisch noch messtechnisch nachgewiesen werden. Darüber hinaus gibt es keine Mindestanforderungen an die Effizienz der Wärmepumpen, wie z.B. die Jahresarbeitszahl der eingesetzten Wärmepumpe. Aus Sicht vieler Praktiker besteht damit die Gefahr, dass am Markt vor allem zu kleine, kostengünstige, wenig effiziente Systeme angeboten und/oder nachgefragt werden.

Die Ankündigung in der Bundesförderung Energieeffiziente Gebäude die förderfähigen Kosten einzuschränken, könnten diese Gefahr noch verstärken.

Der KiB e.V.fordert daher auch für den monovalenten Betrieb von Wärmepumpen einen rechnerischen Nachweis und Prüfung auf Effizienz (§60a) ab einer Wärmeleistung der Wärmepumpe von größer 8 kW im Gesetzesentwurf zu ergänzen.

§ 71 h zur Hybridheizung ersatzlos streichen

Insbesondere bei der Hybridheizung nach §71 h kann bei einer Heizleistung von 30% gemäß Teillastpunkt A nach DIN EN 14825 von der Wärmepumpe keine zu 65% erneuerbare Wärme bereitgestellt werden, da die Wärmepumpe zu klein dimensioniert ist. Dabei sind bei der Fest­legung auf den Teillast­punkt „A“ nach DIN EN 14825 weder die fehlende Heizleistung infolge von Abtau­zyklen, die fehlende Heizleistung unter anderen Temperaturbedingungen, noch die fehlende Wärmebereitstellung infolge hoher Warmwassertemperaturen durch die Hygiene­vorgaben (Legionellenschutz) berücksichtigt.

Der KiB e.V. fordert daher, den § 71 h ersatzlos zu streichen.

Mit der Streichung des § 71 h fällt die durchaus sinnvolle Lösungsoption der Hybridheizung mit Wärmepumpe unter den GEG §71 (1) und es muss ein rechnerischer Nachweis nach der DIN 18599 durch eine nach § 88 berechtigte Person vor Inbetriebnahme erbracht werden. Gebäude­eigentümer haben damit die Sicherheit, dass eine effiziente Anlage eingebaut wird. Er ist aber auch verpflichtet, die Heizungsanlage nach den Vorgaben des Nachweises einzubauen und zu betreiben.

Sollte §71h bestehen bleiben, so besteht die Gefahr, dass die Vorgabe 65% Erneuerbare Energie der GEG-Reform durch den kostengünstigen missbräuchlichen Einbau von Klimaanlagen (Splitgeräte) in einzelnen Räumen oder falsch konzipierte Wärmepumpen ohne jede Nachweis­pflicht eingehalten wird. Solche Lösungen können zwar zur Reduktion von Treibhaus­gas­emissionen beitragen, den geforderten Anteil von 65% Erneuerbare Energien aber bei weitem nicht erreichen.

Definition der „unvermeidbaren Abwärme“ nach GEG § 3 (1) 30a der Definition in § 3(1) 15 Wärmeplanungsgesetz gleichstellen.

Aktuell wird der Begriff der „unvermeidbaren Abwärme“ im Entwurf des GEG[1] anders begrifflich gefasst als im Wärmeplanungsgesetz[2]. Es gibt aus Sicht vieler Experten und auch des KiB e.V. keinen nachvollziehbaren Grund warum z.B. Nahwärmenetze (Gebäudenetze[3]), die unter den GEG-Reformentwurf fallen, anders behandelt werden als Wärmenetze im Wärmeplanungs­ge­setz (Fernwärmenetze). Insbesondere fällt damit eine aus Sicht des KiB e.V. vielversprechende Kombination aus Photovoltaik, Wärmepumpe und KWK zur Abdeckung der Residuallast in Gebäudenetzen weg, wohin gegen genau diese Lösung in der Wärmeplanung (Fernwärme) als attraktive Erfüllungsoption gilt.

Der KiB e.V. fordert daher die Definition „unvermeidbare Abwärme“ im GEG § 3 (1) 30a der im § 3(1) 15 Wärmeplanungsgesetz gleichzustellen.

Förderkriterien (Bundesförderung Energieeffiziente Gebäude) für die Heizungserneuerung wie auch die Sanierung der Gebäudehülle sollten zeitgleich oder zeitnah verabschiedet werden, um Planungssicherheit zu gewährleisten.

Nach der Novelle ist vor der Novelle – konstruktiver Ausblick

Treibhausgasemissionen als entscheidenden Bewertungsmaßstab im GEG etablieren

Bisher war in allen Berechnungsvorgaben zum Gebäudeenergiegesetz die Primärenergie der zentrale Bewertungsmaßstab. Nun kommt mit der Reform des GEG ein neuer Bewertungs­maßstab hinzu, die Erneuerbare Wärme, deren Grenze von 65% relativ willkürlich politisch vor­gegeben wird. Für die Erderhitzung ist jedoch vor allem der zusätzliche Strahlungsantrieb auf­grund menschengemachter Treibhausgasemissionen maßgebend. Effizienter Klimaschutz setzt dazu eine sektorübergreifende Betrachtung der Treibhausgasemissionen voraus.

Der KiB e.V. fordert daher die zukünftigen Lenkungsmechanismen anhand der Treibhausgasemissionen neu auszurichten und dahingehend die nächste Novelle des GEG vorzubereiten.

Unsere Frage: Wäre ein Auslaufpfad für fossile Brennstoffe nicht deutlich einfacher und vor allem klarer gewesen und hätte Maßnahmen an der Gebäudehülle einbezogen?

Im aktuellen Reformentwurf zum GEG heißt es § 72 (4) „Heizkessel dürfen längstens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2044 mit fossilen Brennstoffen betrieben werden.“

Wir schlagen vor, in einer zukünftigen GEG Reform einen Auslaufpfad für fossile Brennstoffe vorzugeben. Vorteil wäre, dass auch Maßnahmen an der Gebäudehülle automatisch mit in die Bewertung einfließen würden. Denn für den Klimaschutz ist es gleichwertig, ob Treibhaus­gasemissionen durch Einsparung oder den Ersatz fossiler Brennstoffe gemindert werden.

Klimaschutz im Bundestag e.V. [bis 21.5.2022 CO2 Abgabe e.V.]Alfred-Döblin-Platz 1 | 79100 Freiburg im BreisgauTelefon: +49 (0)761 45 89 32 77 | Fax: +49 (0)761 59 47 92E-Mail: joerg.lange@klimaschutz-im-bundestag.de |Web:  co2abgabe.de | klimaschutz-im-bundestag.de
Vertretungsberechtigter Vorstand: Craig Morris
Lobbyregister – Registernummer: R001260
Amtsgericht Freiburg, Registernummer: VR 70186

Der KiB e.V. versteht sich als Netzwerk zwischen Praktikern und Politik.

Viele der Praktiker vor Ort stehen derzeit vor der Frage, welche Lösungen (z.B. im Rahmen von energetischen Sanierungsfahrplan) sie ihren Kunden unter den derzeit sich stark ändernden Rahmen­bedingungen empfehlen sollen, um eine zukunftsfähige, kosteneffiziente Energiewende um­zu­setzen und die Klimaschutzziele zu erreichen.

Im Praxisnetzwerk des Klimaschutz im Bundestag (KiB) e.V. haben sich unter den mehr als 900 Mitgliedern, zahlreiche Praktiker aus Unternehmen, Verbänden, Kommunen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um u.a. die bundespolitischen Rahmenbedingungen so zu ändern, dass die Energiewende vor Ort unbürokratischer und systemdienlicher umgesetzt werden kann. Ein Teil der Innovationskraft des Praxisnetzwerkes KiB e.V. liegt auch darin, Gesetzesinitiativen zukünftig stärker aus einer parteiübergreifenden Arbeit im Bundestag mit Praktikern zusammen entwickeln zu wollen und sich nicht auf die Praxistauglichkeit von Referentenentwürfen aus den Ministerien allein zu verlassen.

Weitere Informationen zum Thema des KiB e.V. unter

Vorstellung des Forschungsvorhabens „Kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung“ (KSSE) am 24.8.2023 – Zwischenergebnisse einer Expertenbefragung von Praktikern zum Gebäudenergiegesetz, kommunaler Wärmeplanung, Residuallast und energetischen Sanierungsfahrplänen.


[1] Begriffsdefinition „unvermeidbare Abwärme“ nach Gesetzesentwurf GEG § 3 (1) 30a.: der Anteil der Wärme, der als Nebenprodukt in einer Industrie- oder Gewerbeanlage oder im tertiären Sektor aufgrund thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten anfällt, nicht durch Anwendung des Standes der Technik vermieden werden kann, in einem Produktionsprozess nicht nutzbar ist und ohne den Zugang zu einem Wärmenetz ungenutzt in Luft oder Wasser abgeleitet werden würde,“.

[2] Begriffsdefinition „unvermeidbare Abwärme“ nach Gesetzesentwurf WPG § 3(1) 15.: Wärme, die als unvermeidbares Nebenprodukt in einer Industrieanlage, Stromerzeugungsanlage oder im tertiären Sektor anfällt und ohne den Zugang zu einem Wärmenetz ungenutzt in die Luft oder in das Wasser abgeleitet werden würde; Abwärme gilt als unvermeidbar, soweit sie aus wirtschaftlichen, sicherheitstechnischen oder sonstigen Gründen im Produktionsprozess nicht nutzbar ist und nicht mit vertretbarem Aufwand verringert werden kann;

[3] Begriffsdefinition nach §3 9a: „Gebäudenetz ist ein Netz zur ausschließlichen Versorgung mit Wärme und Kälte von mindestens zwei und bis zu 16 Gebäuden und bis zu 100 Wohneinheiten,“

Woher kommt zukünftig der Strom für Wärmepumpen?

Vorstellung des Forschungsvorhabens „Kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung“ (KSSE) am 24.8.2023 – Zwischenergebnisse einer Expertenbefragung von Praktikern zum Gebäudenergiegesetz, kommunaler Wärmeplanung, Residuallast und energetischen Sanierungsfahrplänen.

Viele Praktiker vor Ort stehen derzeit vor der Frage, welche Lösungen (z.B. im Rahmen eines energetischen Sanierungsfahrplans oder einer Heizungssanierung) sie ihren Kunden unter den derzeit sich stark ändernden Rahmenbedingungen empfehlen sollen, um eine zukunftsfähige, kosteneffiziente Wärmewende umzusetzen und die Klimaschutzziele im Gebäudebereich zu erreichen. Einige Handwerksbetriebe gehen soweit, dass sie sich bereits vollständig von Gas- und Ölkesseln verabschiedet haben, wie z.B. die Fa. Henrich Schröder GmbH aus Gütersloh

Klar ist, dass bei der Wärmewende die Wärmepumpe aus Klimaschutzgründen eine zunehmend große Rolle spielen wird. Klar ist aber auch, dass Wärmepumpen derzeit verhältnismäßig teuer sind und zu einem zusätzlichen Strombedarf auch zu Zeiten führen werden, wenn wenig erneuerbarer Strom zur Verfügung steht.

Im Rahmen eines Forschungsvorhaben wollen wir unter anderem folgende Kernfragen bearbeiten:

  • Sollte sich die Wärmeplanung hin zu einer sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung entwickeln und was braucht es hierzu für gesetzliche Rahmenbedingungen?
  • Stecken in den in der Reform des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) formulierten Erfüllungsoptionen für den Heizungstausch auch 65% Erneuerbare drin und wie wirkt sich das auf die Treibhausgasemissionen aus (Stichwort Emissionsfaktoren)?
  • Welche Vor-/Nachteile hat eine eher dezentralere Abdeckung der Residuallast (Stromlast abzgl. der Erzeugung durch Erneuerbare, wie z.B. Biomasse, Wasserkraft, Wind, Sonne oder Speicherkraftwerke) und welche Synergien lassen sich im Rahmen einer Berücksichtigung bei kommunalen Akteuren heben?
  • Welche Vor-/Nachteile haben demgegenüber große zentrale Residualkraftwerke auf der „grünen Wiese“?
  • Welche politischen Rahmenbedingungen sind für dezentrale oder eher zentralere Lösungen notwendig?

Teil des Vorhabens ist mittels einer Expertenumfrage vor allem Praktiker zu Ihren Erfahrungen und Bewertungen rund um das Thema Wärmeerzeugung von Gebäuden und kommunaler Energieleitplanung. Wir wollen Ihre Einschätzungen zu den aktuellen Gesetzesvorhaben kennenlernen, um daraus ggf. Handlungsempfehlungen für die Praxis und Politik abzuleiten.

Zur Präsentation der Zwischenergebnisse der Expertenumfrage geht es hier.

Zur Videoaufzeichnung der Veranstaltung mit mehr als 300 Anmeldungen geht es hier.

Kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung

Viele Praktiker vor Ort stehen derzeit vor der Frage, welche Lösungen (z.B. im Rahmen eines energetischen Sanierungsfahrplans oder einer Heizungssanierung) sie ihren Kunden unter den derzeit sich stark ändernden Rahmenbedingungen empfehlen sollen, um eine zukunftsfähige, kosteneffiziente Wärmewende umzusetzen und die Klimaschutzziele im Gebäudebereich zu erreichen. Einige Handwerksbetriebe gehen soweit, dass sie sich bereits vollständig von Gas- und Ölkesseln verabschiedet haben, wie z.B. die Fa. Henrich Schröder GmbH aus Gütersloh.

Klar ist, dass bei der Wärmewende die Wärmepumpe aus Klimaschutzgründen eine zunehmend große Rolle spielen wird. Klar ist aber auch, dass Wärmepumpen derzeit verhältnismäßig teuer sind und zu einem zusätzlichen Strombedarf auch zu Zeiten führen werden, wenn wenig erneuerbarer Strom zur Verfügung steht. 

Im Rahmen des Forschungsvorhaben bearbeiten wir unter folgende Kernfragen:

  • Wie kann eine sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung aussehen?
  • Welche Vor-/Nachteile hat eine eher dezentralere Abdeckung der Residuallast (Stromlast abzgl. der Erzeugung durch Erneuerbare, wie z.B. Biomasse, Wasserkraft, Wind, Sonne oder Speicherkraftwerke) und welche Synergien lassen sich im Rahmen einer Berücksichtigung bei kommunalen Akteuren heben?
  • Welche Vor-/Nachteile haben demgegenüber große zentrale Residualkraftwerke auf der „grünen Wiese“?
  • Welche politischen Rahmenbedingungen sind für dezentrale oder eher zentralere Lösungen notwendig?

Teil des Vorhabens ist mittels einer Expertenumfrage vor allem Praktiker zu ihren Erfahrungen und Bewertungen rund um das Thema Wärmeerzeugung von Gebäuden und kommunaler Energieleitplanung. Wir wollen ihre Einschätzungen kennenlernen, um daraus ggf. Handlungsempfehlungen für die Praxis und Politik abzuleiten.

Weitere Infos zum Forschungsvorhaben hier


Am 24.8. 18:30 Uhr stellen wir das Forschungsvorhaben „Kommunale sektor- und spartenübergreifende Energieleitplanung“ (KSSE) online vor – incl. Zwischenergebnisse zu der Expertenbefragung.

Zur Anmeldung geht es hier!


Das Forschungsvorhaben wird wird gefördert mit Mitteln der Deutschen Bundeststiftung Umwelt.

Arbeit und Transformation, Teil 1: Zahlen, Zahlen, Zahlen – Wie groß ist der Fachkräftemangel wirklich? 

Dieser Beitrag ist der erste aus der Reihe „Arbeit und Transformation“ und soll eine erste Übersicht geben, wie groß der Fachkräftemangel aktuell ist und sich in Zukunft entwickelt. 

Zurzeit gibt es in Deutschland 46 Millionen Erwerbstätige (destatis a, 2023). Die Arbeitslosigkeit liegt im Juni 2023 bei 2,55 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 5,5 % entspricht. Bei niedriger Zuwanderung wird die Gruppe der Menschen im Erwerbsalter (20 bis 66 Jahre) bis Mitte der 2030er Jahre um 4,8 Millionen Menschen abnehmen (destatis b, 2023). Das entspricht einem Rückgang von rund 10 %. Es braucht also schon enorme Anstrengungen, allein um die Beschäftigungszahlen zu stabilisieren – ohne entsprechende Maßnahmen würden die Zahlen sogar zurückgehen. 

Der Rückgang der Beschäftigungszahlen in klimarelevanten Berufsgruppen ist teils überdurchschnittlich hoch. Bis 2040 könnte die Zahl der Beschäftigten in den Mechatronik-, Energie- und Elektroberufen um 14 % zurückgehen. Bei den Bauberufen wird sogar ein Rückgang von 19 % prognostiziert (Blazejczak/Edler, 2021). Die Entwicklung unterscheidet sich dabei stark nach Qualifikationsniveau: Während die Zahl der Erwerbspersonen mit beruflichem Abschluss bis 2040 um rund 2,4 Millionen zurückgeht, wird die Zahl der Erwerbspersonen mit Hochschulabschluss um 2,2 Millionen zunehmen (ebenda). 

Schon heute sind viele klimarelevante Berufsgruppen von einem Engpass betroffen. Die Agentur für Arbeit definiert einen Engpassberuf anhand von 6 statistischen Indikatoren (Agentur für Arbeit, 2023). Dazu gehört unter anderem die Frage, wie viele passend qualifizierte Arbeitslose für 100 offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind. Ist die Zahl kleiner als 100, ist das ein Indiz für einen Engpassberuf. Bei Elektriker*innen lag der Wert 2021 bei 26 (KOFA, 2021). Aktuell fehlen in den Berufen der Solar- und Windindustrie 216.000 Fachkräfte – ungeachtet der Bedarfe für Helfer*innen (IW Köln, 2022). In der Arbeitsmarktforschung wird zwischen verschiedenen Anforderungsniveaus differenziert (siehe Tabelle 1, ISCO 2007).  

 AnforderungsniveauBezeichnung Ausbildung 
1Helfer*in Keine formale Ausbildung 
2Fachkraft Mind. 2-jährige Berufsausbildung 
3Spezialist*in Berufliche Fortbildung (Meister*in, Techniker*in) oder Bachelor 
4Expert*in Master bzw. Diplom 

Die Situation ist heute also schon sehr angespannt, und sie wird sich vor dem Hintergrund der fortschreitenden Vergreisung unserer Gesellschaft und des Transformationsbedarfs hinsichtlich der Klimaziele weiter verschärfen. Allein in der Solarindustrie etwa fehlen bis zum Jahr 2035 über 200.000 Arbeitskräfte (Quaschning, 2021) (vgl. Abbildung 1, Quelle ebenda). 

Nicht für jeden Fachbereich gibt es eine dezidierte Untersuchung, wie viele Fachkräfte in Zukunft fehlen werden. Für den Bereich der transparenten Gebäudehülle, sprich der Fensterbauer*innen und Glaser*innen, wurden die Zahlen jedoch ermittelt: Dort müssten jedes Jahr 2.000 zusätzliche Beschäftigte eingestellt werden, um die notwendige Zahl an Fenstern für die energetische Sanierung zu installieren (Bundesverband Transparente Gebäudehülle, 2022).  

Eine neue Studie im Auftrag des BMWK kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Klimaneutralität im Gebäudesektor insgesamt 215.000 zusätzliche Arbeitskräfte für energetische Sanierungen braucht. Hinzu kommen weitere 67.000 für den Neubau von energiesparsamen Gebäuden. Mit diesem erweiterten Fachkräfteangebot wäre eine Sanierungsrate von 2 % realisierbar (Thamling et al., 2023). Auch wenn diese Zahlen sehr ambitioniert erscheinen, sind sie in der deutschen Geschichte nicht beispiellos: Im Jahr 1995 wurden in Ostdeutschland Sanierungsraten von 4 % erreicht (DIW, 2023). Aktuell liegt sie bei etwa einem Prozent (ZDF, 2022).

In einer weiteren umfassenden Studie wurden alle relevanten Berufsgruppen betrachtet, die zur Herstellung der Produkte und Dienstleistungen für Klimaneutralität 2050 benötigt werden. Die Autoren prognostizieren einen Arbeitskräftebedarf von knapp 770.000 im Jahr 2035 (Blazejczak/Edler, 2021). Da sich diese Studie am meisten zutraut (im Sinne der berufsübergreifenden Betrachtung) gehen wir an dieser Stelle kurz auf die Methodik ein: 

Zunächst haben die Autoren die notwendigen Investitionsvolumina berechnet und um die Importquote bereinigt. Importe spielen zwar eine wichtige Rolle für die Transformation, sie haben jedoch keine Effekte auf die heimische Beschäftigungsquote. Die Investitionen werden nach Sektoren aufgeschlüsselt und mit der Methode der offenen Input-Output-Rechnung auf die Berufsgruppen umgelegt (Miller et al., 2009). Dabei werden die unterschiedlichen Arbeitsproduktivitäten beachtet, und es werden Produktivitätssteigerungen zugrunde gelegt, die im Mittel 1% pro Jahr betragen. Weiterhin werden direkte und indirekte Effekte unterschieden. Während der Industriearbeiter, der Wärmepumpen herstellt, einen direkten Effekt darstellt, sind zusätzliche Personen, die im Rechnungswesen dieser Firma arbeiten, Teil des indirekten Effekts. 

Abbildung 2 (eigene Darstellung, Daten aus Blazejczak/Edler, 2021

Der Blick über den Tellerrand hinaus zeigt, dass der Fachkräftemangel nicht nur ein Problem im Bereich der Energiewende ist, sondern auch viele Bereiche der übrigen Daseinsvorsorge betrifft.  
Besonders im Pflege- und Gesundheitsbereich ist die Situation angespannt. Eine Untersuchung des IW Köln kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2035 bis zu 150.000 Pflegestellen in Deutschland nicht besetzt werden können (IW Köln, 2018). Eine neuere Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass es bis 2035 1,8 Millionen Stellen im gesamten Gesundheitswesen sind (PwC, 2022). 

 
Auch in der Landwirtschaft sind die Aussichten alles andere als rosig. Allein in Brandenburg müssen bis 2030 20.000 Fachkräfte ersetzt werden. Die Auszubildenden können diese Lücke nur zu 25 % schließen. Sprich, im Jahr 2030 klafft eine Fachkräftelücke von 15.000 (Hampel et al., 2018). Übertragen auf ganz Deutschland entspricht das einem Arbeitskräftemangel von 500.000. Dies ist eine sehr grobe Abschätzung, weil in anderen Bundesländern der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtwertschöpfung variiert. 
Auch bei den Erzieher*innen fehlen bereits heute über 100.000 Beschäftigte. 2030 könnte das Defizit auf 230.000 anwachsen (Bock-Famulla et al., 2021).  

In den nächsten Artikeln der Reihe „Arbeit und Transformation“ wird es unter anderem um die Frage nach Migration, der Rolle von generativer künstlicher Intelligenz, die (fehlende) Attraktivität der Handwerksberufe und neuen Methoden zur Abschätzung der regionalen Arbeitskräftebedarfe gehen.